Norbert Barthelmess

Die heilige Geometrie der Metatron-Pyramide


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Ami an der Hand und wir marschierten in Richtung Kaserne. Ich kannte schon die Kaserne, weil meine Mutter dort gearbeit hatte und wir da so ein leckeres Eis bekamen. Wir wurden in einen grossen Saal geführt mit einem grossen, übermächtigen Weihnachtsbaum in der Mitte. Im Hintergrund spielte die Melodie White Christmas von Bing Crosby. Die Vorfreude was da jetzt wohl auf uns zukommen wird, spiegelte sich in unseren grossen strahlenden Augen wieder.

      Einzeln wurden wir vom Nikolaus mit seinem übermächtigen Rauschebart und seinem übermächtigen Geschenkesack aufgerufen.

      Wir verstanden zwar gar nichts, doch als der Nikolaus in Richtung Christkind zeigte, liefen wir wie eine aufgezogene Puppe los.

      Jedes Kind wurde mit Spielsachen überhäuft.

      Was eigentlich mein Geschenk von dem Christkind war, kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Was mein Geschenk gewesen wäre, hätte für mich und meine Schwester kein Christkind auf dieser Welt geben können. Die Kinder spielten mit ihren Errungenschaften vom Christkind, nur bei mir kam keine Freude auf. Ich merkte sogar, dass man mir aus dem Weg ging. Helle Aufregung gab es an diesem Tag als es hiess der Willi ist abgehauen. Wer war der Willi? Ein Junge, der eine sichtbare Behinderung an seinem Arm hatte und anscheinend eine im Kopf.

      Wir hatten Angst vor diesem Willi, der manchmal so komische Töne von sich gab.

      Wir waren gerade beim Abendessen, als die über- mächtige dicke Schwester mit unserem Willi herein kam. Willi stammelte und artikulierte sehr aufgeregt, so dass aus seinem Mund schon Schaum heraus trat. Abhauen konnte er nicht mehr, denn die Bratpfannen- hände dieser dicken Schwester hielten Willis Ohr fest. Erstaunt mussten wir feststellen, dass sie immer länger wurden. Der arme Willi dachte ich, der wollte doch nur zu seiner Oma. Diese Oma war das einzige auf dieser Welt, was er noch hatte. Was uns jetzt erst aufgefallen war, war dass diese dicke Schwester einen Stecken in der anderen Hand festhielt. Bevor sie ausholte, sagte sie mit einer energischen Stimme: „Schaut genau hin, das bekommt jeder von Euch ab, der meint abhauen zu müssen!“ Sie holte aus und drosch mit diesem mörderischen Etwas auf Willi ein. Sie drosch und drosch. Alle dachten diese fette Kuh muss des Wahnsinns sein. Und diese Szene spielte sich ab in einem katholischen Waisenhaus.

      Viele Kinder fingen zu schreien und weinen an. Als sie zum Höhepunkt kommen wollte und den Stecken in ihrer Hand kreisend zum vollendendem Schlag ausholen wollte, flog in hohem Bogen das Weihwasserkesselchen, das an der Wand hing, durch den Saal.

      Sie erschrak so dermassen, dass ihr Prügel hinterher flog. Durch das immense Geschrei von ihr und uns kamen andere Schwestern herein und bändigten sie. Diese dicke Schwester war die Oberin. Mein eigener Plan von hier abzuhauen, wurde erstmals

      verschoben. Das Makabre an der Geschichte ist, dass alles im Namen des Herrn gemacht wird. Für mich war es die Scheinheiligkeit in Perfektion und das in Gestalt einer Nonne.

      Das Weihwasserkesselchen hing wieder an seinem Platz, so als wenn nichts passiert wäre.

      Doch man sah, wenn man genau hinsah, dass ein Blutstropfen neben dem Weihwasserkesselchen an der Wand klebte.

      Neue Eltern und doch zurück ins Heim.

      Ein paar Tage später sagte eine Schwester zu uns, dass uns ein Ehepaar anschauen möchte. Anschauen, warum anschauen, das versteh ich nicht, na ja. Wir wurden heraus geputzt, kamen in einen Raum, die Türe ging auf. Eine Frau und ein Mann kamen herein und sagten zu uns: „Hallo Ihr Hübschen!“ Es gab Süsses zum Essen und eine Limonade. Das waren aber liebe Menschen, dachte ich. Die werden uns bestimmt herausholen, was sie auch taten. Sie nahmen mich und meine Schwester zu sich nach Hause. Es waren sehr liebe Menschen. Schon bald fing meine Schwester V. an Papa und Mama zu sagen.

      Für mich gab es nur eine Mama - meine Mama. Ja wir hatten auf einen Schlag dazu noch einen Opa und eine Oma bekommen, die uns schnell ins Herz geschlossen hatten. Nach der Schule waren wir immer bei Opa und Oma, denn unsere Adoptivmama war von Beruf Lehrerin. Mein Adoptivvater war von Beruf, keine Ahnung. Sie müssen sich vorstellen, dass wir von heute auf morgen jeder ein Kinderzimmer hatten, zusammen ein eigenes Bad, einen grossen Garten und dazu hatten wir in kurzer Zeit wieder neue Freunde gefunden.

      Sogar mein grösster Traum zu der damaligen Zeit sollte in Erfüllung gehen - eine Schildkröte. Ich hatte mir schon einen Plan gemacht, wie gross, wie hoch das neue Zuhause für meine Schildkröte sein soll. Im Winter sagte meine Adoptivmama muss die Schildkröte einen kühleren Raum bekommen, damit sie ihren Winterschlaf abhalten kann. Meinen Schulweg konnte ich schon auswendig finden und eine Freundin hatte ich auch schon. Jedes Mal wenn ich sie sah, hatte ich so ein komisches Kribbeln im Bauch. Wissen Sie ich denke heute noch an dieses Mädchen mit ihrem wunderbar lächelnden Engelsgesicht.

      Es war Wochenende, es war ein sonniges Wochenende. Ich, der Lausbub mit seinen acht Jahren hatte an diesem Tag, wie es der Zufall wollte eine Spinne beobachtet. Es war eine fette Spinne. Meine Schwester schrie:“ Mach die Spinne tot!“ „Blöde Gans!“ paffte ich sie an. Doch ich liess diese Spinne nicht mehr aus den Augen. Da kam mir ein Gedanke. Ich ging zum Schreibtisch meiner Adoptivmama, holte das Brennglas und schon ging es los. Die Spinne wollte nach rechts ausweichen. Ich nahm das Brennglas und führte die Linse in Richtung Spinne. Die Spinne zuckte, wollte nach links ausweichen, das gleiche Spiel von vorne. Nun konnte ich mit dem Brennglas jonglieren. Etwas höher gehalten, war der Brennpunkt grösser, etwas niedriger gehalten, oh was war das denn, sie fing ja plötzlich zum Knistern an. So schnörkelte die Spinne durch mein Zutun zusammen. Zum Rauchen fing sie auch noch an. Klatsch! klatschte die Hand auf meinen Hinterkopf. „Was machst du denn da?“ Zornig und wütend sagte meine Adoptivmutter: “ Das ist Quälerei, die arme Spinne! Du hast sie getötet ohne einen besonderen Grund, einfach aus Lust und Tollerei! Schäm dich!” „V. hat gesagt, dass ich sie tot machen sollte!“ gab ich als Ausrede an. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie kopfschüttelnd zurück ins Haus. Ich schämte mich dafür in Grund und Boden. Ich schämte mich und sagte zu mir, warum hast du das gemacht? In dieser folgenden Nacht hatte ich einen komischen Traum. Ich stand vor unserem Haus, sah in den zweiten Stock hinauf und rief : “Mama, Mama, lass mich rein! Mama, lass mich rein!“ Aber zum Fenster kam keine Mama. Ich ging zu unserer Eingangstür, die nur angelehnt war. Ich öffnete sie und ging die gewendelten Treppen nach oben und klopfte an unsere Wohnungstür. „Mama, lass mich doch endlich rein!“ bettelte ich. „Ich weiss, Du bist da! Mach doch endlich auf!!“ Es war so still in diesem Haus, dass ich mein Herz klopfen hörte. Ich horchte, als ich plötzlich stampfende Geräusche vernahm, schaute nach unten und sah grässliche Monster heraufkommen. Ihre hässlichen, verknöcherten Hände, oder was das sein sollte, wollten nach mir greifen. „Mama, Mama lass mich schnell rein, bitte bitte, sie kommen!“ Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als dass ich zu einem Fenster lief, es öffnete und nach unten schaute. Sie kamen immer näher. Ich schaute nach unten. Ich bekam Panik, schaute wieder nach unten, stieg auf das Fenstersims und wusste, wenn du dich jetzt fallen lässt, bist du tot. Die Monster hatten mich erreicht. Das erste packte zu. Ich verspürte ein Brennen auf meiner Schulter und sprang. In dem Moment wo ich sprang, spürte ich im Bauch ein starkes Kribbeln. Gleich klatsche ich auf, und das war’s. Doch was war das???

      Die Geschwindigkeit verlangsamte sich, und plötzlich fing ich an zu schweben. Ich schwebte über meiner Strasse und hatte eine weiche Landung. Diesen Traum hatte ich viele Male. Oft stand ich vor unserer Haustüre und flehte meine Mama an. „ Mama lass mich doch endlich rein!“

      Es war an einem Wochenende. Ich baute an meinem Schildkrötengehege weiter. Ein Arzt kam und besuchte meinen Adoptivvater, der seit Tagen sein Bett aufsuchte. Oma und Opa und die Adoptivmutter waren sehr bedrückt.

      Ich baute mit gemischten Gefühlen weiter an meinem Schildkrötengehege. Es war am nächsten Wochenende, wo wir zu Oma und Opa gehen sollten. Mit Tränen in den Augen empfingen sie uns - Stillschweigen.

      Wir erfuhren, dass unser Adoptivvater gestorben war. Unsere Adoptivmutter, die mit dieser Situation gar nicht mehr zurecht kam, was ja verständlich ist, sahen wir in den nächsten Tagen nicht. Frühmorgens ging die Tür zu unserem Kinderzimmer auf. Sie stand da und weinte. Mit leiser Stimme sagte sie zu uns: “ Ich muss euch leider wieder ins Heim zurückschicken.“