Ralf Wider

Der Auftrag


Скачать книгу

anderen Ländern und Kontinenten war massiv gewesen. Nach wochenlangen, zähen Verhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, Englisch als Einheitssprache zu definieren, doch die Führung sollte nicht einer Nation vorbehalten sein, sondern aus den Besten ihres Fachs bestehen, unabhängig davon, woher sie stammten. Die Führungszentrale, Central Command, hatte man bewusst in neutrales Gebiet legen wollen, um nicht alte Ost-West-Streitigkeiten aufkommen zu lassen.

      Zur Auswahl hatten Auckland und Zürich gestanden. Doch am Ende gab die Nähe zum CERN in Genf den Ausschlag zugunsten von Zürich. Die Top-Physiker der Welt waren dort vereinigt und forschten mehrheitlich in genau dem Bereich, der für das Parallel Corps wichtig war: Dunkle Energie und Dunkle Materie. Eine geheime Zweigstelle des CERN arbeitete ausschliesslich für das Corps, sie unterstanden dem P1ST, dem Parallel 1 Science & Technology Departement. Man hatte erwogen, einen zweiten Teilchenbeschleuniger in Auckland zu bauen, doch die überaus aktive Tektonik am Pacific Ring of Fire und die daraus resultierende vulkanische Tätigkeit in Neuseeland waren einfach zu unberechenbar, respektive ein zu grosses Sicherheitsrisiko.

      Search and Rescue - Suchen und Retten. Squad Leader MIA - Staffelführer Missing in Action, also bei einem Einsatz verschollen... Das war nicht gut. Abschüsse kamen vor, manchmal konnten sich die Piloten dabei retten, manchmal nicht. Opfer gab es leider immer wieder. Vermisstmeldungen waren hingegen selten. Wenn man in der Gruppe flog, hatte man die Kameraden immer auf dem Schirm, auch wenn sie abgeschossen wurden und manövrierunfähig waren. In diesem Fall versuchte die Staffel um jeden Preis, den Absturzort zu sichern und zu halten, bis der Kamerad gerettet oder geborgen war. Wenn jemand verlorenging, musste er oder sie sich von der Gruppe entfernt haben. Auch das konnte vorkommen, dass ein IFO abgedrängt wurde, jedoch in der Regel nicht so weit, dass es von den Bildschirmen der Staffel verschwand. Selbst in unebenem Gelände, wie den Bergen, reichte die Erfassung problemlos auf drei bis fünf Kilometer.

      Ferry schüttelte den Kopf, er verstand es nicht, das ärgerte ihn. Er dachte nach… ein Solo-Einsatz… das wäre natürlich eine Möglichkeit… der Squad Leader war allein unterwegs gewesen! Doch wozu? Wozu so ein Risiko? Ferry wusste, dass die Sicherheitsvorschriften in den letzten Jahren massiv strenger geworden waren. Paddy Ram, sein bester Freund und langjähriger Wingman, mittlerweile Squad Leader Maroon, hatte ihm davon erzählt, als sie sich vor einiger Zeit im Kennedy's Pub auf ein Bier getroffen hatten. Deshalb schien es umso unbegreiflicher, wieso Paris einen Squad Leader allein losgeschickt hatte. Konnte es sein, dass sie so knapp an Personal waren? Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum er aus der Reserve geholt wurde… Er neigte nochmals den Kopf nach links und nach rechts und liess es knacken. Was ging bloss vor in der Parallelwelt? Er hatte keine Ahnung, er war zu lange nicht dort gewesen, nicht da draussen, wo der Feind sass, jedenfalls.

      Ferry erhob sich langsam und nachdenklich. Das Puzzle hatte sich noch immer nicht für ihn zusammengefügt, doch er sah mittlerweile viele bunte Teilchen und schob sie vor seinem inneren Auge umher. Er kletterte die Stufen hinauf und ging langsam über die Brücke in Richtung des berüchtigten Kreis 4. Wenn jemand abtauchen wollte in dieser Stadt, dann hier. Das war die schrägste Ecke der Stadt, voller Drogen, Prostitution und Gewalt. Hier lebte das Stadtleben fast rund um die Uhr. Es war ein Auffangbecken für alle Gestrandeten, egal welcher Herkunft. Hierher hatte auch er sich verkrochen, nach seinem Rausschmiss.

      Während er voranschritt, seinen Blick unscharf auf den Asphalt gerichtet, ging er in Gedanken den Rest der Nachricht durch.

      "Full Armour", das hiess volle Bewaffnung. Nicht, dass er irgendein zusätzliches Waffensystem gebraucht hätte. Sein Gefechts-IFO war immer voll bestückt und bereit für jeden Einsatz. Mehr als die Waffen, die er immer an Bord hatte, brauchte er nicht. Es gab eine Abteilung in der Forschungsbrigade von Central Command, die neue Waffen entwickelte, doch Ferry fragte sich, wozu überhaupt. Wenn man sich eine Waffe nicht vorstellen konnte, war sie auch nicht im IFO… Das IFO entstand allein im Kopf des Piloten, deshalb auch der Titel "individuell". Jeder Pilot hatte eine eigene Vorstellung seines Flugapparates, der komplett einzigartig war, und diese Vorstellung konnten Aussenstehende auch nicht beeinflussen. Klar, sie konnten neue Waffensysteme erfinden, und wenn sich der Pilot damit auseinandersetzte und sie in sein Konzept aufnahm, dann konnte er sie auch verwenden. Doch Ferrys Erfahrung zeigte, dass jeder Pilot instinktiv die für ihn oder sie richtigen Waffen dabeihatte.

      Full Armour bedeute also lediglich, dass Paris davon ausging, dass es zu Feindkontakt kommen würde. Damit musste man immer rechnen in P1. Doch der Gedanke daran löste ein bedrückendes Gefühl in Ferry aus.

      "Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File". Er war gespannt darauf, was der Einsatzplan an weiteren Fakten hergeben würde.

      "Das ist SL-1". Security Level 1 - höchste Vertraulichkeitsstufe. Also eine Ansage nur zwischen dem Vorgesetzten und dem Piloten. Es war also wichtig. Doch das hatte Ferry schon gewusst, als er Paris' Stimme gehört hatte.

      Er war bei seinem kleinen Quartier-Restaurant angekommen und schloss die Haustüre mit dem passenden Schlüssel auf. Als man ihn in den Zwangsruhestand geschickt hatte, war Ferry mit einer ganz neuen Situation konfrontiert worden: er hatte keine Aufgabe mehr. Ohne Job hatte er auch keinen geregelten Tagesablauf mehr und schon nach wenigen Tagen war ihm klargeworden, dass er seinem Leben wenigstens einen Hauch von Sinn einhauchen musste, wenn er nicht durchdrehen wollte. Von der Rente, die er bekam, konnte er leben, er brauchte nicht zu arbeiten für seinen Lebensunterhalt. Es war die Langeweile, die dem Ex-Commander zusetzte und die ihn dazu bewegte, einen Job zu suchen. In dem Stadtkreis, in dem er wohnte, gab es wöchentlich Wechsel bei kleinen Lokalen, Kiosks und Krämerläden. Das erste Objekt, das zur Übernahme freigeworden war, war ein Restaurant gewesen. Also hatte Ferry seine Ersparnisse hineingesteckt, um es einigermassen flott zu machen und ein kleines Bistro daraus gemacht.

      Er betrieb das Lokal als One-Man-Show. Meist kochte er ein einziges Gericht unter dem Motto "frische Marktküche" und daneben gab es ein paar einfache Tapas und Häppchen. In seinem Restaurant galt: es hat, was es hat, und was es nicht hat, braucht es nicht…

      Ohne das Licht einzuschalten, durchmass er mit schnellem Schritt die Gaststube, zog ein Schild aus einem Einschub neben der Eingangstür und hängte es an einen Nagel, der über der eingesetzten Glasscheibe im Holzrahmen angebracht war: auf dem Schild stand "Betriebsferien". Das hängte Ferry immer dann an die Tür, wenn er keine Lust hatte, zu arbeiten. Seine Gäste waren sich das gewohnt und Reservationen nahm er sowieso keine entgegen. Das Bistro war geöffnet, wenn er da war und sonst halt nicht. Falls Ferry die Mission wirklich annahm, dann würden seine potentiellen Gäste wohl zwei oder drei Tage ohne ihn auskommen müssen, hatte er sich ausgerechnet.

      Mit geübtem Blick kontrollierte er im Vorbeigehen, ob in der Küche alle Geräte abgeschaltet waren, dann betrat er die Stille des Treppenhauses mit den steinernen Treppenstufen und stieg hinunter ins Untergeschoss. Er öffnete eine weitere Türe mit einem weiteren Schlüssel, ging am Umkleideraum vorbei und stand nun endlich vor der Personaltoilette. Er war angekommen. Es konnte losgehen.

      Kapitel 2 - Das Raumschiff

      Man schrieb das Jahr 1979 und Ferdi war acht Jahre alt. Er war, wie Kinder in diesem Alter sind. Er hatte langes, hellbraunes Haar, zerzaust und meist sowieso ungekämmt. Das Haar schrie nach einem Friseur, doch Ferdi hasste es, zum Friseur zu gehen. Ausserdem war das nicht so schlimm, es waren schliesslich die Siebziger. Ferdis Eltern waren liberal und antiautoritär und liessen ihm weitestgehend seinen Willen. Er konnte tun und lassen was er wollte und aussehen, wie er aussah. Ihnen gefiel, wie er war und wie er aussah und ihm auch. Meist trug er schmutzige Jeans und ein schmutziges T-Shirt. Dazu hatte er schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln, dazu meistens auch noch Überreste des Frühstücks im Gesicht. Ferdinand war ein glücklicher Achtjähriger.

      Er ging gerne zur Schule, war wissbegierig, aufmerksam und clever. Er hatte gute Noten, nette Freunde und wurde bei Gruppenspielen zwar häufig als Zweitletzter in eine Mannschaft gewählt, aber nicht als Letzter. Das war wichtig. Er war keine Sportskanone, aber er liebte Spiele, egal ob Fussball, Völkerball oder was auch immer und er brachte immer vollen Einsatz. Er mochte Mannschaftsspiele. Ferdi war nicht athletisch, aber auch nicht dick. Vielleicht ein bisschen