die Täter fassen können.«
Um fünf Uhr abends kam er nach Scotland Yard und berichtete Colonel Macfarlane, der ihm mit düsterem Gesichtsausdruck zuhörte.
»Die ganze Sache ist einfach unerklärlich, ich möchte fast sagen, unmöglich. Shelton ist doch um acht Uhr gehängt worden, und es besteht nicht der geringste Zweifel, daß er tot ist. Hatten Sie denn nicht die Möglichkeit, den Motorfahrer oder das Auto zu verfolgen?«
»Nein. Lassen Sie mir ein bis zwei Wochen Zeit. Wir haben es hier mit der Bande des Schreckens zu tun!«
Macfarlane runzelte die Stirne.
»Ich verstehe Sie nicht ganz. Shelton arbeitete doch vollkommen auf eigene Faust. Er hatte keine Bande, die ihm half, und auch keine Freunde. Soweit wir es beurteilen können, gibt es keinen Menschen auf der Welt, der sich darum kümmert, ob er lebendig oder tot ist.«
Der Wetter biß sich auf die Lippe.
»Das stimmt alles, und dennoch glaube ich nicht an die Galgenhand. Es gibt einen harten Kampf, denn die Bande des Schreckens wird uns keine Ruhe lassen. Den Ulanen-Harry haben sie in ihre Dienste genommen, denn sie wußten, daß er ein guter Schütze war. Er sollte mich auf meinem Rückweg von Chelmsford erledigen. Und es war ja leicht, ihn dazu zu überreden, denn er haßte mich im Grund seiner Seele. Als sie aber sahen, daß er sein Ziel verfehlte, haben sie ihn rücksichtslos über den Haufen geschossen. Und hätte er mich tatsächlich getroffen, dann hätten sie ihn erst recht kalt gemacht. Er unterschrieb sein Todesurteil in dem Augenblick, in dem er den Auftrag annahm.«
In den nächsten Monaten fand Long neues Interesse am Leben und war eifrig an der Arbeit. Das Bewusstsein, ständig in Gefahr zu schweben, verlieh ihm neue Spannkraft und Energie. Er war davon überzeugt, daß hinter Shelton eine Bande stand, die schrecklicher war als jede bisher bekannte Verbrecherorganisation, und es reizte ihn, seine Kraft und Klugheit mit dem Können dieser Leute zu messen.
Er hatte Ulanen-Harrys Spur bis zu dem Augenblick zurückverfolgen lassen, in dem der Mann das Gefängnis in Dartmoor verlassen hatte, und er hatte alle Leute verhört, mit denen der Sträfling in Berührung gekommen war. Aber niemand konnte ihm auch nur die leiseste Angabe machen, die zur Entdeckung seiner Auftraggeber geführt hätte.
Das nächste Jahr brachte eine Katastrophe nach der anderen, denn die Bande des Schreckens plante Mord auf Mord und führte ihre Untaten auch aus.
6
Obwohl Miß Revelstoke schon in vorgeschrittenem Alter stand, gehörte sie nicht zu den schrullenhaften Frauen, die sich langhaarige, teure Schoßhunde hielten oder andere Extravaganzen liebten. Sie war groß und stattlich und kleidete sich modern. In ihrem etwas blassen Gesicht glühten ein Paar dunkle, tiefe Augen, die ihren Zügen einen eigentümlichen Reiz verliehen.
Ihr Haus in Colville Gardens war in jeder Beziehung neuzeitlich und geschmackvoll ausgestattet, und Nora Sanders, die Sekretärin, fühlte sich in ihrem künstlerisch eingerichteten Zimmer sehr wohl.
An einem schönen Sommertag saß Miß Revelstoke an ihrem Schreibtisch und schrieb eine Adresse auf ein längliches Paket.
»Sie werden in Mr. Monkford einen sehr interessanten Herrn kennenlernen«, sagte sie dabei zu Miß Sanders. »Er ist sehr humorvoll wie die meisten etwas untersetzten Leute. Ist das Paket auch zu schwer für Sie?«
Nora wog es in der Hand. Es war leichter, als sie erwartet hatte.
»Wahrscheinlich lädt er Sie zum Tee ein. Ich speise heute Abend erst um neun, eine halbe Stunde später als sonst. Mr. Henry kommt zum Essen, und er würde untröstlich sein, wenn er Sie nicht anträfe.«
Nora lachte. Miß Revelstoke hatte schon mehr als einmal angedeutet, daß der hübsche Rechtsanwalt nur ihrer Sekretärin wegen so häufig ins Haus kam.
»Sagen Sie Mr. Monkford, daß er mir nicht mehr zu schreiben braucht. Er kann die Statuette ruhig behalten. Wir sehen uns ja nächste Woche in Little Heartsease.«
Nora fuhr nach Marlow und freute sich, daß sie einmal wieder ins Freie kam.
Harry, der Bootsmann von Meakes, richtete sich auf, wischte die schweißbedeckte Stirn mit dem nackten, braunen Arm ab und sah die junge Dame, die vor ihm stand, respektvoll und wohlwollend an.
»Sie wollen zu Mr. Monkford?«
Er schützte die Augen mit der Hand gegen die Sonnenstrahlen und zeigte den Fluß hinauf, der an dieser Stelle eine scharfe Biegung nach der Temple-Schleuse zu machte.
»Von hier aus können Sie das Haus nicht sehen«, sagte er. »Es ist ein altes Gebäude. Aber wenn Sie den Fußweg entlanggehen, stoßen Sie darauf.«
Er sah sie ungewiß von der Seite an. Noch zwölf Boote hatte er sauber zu machen, und für eine Gesellschaft, die jeden Augenblick eintreffen konnte, mußte er einen Vierruderer in Ordnung bringen. Aber das Mädchen war hübsch, schlank und biegsam. Um ihre roten Lippen und in ihren grauen Augen spielte ein verführerisches Lächeln.
»Es ist ein ziemlich langer Weg. Sie müssen über die Brücke, die zweite Straße rechts gehen und dann an der Ecke abbiegen, wo das Denkmal steht – ich glaube, ich rudere Sie lieber hin, Miß.«
»Sie sind sehr liebenswürdig.«
Der Mann brachte das Boot an den Steg, und sie stieg ein. Er war sehr gesprächig, während er stromauf ruderte.
»... Hier in dem Loch, über das wir jetzt fahren, lebt die größte Forelle der ganzen Gegend. Manche Leute sagen, daß sie schon dreißig Jahre alt ist. Viele haben versucht, sie zu fangen; aber es ist noch keinem gelungen.«
Sie zeigte höfliches Interesse, um den Alten nicht zu verletzen.
»Sehen Sie, dort liegt Sheltons Boot.« Er deutete mit dem Kopf auf ein ziemlich verwahrlost aussehendes Motorboot, das am Ufer vor einem leerstehenden Hause vertäut war. Es zeigte schnittige Form und mußte früher einmal blendend weiß gewesen sein. Aber jetzt machte es einen unansehnlichen, vernachlässigten Eindruck. Sie dachte einen Augenblick darüber nach, wer Shelton wohl sein mochte, aber der Bootsmann gab ihr sofort Auskunft.
»Shelton ist gehängt worden, weil er einen Polizisten erschossen hat. Er war der größte Urkundenfälscher, der jemals existierte – wenigstens sagen die Zeitungen so.«
Sie sah ihn erstaunt an, dann wanderten ihre Blicke wieder zu dem Boot am Ufer.
»Was, er ist gehängt worden?«
»Ja. In dem Haus dort hat er gewohnt, und mit dem Motorboot hat er seine Reisen gemacht. Nach seinem Tod hat man das Haus und das Boot verkauft. Aber sehen Sie, dort an der Ecke wohnt Mr. Monkford. Der hat Shelton an den Galgen gebracht«, erklärte Harry feierlich. »Er und Mr. Long, der berühmte Detektiv. Der ist gerade zu Besuch bei ihm. Ich habe gesehen, wie er heute nachmittag in einem Boot hinruderte.«
Sie wußte wohl, daß Joseph Monkford eine prominente Persönlichkeit in Bankkreisen war. Miß Revelstoke, die ihn schon lange kannte, hatte ihr das ausführlich erzählt. Er hatte sich durch eigene Tüchtigkeit emporgearbeitet, war jetzt der leitende Direktor der Southern & City Bank und als solcher Vorsitzender der Bankiervereinigung.
»Ja, er und der Wetter Long haben Shelton gehängt. Aber Sie haben doch sicher davon gehört. Die Geschichte hat doch erst vor einem Jahr gespielt.«
Nora schüttelte den Kopf. Sie las niemals die Mordberichte in den Zeitungen.
Das Haus kam jetzt in Sicht. Es stand zwischen hohen Pappeln, und eine große, grüne Rasenfläche breitete sich von der Terrasse bis zum Ufer aus.
Harry legte am Landungssteg an. Sie stieg mit ihrem kleinen Paket aus dem Boot und griff nach ihrer Handtasche, um dem Mann ein Geldstück zu geben.
»Nein, danke schön, Miß.«
Mit einem kräftigen Ruderschlag stieß er das Boot wieder vom Ufer ab und winkte ihr einen fröhlichen Abschiedsgruß zu.
»Mr.