die Strasse bei Grün und gelangte zur Sihl, dem kleineren Fluss der Stadt, der parallel zum Kanal lief. Gleich neben der Brücke, die darüber führte, hatte man mit grossen Steinquadern eine Art Riesentreppe gebaut. Sie sollte wohl den Hang befestigen, diente aber den meisten Leuten einfach als prima Terrasse um sich hinzusetzen, auf den Fluss zu schauen, die Nase in die Sonne zu halten und mitten in der Stadt kurz durchzuatmen. Bei schönem Wetter waren die Stufen um die Mittagszeit voll mit Leuten, die ihren Salat, ihr Müsli, einen Döner oder ein überteuertes und unterkühltes Sandwich assen und die Sonne anbeteten.
Ferry sprang einige Treppenstufen hinunter und setzte sich. Aus der linken Tasche seiner schwarzen Windjacke holte er ein Päckchen "Parisienne" heraus, der traditionellen Schweizer Zigarettenmarke. Es waren die orangefarbenen, mittelstark. Aus der rechten Tasche seiner Jeans grub er sein Zippo-Feuerzeug hervor. Er fischte sich eine Zigarette aus der Box und zündete sie an. Er musste zweimal am Rad des Feuerzeugs drehen, bis die Flamme entstand. Er musste bald Benzin nachfüllen, machte er sich eine geistige Notiz.
Langsam sog er den Rauch in seine Lungen, um ihn dann mit einem langen Seufzer wieder auszuatmen. Der erste Zug roch immer nach Benzin. Wahrscheinlich war das noch schädlicher, als rauchen sowieso schon war. Doch das störte ihn nicht. Das Zippo gehörte dazu, es war Ritual, es war eine kleine, persönliche Kostbarkeit. An den Schweisspunkten am Rücken des Feuerzeugs konnte man sehen, dass es mehrmals repariert hatte werden müssen. Aber dafür gab es ja die lebenslange Garantie von Zippo.
Das Sturmfeuerzeug war aus poliertem Chromstahl und trug den eingravierten Schriftzug "San Francisco" unter dem Bild einer stilisierten Golden Gate Bridge. Die Kratzer auf der glatten Oberfläche und die vielen, kleinen Dellen an den gerundeten Kanten zeugten davon, dass er es schon viele Jahre bei sich trug. Er hatte es an der Fisherman's Wharf gekauft, in einem kleinen Souvenirladen unweit des berühmten Pier 39. Ferry liebte diese Stadt. Er war in San Francisco stationiert gewesen, als Jungpilot, an der Flugakademie. Meist waren sie zwar im Hinterland gewesen, in der Wüste von Nevada oder südlich von Death Valley, auf dem Stützpunkt der Navy in Searles Valley. Doch wenn Sie Freigang hatten, waren Ferry und seine Kameraden immer in die Stadt gefahren. Das war lange her…
Er drehte das Zippo gedankenverloren zwischen den Fingern, wog es in der Hand. Es war kühl und schwer und vertraut. Er steckte es zurück in seine Jeans. Er inhalierte lang und langsam, dabei verengten sich seine Augen immer zu Schlitzen. Er klopfte die Asche ab. Zog noch einmal. Seine Gedanken wanderten zurück zu der kryptischen Nachricht, die er vor einigen Minuten erhalten hatte…
In seinem Innenohr hatte es gepiepst und Ferry war erschrocken. Seit er nicht mehr bei der Truppe war, hatte der Funksender in seinem Ohr geschwiegen und er hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu hören. Das ehemals vertraute Signal bedeutete, dass jemand von der Kommandozentrale ihn zu erreichen versuchte.
Wäre er ein x-beliebiges Mitglied des Corps gewesen, hätte er die Nachricht sofort gehört. Die Stimme wäre direkt in seinem Kopf gewesen und hätte zu ihm gesprochen. Doch Ferry hatte mit Hilfe einer eigenen kleinen Erfindung einen Weg gefunden, die direkte Sprechkommunikation zu blockieren: schon vor langer Zeit hatte er sich einen Empfangs-Blocker aus µ-Metall gebaut, sehr zum Leidwesen seiner Vorgesetzten.
µ-Metall, auch Permalloy genannt, ist eine Nickel-Eisen-Legierung und dient zur Abschirmung niederfrequenter Magnetfelder. Ferry hatte sich einen Ohrring daraus gebaut, den er am linken Ohr trug. Da er Rechtshänder war, befand sich sein Wernicke-Zentrum, das sensorische Sprachzentrum im Hirn, ebenfalls links. Das implantierte Kommunikations-Modul des Corps sass im Wernicke-Zentrum und war damit so nahe am Ohrring, dass es abgeschirmt werden konnte. Wollte Ferry uneingeschränkte Kommunikation, so brauchte er nur den im quadratischen µ-Metall eingefassten Diamanten zu drücken. Dieser löste einen winzigen Hebel-Vorgang aus, der mechanischen Druck auf das umliegende Metall ausübte und es im Nanometerbereich stauchte. Die Permeabilität des Permalloys verringerte sich damit so drastisch, dass die Abschirmung zusammenbrach. Löste er den Druck durch erneutes Drücken des Diamanten, so erhöhte sich die Permeabilität sofort wieder und schirmte das Signal ab. Die Stärke des Abschirmungsfeldes war so berechnet, dass sie genau reichte, um den Funkspruch zu unterdrücken, jedoch registrierte das Modul im Sprachzentrum ein kaum wahrnehmbares Signal - wie eine winzige Amplitude im analogen Radio - und wandelte es in einen digitalen Piepston um. Und nun hatte es gepiepst.
Master Paris hatte Ferry persönlich angefunkt, und das kam nur selten vor. Nein, eigentlich kam es gar nie vor.
Wenn der Leiter der Parallel 1 Armed Forces ihn anrief, bedeutete das nichts Gutes. Sicherlich keine Einladung zu Kaffee und Kuchen, um über die alten Zeiten zu plaudern. Paris musste verzweifelt sein, wenn er gerade ihn anfunkte. Nur deshalb hatte Ferry den Anruf abgehört.
Paris hatte eine Voicemail hinterlassen - noch etwas, das nie vorkam. Normalerweise liess er das Schichtpersonal in der Zentrale eine Text-Message schicken. Seine Stimme hatte geklungen wie immer… tief, sachlich, scheinbar emotionslos und extrem autoritär, ohne dabei diesen militärischen Brüll-Klang einzunehmen:
"Commander Black, Sie fliegen einen Solo-Einsatz. Search and Rescue. Squad Leader MIA. Full Armour. Startfreigabe sofort. Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File. Das ist SL-1."
Das war alles gewesen. Und deshalb brauchte Ferry jetzt eine Toilette.
Er schloss die Augen und liess den Kopf nach links und nach rechts fallen, um die Gelenkkapseln der Halswirbel knacken zu lassen. Das entspannte ihn und half ihm, nachzudenken.
"Startfreigabe sofort", hatte Paris gesagt. Das bedeutete, dass es eilig war… Ein ungutes Gefühl breitete sich in Ferrys Magengegend aus.
"Sofort" hiess für die "Squad on duty", die diensthabende Flugrotte, in weniger als drei Minuten in den Flugmaschinen…. Er würde länger brauchen, aber das war in Ordnung, fand er, schliesslich war er nicht "on duty"… Wieso also dieses Drängen zur Eile?
Der Ex-Commander der P1AF atmete tief durch. Ja, er war so was von "off duty" wie es nur möglich war… Man hatte ihn rausgeworfen, vor über drei Jahren… Nach dem Vorfall, über den er nicht sprach… Oder anders gesagt: was vorgefallen war, hatte ihn dazu bewogen, sich so saublöd zu benehmen, dass sie ihn hatten rausschmeissen müssen… "Insubordination. Zwanghafter Einzelgänger. Eine Gefahr für sich und andere. Unkontrollierbar. Unzuverlässig. Für das Corps nicht länger tragbar..." All das tauchte in dem über fünfzig Seiten langen psychologischen Profil auf, das die Kurz-Schwestern, die Psychologinnen des Corps, erstellt hatten und das zu seiner Entlassung geführt hatte. Trotz der heftigen Verfehlungen hatte der Ältestenrat ihn jedoch nicht unehrenhaft entlassen, was durchaus angebracht gewesen wäre, sondern ihn zum Reservisten gemacht. Damit hatte er sogar Anrecht auf eine kleine Rente.
Konnte es sein, dass Paris ihn aus der Reserve zurückholen wollte in den aktiven Dienst? Ferry schüttelte ungläubig den Kopf. Unfokussiert wanderte sein Blick den Fluss hoch.
Er war in den vergangenen Jahren ab und zu hiergewesen mit seinem IFO, dem individuellen Flug-Objekt. War am grasbewachsenen Flussufer eine kurze Runde flussaufwärts geflogen und wieder zurück. Einfach, um in Übung zu bleiben. Auch, um sich selbst zu vergewissern, dass er es noch konnte. Und er konnte es noch. Es war wie immer gewesen. Lediglich den Funk und die Navigationsgeräte hatte er ausgeschaltet, flog quasi im Blindflug, auf Sicht. Aber das reichte völlig für die paar hundert Meter den Fluss hoch, Kehrtwende und wieder zurück.
Natürlich war er nicht HIER geflogen, vor all den Menschen, die hier herumwuselten. Das wäre gar nicht möglich gewesen. Auf der Erde, im Fachjargon des Corps "Parallelwelt 0", oder kurz P0, genannt, gab es zu wenig Energie, um ein IFO entstehen zu lassen oder damit zu fliegen. Er war an diesem Ort geflogen in der Parallelwelt 1, kurz P1.
Die Sihl gab es in P1 genauso. Das Gras am Flussufer war nicht so schön grün, doch ansonsten war die Landschaft identisch. Nur dass hinter dem Fluss kein Zürich lag. Es gab keine Stadt in P1. Es gab gar nichts Menschgemachtes in P1, nur eine Art Platzhalter für Dinge, die es in P0, unserer Welt, gab. Wo auf der Erde ein Haus stand, fand sich in P1 nur ein grauer Quader. Ähnlich einem klotzartigen Rohbau, innen hohl und komplett ohne Leben, aussen glatte, strukturlose