Angelika Nickel

Namenlos oder Kreuz As... und die Morde enden nie


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      Noch bevor Lotte und Pete den Tatort erreichten, öffnete der Himmel seine Schleusen und es goss in Strömen.

      Der Tatort lag an einer Böschung. Das Unwetter hatte aus dem seicht dahinfließenden Fluss beinahe einen reißenden Strom gemacht. Blitze schlugen in der Ferne ein, Donnerschläge knallten wie Peitschenhiebe durch die Nacht, als Lotte aus ihrem Beetle stieg und direkt mit beiden Füßen in einer tiefen Pfütze versank.

      »Igitt, pfui Teufel!«

      »Was schimpfst du denn so, Lotte?« Pete sah nicht, dass Lotte bis zu den Knöcheln im Morast steckte.

      Sie tastete sich zum Kofferraum ihres Wagens und tauschte ihre Schuhe erneut. Dann musste sie eben mit Stöckelschuhen zum Tatort stapfen. Immer noch besser, als klatschnasse, versumpfte Turnschuhe.

      »Was ist das nun schon wieder?« Lotte sah nach unten, konnte aber in dem strömenden Regen wenig sehen. »Der Boden ist voll mit Löchern. Wo hat man uns nur hinbestellt?«

      Petes Blick folgte Lottes Schritten. Er schüttelte den Kopf. »Das sind keine Bodenlöcher, Lotte. Du hast einen Absatz verloren. Wie kann man auch nur bei so einem Wetter Turnschuhe gegen...«

      »Sei jetzt bloß still, Pete!« Lotte zog den rechten Schuh aus, nachdem sie gesehen hatte, dass Pete Recht und sie einen Absatz verloren hatte. Stöckelschuhe, verdammte Mistdinger, nicht genug, dass ihre Füße darin wehtaten, als wäre sie für Camel Zigarettenwerbung gelaufen, nein, dann taugten die Dinger noch nicht einmal `was; davon, dass sie nichts aushielten, ganz zu schweigen.

      »Hey, ihr Zwei, verwischt mir bloß die Spuren nicht!«, brüllte Jesse gegen die Donnerschläge an.

      »Was ruft der Kerl?« Pete verstand kein einziges Wort.

      »Dass wir keine Spuren verwischen sollen.« schrie Lotte gegen das Donnergrollen an, während ein neuerlicher Blitz die Nacht durchzog.

      »Blödmann, was sollen wir hier noch für Spuren verwischen können, bei all dem Regen ist eh alles weggespült.« Pete sah zu Jesse Dump, der neben der Leihe dicht an der Böschung kniete. Mit einem verwunderten Augenaufschlag blickte Pete zu Lotte. »Ist ein richtiger Scherzkeks heute, unser Jesse.«

      Lotte grinste. »Lass es gut sein, Pete. Du weißt doch, wie er´s gemeint hat.«

      »Pah, der soll sich vielleicht mal seine Brillengläser wischen, damit er besser sieht.« murrte Pete, der Jesse schon einige Jahre kannte, und eigentlich auch gut leiden mochte.

      Jesse Dump, seit etlichen Jahren bei der hiesigen Gerichtsmedizin, kämpfte gegen den Regen an. Er versuchte die Leiche umzudrehen, auf Spuren zu untersuchen, obwohl er wusste, dass, wenn es Spuren gegeben hatte, allesamt vom Regen davongespült worden waren. »Scheißwetter!« Seine Hände hielten die Arme der Leiche umspannt. Mit aller Gewalt versuchte er, den klitschnassen Körper zu drehen. Als er es fast geschafft hatte, kam er ins Rutschen, so dass er kurzzeitig die Leiche losließ. In dem Moment, als Jesse wieder richtigen Halt unter den Füßen gefunden hatte, er erneut nach der Leiche griff, kam diese ins Rutschen. »Nein!«, schrie er, und krallte sich mit beiden Händen an ihr fest. Das Erdreich unter dem Opfer gab nach. Die Leiche glitt die Böschung hinab und zog Jesse Dump mit sich in den Fluss, der immer mehr einem reißenden Strom gleichkam.

      Lotte und Pete blieben auf der Stelle stehen. Pete schlug sich an den Kopf. »Lotte, sag mir, dass nicht passiert, was ich glaube zu sehen...«

      »Oh doch, Pete, glaub es nur. Dump und die Leiche haben sich soeben auf und davon gemacht.«

      »Was geht da vor sich? Wohin will Dump denn mit der Leiche? Oder ist die gar nicht tot?«

      Roger Red, der Polizeifotograf, traute seinen Augen nicht.

      »Red, halt jetzt bloß die Klappe.« Pete zog sich das nasse Hemd über den Kopf.

      »Los, Roger, geh und fordere Hilfe an. Wir brauchen ein Boot oder so `n Ding. Irgendeiner muss die beiden ja aus dem Wasser holen.«

      Lotte zog nervös an ihrem Rock.

      Red blickte zu dem im Wasser treibenden Dump.

      »Will mich endlich mal einer rausholen!«, schrie Jesse.

      »Du bist dran.« forderte Lotte Pete auf.

      »Ach nee, Lotte, warum ausgerechnet ich?«

      »Weil ich fast so etwas wie dein Chef bin.«, versuchte es Lotte mit einem Witz.

      »Wärst´e gerne, bist´e aber nicht.« Pete zog seine Schuhe aus und ließ sich den Abhang hinuntergleiten.

      Jesse Dump schwamm gegen die Strömung an, versuchte den dicken Ast, den Pete ihm hin hob, zu erreichen. Es dauerte eine Zeit lang bis Dump den Ast endlich greifen konnte, um ans Ufer zurückzugelangen.

      Lotte, die unterdessen auch den Abhang heruntergerutscht war, half Pete Jesse aus dem Wasser zu ziehen.

      »Die Leiche...«, Jesses Hand zeigte von ihm fort, »dort hinten treibt sie.«

      »Was du nicht sagst.« knirschte Pete.

      »Ja, echt gut gemacht, Jesse. Kannst du mir verraten, was wir nun dem Alten sagen?« Lotte hatte es beinahe die Sprache verschlagen.

      »Dass wir die Leiche verloren haben?« Jesse war aschfahl. Er wusste jetzt schon, dass Miraldi ausrasten würde, würde er von seinem Missgeschick erfahren.

      »Wir sollten versuchen, sie uns wiederzuholen.« Petes Augen folgten dem leblos davontreibenden Körper, der nur noch schwach zu erkennen war.

      »Wenn wir Glück haben, verheddert sie sich vielleicht irgendwo im Geäst...« Jesse blickte unglücklich drein.

      »Wenn wir Glück hätten, dann hätten sie uns nicht ausgerechnet dich geschickt.« Lotte hatte keine Ahnung, wie sie das ihrem Vorgesetzten erklären, und was sie in ihren Bericht schreiben sollte. Sie konnte doch unmöglich mit der Wahrheit kommen. Wie hörte sich das denn an:

       Haben Leiche durch schweres Unwetter in den Fluten eines Flusses verloren.

      Unmöglich, die Wahrheit konnte sie auf gar keinen Fall schreiben.

      Sie sah von Pete zu Jesse, und hoch zu Roger Red, der immer noch bestrebt war, zumindest ein Bild von der dahintreibenden Leiche zu machen.

      »Von dem, was hier passiert ist, kein Wort! Das bringt nur Ärger. Wir sind hergekommen und da trieb die Leiche bereits im Wasser. Nur so geht’s.« Lottes Ton war bestimmend, duldete keinen Widerspruch. »So wie´s hell wird, müssen sofort Taucher ans Werk.«

      »Und du glaubst, dass es gut geht, dass der Alte das schluckt?«

      »Kommt auf einen Versuch an. Was soll ich sonst machen? Hast du einen bessere Idee, Pete? Oder du, Jesse?«

      Jesse schluckte. »Wie wär´s denn mit Widrigkeiten eines Tatorts. Der Regen, der rutschige Abhang, der Fluss...«

      »Ja, und `nen Gerichtsmediziner, der zu blöd ist, eine Leiche festzuhalten.« Roger Reds Blitzlicht erhellte die Nacht. Das Bild von Jesses verdutztem Gesichtsausdruck war im Kasten. Ganz hinten, hätte mit einer Lupe, die im Wasser treibende Leiche später auf dem Foto erkannt werden können.

      »Weißt du wenigstens, wie die Leiche augesehen hat, Jesse?« Lotte hangelte sich wieder den Abhang hoch.

      »Ich glaube, mir ist da etwas aufgefallen.« antwortete Jesse kleinlaut, und folgte Lotte den Abhang hinauf.

      »Hört, hört, ihm ist etwas aufgefallen.« Auch Pete gab auf und folgte den anderen. Ihm reichte es für heute allgewaltig. Er wollte nur noch eins: Nach Hause, raus aus den nassen Klamotten, eine heiße Dusche nehmen, und über den ganzen Mist gar nicht mehr nachdenken.

      Eine Leiche verlieren, das durfte man ja keinem erzählen... Der Verlust eines Leichnams, ein absolutes Unding, so etwas durfte nicht passieren!

      Und doch war es passiert. Jesse Dump hatte dafür gesorgt, dass ihre Leiche nun davon trieb, und sie ohne etwas wieder abziehen mussten.