Edgar Wallace

Die Bande des Schreckens


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Dame – Miß Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen.«

      Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schöngeschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miß Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewusstsein, daß der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.

      »... ich bin ja nicht der Ansicht, daß es Ihnen gelingt, den Mann zu fassen. Dazu ist wahrscheinlich niemand imstande. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahrscheinlich der Führer einer sehr gerissenen Bande –«

      »Ich wünschte von Herzen, es wäre so«, entgegnete Long lächelnd. »Aber den Gedanken können Sie aufgeben, Mr. Monkford. Unter Verbrechern und Dieben gibt es keine Ehrlichkeit, höchstens unter den ganz Großen. Dieser Shelton arbeitet ganz auf eigene Faust, und darin besteht seine größte Stärke.«

      Der Bankdirektor nahm eine dicke Mappe aus seinem Schreibtisch und legte sie auf die Platte.

      »Hier finden Sie alle Tatsachen, nicht nur von der City & Southern Bank, sondern auch von allen anderen Banken, die von Shelton betrogen wurden. Alle Originalunterschriften sind in Photographie vorhanden. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.«

      Long brachte eine halbe Stunde damit zu, den Inhalt der Mappe zu prüfen, aber am Ende war er auch nicht klüger als vorher.

      Als er wieder auf die Straße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht entschlossen wäre, nach welcher Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke dieser Straße und der Lombard Street sah er einen schlanken, älteren Herrn stehen, der offenbar den lebhaften Verkehr beobachtete. Er schaute ihn an, als er an ihm vorüberging, und die Blicke der beiden trafen sich. Die argwöhnisch forschenden Augen des Fremden verrieten Long sofort, daß der Mann den Detektiv in ihm erkannt hatte.

      Ein eigentümliches Gefühl überkam den Wetter, ohne daß er sich über die Ursache klar werden konnte. Er überquerte die Straße, ging auf einen Zeitungsjungen zu und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Fremde stand immer noch an seinem Platz. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Oberst in Zivil aus. Absichtlich gab der Wetter dem Zeitungsjungen einen Schilling, um den Mann noch während des Wechselns beobachten zu können. Es mußte irgendein Schwindler aus der City sein, einer der vielen, die hier ihre dunklen Geschäfte trieben. Der mißtrauische Blick hatte Long genug verraten. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, umzukehren und den Fremden unter irgendeinem Vorwand anzusprechen. Aber er gehörte zu Scotland Yard und befand sich in der City. Und die City hatte ihre eigenen Detektive, die eifersüchtig darüber wachten, daß nicht andere Beamte in ihre Rechte eingriffen.

      Während er sich noch überlegte, was er tun sollte, rief der Mann ein Auto an, das die Straße herunterkam, und fuhr davon. Kaum war er außer Sicht, als der Wetter einem plötzlichen Impuls folgte und sich ebenfalls einen Wagen nahm.

      »Fahren Sie die Lombard Street entlang«, sagte er schnell, »und sehen Sie zu, daß Sie den gelben Wagen einholen.«

      Bald darauf sah er das Auto wieder. Er hielt die Zeitung schützend vor das Gesicht und beobachtete über den Rand des Blattes hinweg, daß der Fremde durch das hintere Fenster nach rückwärts schaute.

      Als Colonel Macfarlane an diesem Abend das Büro verlassen wollte, hielt ihn Inspektor Long freudestrahlend an.

      »Sie können mir gratulieren – ich habe Shelton ausfindig gemacht!«

      »Das ist doch nicht möglich!«

      »Wetten, daß?« entgegnete Mr. Long prompt.

      3

      Eine Woche später lenkte Shelton seinen Wagen dicht vor Colchester auf einen Seitenweg und brachte ihn zum Stehen. Aus einer Schublade unter dem Sitz nahm er einen Koffer heraus, der einen Anzug, Schere, Rasiermesser und Creme enthielt, und kurze Zeit darauf hatte er sich vollkommen verwandelt. Er sah jetzt aus wie ein ehrbarer älterer Herr. Nachdem er einen Blick nach rechts und links geworfen hatte, ging er zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn und fuhr von dort zum Zentrum der Stadt.

      Es schlug zehn Uhr, als er den großen Kassenraum der Eastern Counties Bank betrat. Er legte ein Bankbuch und ein ausgefülltes Formular auf den Schaltertisch. Der Beamte prüfte beides sorgfältig und ging dann damit in das Büro des Direktors. Als er zurückkam, lächelte er respektvoll, als ob er sich für seine schlimmen Befürchtungen entschuldigen müßte.

      »Siebentausendsechshundert«, sagte er liebenswürdig. »Wie wollen Sie das Geld haben, Colonel Weatherby?«

      »In Hundertpfundnoten.«

      Gleich darauf zählte der Kassierer ein Paket Banknoten mit außerordentlicher Geschwindigkeit ab und notierte dann die Nummern der Scheine in sein Buch...

      »Danke schön.« Shelton wandte sich ab und steckte das Päckchen in seine Brusttasche.

      Außer ihm befanden sich noch zwei andere Herren im Kassenraum, und ein dritter kam gerade durch die Drehtür herein. Der eine sah etwas müde aus und lehnte sich an den Schalter. Shelton würdigte ihn keines Blickes, wohl aber schaute er sich den anderen genau an, der vor dem Ausgang stand und ihn anlächelte.

      »Guten Morgen, Shelton.«

      Der Wetter Long! Höchste Gefahr! Shelton blieb stehen und schob trotzig das Kinn vor.

      »Wollen Sie mit mir sprechen? Ich heiße allerdings nicht Shelton.«

      Arnold Long nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar.

      »Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen.«

      Im nächsten Augenblick sprang Shelton auf ihn zu.

      Eine Sekunde später wälzten sich drei Männer auf dem Boden. Shelton gelang es, wieder auf die Füße zu kommen. Der Polizist war eifrig bei dem Handgemenge, stand aber dem Wetter immer im Wege. Plötzlich mischte sich auch noch der müde Herr ein, der vorher am Schalter gelehnt hatte.

      »Hier! Verdammt...«

      Ein betäubender Knall ertönte, und der Polizist stürzte blutend auf die Marmorfliesen nieder.

      »Geben Sie die Pistole her, oder ich schieße sofort!«

      Shelton wandte den Kopf. Der Bankbeamte mit der Brille hatte mit einem schweren Armeerevolver auf ihn angelegt. Der Mann hatte den Krieg auch mitgemacht, in dem selbst Bankbeamte mit Brillen lernten, kaltblütig andere Menschen über den Haufen zu schießen.

      Long legte Shelton Handschellen an. Zwei Polizisten in Uniform kamen in den Schalterraum, während der Bankbeamte bereits an das Hospital telefonierte.

      »Ich verhafte Sie wegen Betrugs«, sagte Arnold und schaute dann ernst auf den Toten, der in einer großen Blutlache lag. »Ich dachte, Sie trügen niemals eine Pistole bei sich?«

      Shelton erwiderte nichts, und der Wetter wandte sich an den fremden Herrn, der sich am Handgemenge beteiligt hatte.

      »Ich danke Ihnen ... ich bin Ihnen wirklich sehr verpflichtet.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Ach, Sie sind ja Mr. Crayley.«

      Der Mann sah totenbleich aus.

      »Beinahe hätte er mich selbst getroffen«, sagte er heiser. »Nun, ich habe mein Bestes getan. Sagen Sie es nur, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann. Ist er tot?«

      »Ja.« Der Wetter starrte düster auf den Polizisten. »Ich wünschte, das hätten Sie