Dr. Phil. Monika Eichenauer

Marx und Nietzsche mischen sich ein - Die heillose Kultur - Band 1.1


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Um den Schuldgedanken zu retten und die Strafjustiz vor den modernen rationalen Strafzwecken der Resozialisierung und Prävention zu bewahren, wird das, was, krankhaft’ im Sinne des (bis 30.9.1973 geltenden) § 51 des Strafgesetzbuches ist, von den Juristen definiert und diktiert, und zwar nach dem sogenannten normativen Schuldrecht. Ähnliches wird bei den neuen Begriffen des ab 1973 geltenden Rechts (‚krankhafte seelische Störung’,, ’tiefgreifende Bewußtseinsstörung’,, schwere seelische Abartigkeit’) bevorstehen oder doch versucht werden.“ (Schmid, 1971, S. 1216 Block M.E.)

      Damit existieren juristisch zwei Möglichkeiten, den Täter und zugleich Menschen, der sich zu verantworten hat, zu sehen: a) entweder als krank – so wie Juristen Krankheit definieren und diese Definition von Krankheit eigentlich nicht existiert, oder b) „sie machen sich schlicht die herkömmliche, laienhafte außerwissenschaftliche Unterscheidung zwischen krank und böse zu eigen, ein purer Akt des Glaubens oder des Gefühls. Neuerdings wird auch gern die, unantastbare Menschenwürde’ des Grundgesetzes bemüht, um die Annahme einer Determiniertheit des Menschen durch Anlage und Umwelt und damit vor allem, die Verantwortung der Gesellschaft für die kriminelle Entwicklung auszuschließen.“ (Schmid, 1971, S. 1216)

      Im Klartext hieße das: im Gerichtssaal ist es die unantastbare Menschenwürde, die Straffähigkeit begründet und außerhalb des Gerichtssaals darf diese unantastbare Menschenwürde durch ökonomische Prinzipien torpediert werden und zwar so, dass Menschen letztendlich daran erkranken oder sterben. Weiter wird die unantastbare Menschenwürde zur Grundlage ausschließlicher Verantwortlichkeit des Einzelnen, dessen reale Lebenshintergründe und -entwicklungen nicht mit einbezogen werden. Und dies nur aus dem Grunde, weil man sich nicht berufen fühlt, Moral, Ethik, Recht und Schutz für Menschen und weiter gefasst, für menschliche Wesens, als generelles Thema in der Gegenwart der Entwicklung und Etablierung der Zweiklassengesellschaft zu reflektieren? Definitiv wurden bisher die Psychopathen aus dem Kreis der Kranken, die mit Schuldentlastung, Präventivmaßnahmen etc. rechnen können, ausgeschlossen. Sie sind als schuldfähig anzusehen und damit Strafjustiz und Strafvollzug als voll zurechnungsfähig zu überantworten. Psychopathie wird streng von Psychose getrennt, „wobei auch körperliche Normabweichungen nicht als, Krankheit’, sondern als Variationen zu gelten haben.“ (Schmid, 1971, S. 1217)

      Insofern liegt auf der Hand, das Tilman Moser sich der Ausschaltung und Verpönung der Psychoanalyse im Gerichtsbetrieb widmete: „Die Psychoanalyse ist ihrem Wesen nach Gegnerin des geschilderten Pakts zwischen Justiz und Psychiatrie, weil sie gerade den Ursachen der kriminellen Entwicklung des Täters, und dies gar bis ins Unterbewußtsein, nachzuforschen sucht, was die orthodoxe Richtung absichtlich ausklammert. Nur die Ursachenforschung entspricht ja auch der ärztlichen, auf Heilung gerichteten Haltung.“ (Schmid 1971, S. 1217-1218)

      Der zitierte Artikel stammt aus den siebziger Jahren und hat in der Gegenwart seine Bedeutung nicht verloren. Denn Justiz bzw. Richter und deren Bewusstsein ist auch heute noch maßgeblich durch dieses Denken geprägt. Da hilft es auch nichts, wie im nächsten Kapitel nachzulesen sein wird, „Psychopathie“ vom Richter durch „Intelligenz“ zu ersetzen, wie die gerade von Schmid zitierten Zeilen nahe legen. Es wird diesbezüglich eine platte Allianz in einer rechtlich definierten Assoziationskette von „Böse“, „Psychopathie“ und „Intelligenz“ gestiftet, der jeder Mensch, der sich vor Gericht zu verantworten hat, in nuce immer noch ausgeliefert sieht.

      Gesellschaftliche Entwicklungen, Zusammenhänge oder gar differenzierte und aufzeigbare psychische Muster (z.B. perverses Verhalten), wie Menschen aus welchen Gründen handeln und geworden sind (s. auch Hirigoyen zu diesem Thema), bleiben vor den Gerichtssälen und sind nur außerhalb von ihnen, im Leben und auf der Straße, zu finden. Die heillose Kultur und mit ihr Verzweiflung und Zweifel der Menschen, an und in ihr klar zu kommen, bleibt unreflektiert. Nebenbei bemerkt wird die stoische Haltung der Justiz durch die Kritik an der Psychoanalyse von anderen Seiten, ob durch philosophische Sichtweisen oder Entwicklungen innerhalb der Psychologischen Psychotherapie und der Bevorzugung der Verhaltentherapie durch Mediziner und Ärzte noch unterstützt. Sicher, jeder kann seine Meinung haben, aber sie sollte mindestens hinsichtlich der Tragweite in Augenschein genommen werden: Letztendlich bedeutet Ausmerzung psychoanalytischen Denkens, Abschaffung der Seele; und die ausschließliche Sichtweise auf Menschen als auf Strich-Codes, Nummern oder Symptomträger reduzierte, ökonomisch nutzbare Wesen, die, wenn sie arbeiten, auch noch Steuern zahlen, also doppelt nützlich sind, nämlich einerseits für den privaten Unternehmer und andererseits für den Staat, zahlt sich gesellschaftlich im lukrativen Erhalt einer juristischen Lücke, die den bestehenden Besitzstand garantiert, aus. Sie, die Besitzlosen, dürfen dann möglichst widerspruchslos in der Gesellschaft geschichts- und seelenlos vor sich hin zu trotten.{4}

      Im Alltag hat ein Wissen bereits Einzug gehalten, das sich auf technisches Verständnis, hinter dem ökonomische Systeme zur Freisetzung von Gewinnen stecken, bezieht, und nur demjenigen zugängig ist, der die Logik der Ökonomie versteht und weniger, der Logik der Technik mächtig ist. Vordergründig erscheint dieses Wissen allerdings als Logik, die sich aus Technik ergibt: allerdings nur für denjenigen, der an die Richtigkeit der Zerstückelung von technischen Einheiten als Ergebnis der Zwangsläufigkeit von Technik glaubt und die lüsterne Gewinnsucht, die Zerstückelung zum Prinzip für Profitmöglichkeit ökonomisch umsetzt, außerhalb der Betrachtung lässt. So ergeht es Menschen dann auch: nur das, was direkt zur Sache gehört (Tatort, Tathergang zum Beispiel) interessiert. Alles andere, die Entwicklung von Mensch, Persönlichkeit, soziales Milieu, individuelle, kulturelle, sozioökonomische Einflüsse und psychoökonomische Geschichte und Globalisierung, zählen nicht.

      Auf eine diesbezügliche Anfrage bei einem Rechtsanwalt teilt dieser mir mit: „Diese Dinge gehören auch, zur Sache’ und sind insbesondere für das Strafmaß von Bedeutung.“ Wo, und genauer, wie „diese Dinge“ berücksichtigt werden, entzieht sich meiner Kenntnis. In den aufgegriffenen Fällen ist eine Berücksichtigung dieser „Dinge“ nicht ersichtlich: Sonst wäre es überflüssig, sie aufzugreifen.

      Damit ist Schuldfähigkeit im Ergebnis feststellbar – dann ist es Schuld jedes einzelnen Menschen, gestorben zu sein, weil er zu wenig Geld hatte, weil er wirtschaftlich abhängig war oder ist. Dann ist der Tod der Armen deren eigene Schuld – weil, wenn sie Geld gehabt hätten, hätten sie sich ja retten können und wären nicht ertrunken wie in Rio de Janeiro im April 2010. Sie hätten sich ja Geld beschaffen können??? Diese Menschen können ja auch am Wettbewerb teilnehmen? Definiert Globalisierung das Prinzip des Wettbewerbs in unserer Kultur hinsichtlich der Inhalte neu: Du bist ganz allein an allem Schuld? Sieh’ zu, dass du es schaffst am Leben zu bleiben?

      Und wenn das körperliche Leben gerettet wird, wie leben Menschen dann? Mit Schuldgefühlen, weil sie leben? Oder mit Schuldgefühlen, weil sie ihre Schulden nicht an Mikro-Kredit-Geber zurückzahlen können, die bis zu 80 % Zinsen für verliehenes Geld verlangen und diese Micro-Kreditnehmer sich dann lieber umbringen, weil sie keinen Ausweg aus ihrer Lage wissen?

      Und wenn das Leben gerettet wird, wie leben Menschen dann....?

      Diesen Satz könnte ich jetzt unendliche Male wiederholen....

      Dann würde er zu einem Koan, dessen Sinn zu finden wäre, wie Joachim-Ernst Berendt in seinem Hörwerk Nada Brahma – Die Welt ist Klang (1988) sagt:

      „Wenn Ton und Sinn gehen – was hörst du dann?“

      Und wenn das Leben gerettet wird, wie lebst du dann?

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