Gerhard Freitag

Die Positiven


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Alkohol als Ursache hatten. Besonders die Kinder und Schüler ächzten unter dem strengen Regime des Stationskommandanten von NANO.

      Wenn die Abiturklasse nun als Gruppe in einen als Ballsaal dienenden Außenhangar gelangte, war der Gedanke an alkoholisierte Störenfriede gar nicht so weit hergeholt.

      Auf dem Saturnmond Titan wohnten im Jahr 2099 rd. 50.000 Menschen. Davon arbeiteten die meisten für NANO in der Werft.

      Ticity war in eine natürliche, mit schweren Maschinen erweiterte Höhle des kalten Saturntrabanten gebaut worden. An der Oberfläche waren lediglich die Landezonen für die Versorgungsschiffe, ein paar Abfertigungsgebäude und die Liftzugänge zu erkennen.

      Die Werft war in einer Nebenhöhle untergebracht, um eventuelle Gefahren von der „Wohnstadt“ zu trennen. Die Bürger von Ticity betrachteten aber die Wohnstadt und die Werft als eine zusammenhängende Einheit.

      Die Atmosphäre außerhalb der Station bestand zu 94 % aus Stickstoff und zu etwa 6 % aus Methan und Argon. Der stetige Methanregen bei rd. -180 Grad Celsius machte es notwendig, die flachen Gebäude mit einem besonderen Oberflächenschutz auszustatten. Die Temperatur im inneren der Höhlen konnte mittels Fubat – der genialen Deuteriumfusion - sehr leicht reguliert werden.

      Am 6. Mond des Saturn lag die am weitesten von der Erde entfernte menschliche Siedlung und die Arbeitsbedingungen waren hart, aber gut bezahlt.

      Neben den Wissenschaftlern und Technikern der Werft waren natürlich alle Berufe, die zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur Ticitys benötigt wurden, vertreten.

      Das auf den Titan transportierte Nanoplast nahm hier die vorprogrammierten Formen an, und so entstanden die druck- und säurefesten Innenausstattungen der Höhle, die Arbeits- und Wohneinheiten, die Labors, die Straßen und Restaurants, die Vergnügungsstätten und Sporthallen.

      Eve beschloss, noch einige Besorgungen zu machen. Toku wollte noch wegen eines nicht fertig gestellten Experiments ins Labor.

      Sie verabredeten sich, am späteren Nachmittag wieder in der Wohneinheit zusammen zu treffen, um sich auf den Ball und den bevorstehenden Jahrtausendwechsel vorzubereiten. Natürlich auch auf die Mutantenjagd…………

      Um 21:00 Uhr Standard sollte die Sylvesterparty beginnen. Eve und Toku verließen rechtzeitig ihre Wohneinheit und machten sich auf den Weg zur Vakbahn.

      Wollte man in Ticity von einem Punkt zum anderen gelangen, war es in der Regel am schnellsten und bequemsten, mit einem der Zentrallifte zu einer Ebene der Vakbahnen zu fahren. Zur leichteren Orientierung der Bewohner gab es diese in allen Zehnerebenen. In der Mitte und am Ende der Ebenen gab es dann breite und bequeme Rolltreppen, um zu den anderen Ebenen zu wechseln. In den Zehnerebenen führten vier Vakbahnen bis ans Ende der mit Farben bezeichneten Sektoren.

      Die Zugänge zu den Außenhangars lagen alle in Sektoren der Ebene 1, 2 und 3.

      Eve und Toku gelangten per Expresslift in die Ebene 2, Sektor Blau. Hier war der Eingang des als Ballsaal ausstaffierten Außenhangars.

      Sie hatten lange überlegt, welches denn die geeignetste Kleidung zur Feier des Jahrhundertwechsels sei. Üblicherweise trug man in Ticity legere Arbeitsoveralls, bzw. Hose und Hemd ohne etwas darüber. Mit Schlechtwetter brauchte ja innerhalb der Höhlenstadt niemand zu rechnen. Festliche Kleidung beschränkte sich bei den meisten Menschen auf frisch gebügelte Freizeitkleidung. Eve und Toku waren daher beide in Weiß und Blau gekleidet und bedauerten ein wenig, dass sie nicht einmal zu diesem besonderen Jahreswechsel einen besonderen Anblick bieten würden.

      Auf dem Endbahnhof des Sektors Blau der Ebene 10 herrschte schon größeres Gedränge. Alle Menschen strebten zu den Liften, um zum Sektor 2 zu schweben, wo der Eingang des Riesensaales lag. Die davor liegende Garderobe war eine Art Empfangshalle mit Türen zu Toiletten und einigen Stehtischen, an denen bereits Getränke konsumiert wurden.

      „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, meinte Toku, „von Unauffälligkeit kann hier niemals die Rede sein.“

       „Du hast Recht. Wir müssten eine der Toiletten benutzen, was genauso wenig unauffällig sein würde. Oder wir lassen uns schnell noch etwas ganz Neues einfallen.“

      „Ich gehe einmal ein paar Schritte zurück und sondiere, wie es außerhalb dieses Empfangsraumes aussieht.“

      Toku machte kehrt und ging gemäßigten Schrittes zurück Richtung Zentralliftstation. An der rechten Seite entdeckte er nach einigen Metern eine Tür mit der Aufschrift: >Umwälzung 3<.

      Toku esperte, ob sich jemand hinter der Tür befand, konnte aber niemand feststellen. Er tastete telekinetisch nach den Verriegelungen des Magnetschlosses, fand einen Kontakt zu einem Überwachungsalarm, legte diesen still, und mit einem kaum hörbaren Knacken öffnete sich die Tür. Er blieb stehen und tat, als ob er sich ein Schuhband richten müsste, während er die Gedanken der Entgegenkommenden danach abhörte, ob er jemandem verdächtig vorkäme.

      Da sich alle mit der bevorstehenden Party beschäftigten und kaum auf die nähere Umgebung achteten, schlüpfte Toku durch die Tür und lehnte sie von innen leicht an.

      Dieser Ort wäre für das Vorhaben zwar geeignet, aber nur dann, wenn er eine Chance fand, die Tür zu öffnen und zu schließen, ohne dabei Telekinese benützen zu müssen, oder gar einen Alarm auszulösen.

      Sachte untersuchten seine telekinetischen Sinne das Schloss. Er verbog die Verriegelung, so dass die Tür nicht mehr einschnappen konnte und unterbrach die Netleitung zur nächsten Alarmschaltung. Nun war der Kontakt des Überwachungsalarms bei einer eventuellen Überprüfung zwar aktiv, seine Meldungen konnten aber mangels Leitung nicht mehr empfangen werden.

      Zufrieden verließ er den Raum, schloss die Tür, esperte, dass die Verriegelung nicht einschnappte und schlenderte zurück zum Vorraum des Ballsaales.

      „Alles OK. Ich habe einen geeigneten Raum gefunden. Wenn man Richtung Lift zurückgeht, gibt es nach etwa 15 Meter auf der rechten Seite einen Raum mit der Beschriftung >Umwälzung 3<. Ich denke, dass das gehen wird. Eine Stunde nach Beginn der Party werden die Meisten ja beim Essen sein.“

       „Genau um 22:00 Uhr Standard schlage ich los. Am Besten wird sein, du gehst schon einige Minuten vorher in den Raum und überwachst den Gang.“

      „Genau so machen wir´s, Eve.“

      Eine Stunde später war der Geräuschpegel der Feiernden schon ziemlich hoch. Das Klirren der Gläser und die Stimmen der sich Zuprostenden vermischten sich mit der Musik, die im Saal erklang. Die ersten Gäste hatten bereits zu tanzen begonnen. Die letzten Nachzügler waren eingetroffen und der Bereich der Garderobe war menschenleer. Alles in Allem war die Party voll im Gang und die Bewohner von Ticity amüsierten sich königlich. Immerhin stand ein ganz besonderer Jahreswechsel bevor. Nicht nur ein neues Jahr, oder ein neues Jahrzehnt, nein, ein ganz neues Jahrhundert sollte in wenigen Stunden beginnen.

      Der Außenhangar war ein riesiger Saal, der an der Decke aufklappbare Tore hatte, die so groß waren, dass ein Landungsboot zu Reparatur- oder Wartungszwecken einschweben konnte.

      Die technischen Gerätschaften an Decke und Wänden waren mit Girlanden, künstlichen Blumen und farbigen Holos bedeckt, welche Szenen aus Maskenbällen früherer Epochen der Erde darstellten. Dadurch hatte man – je nach Größe des Holos – den Eindruck, als würde der Saal an der Decke in verschiedene Richtungen weitergehen. Die Schüler der Titan-First-High saßen unverkennbar an einer eigenen Tafel. Offenbar hatte es der Stationskommandant von NANO durchgesetzt, dass sie nicht bei Eltern oder Freunden, sondern als geschlossene Gruppe Platz bekamen. Vielleicht dachte er, dass sie so leichter zu überwachen wären.

      Eve kam dieser Umstand sehr zu gute. Musste sie sich doch nur auf diesen Tisch konzentrieren.

      Sie selber hatten zwei freie Plätze in der Nähe der Schülergruppe gefunden und natürlich auch etwas zu essen, aber keine alkoholischen Getränke bestellt.

      Es war fast 22:00 Uhr, als sich Toku erhob und unauffällig hinausschlenderte.