Friedrich Hauptvogel

DJEZEBEL


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      Gegen neun am Abend erschienen der Professor und Valerie in der Haupthalle des Schlosses, wo die Mahlzeiten serviert wurden. Die wuchtige Holztäfelung der Decke verströmte eine feierlich-düstere Stimmung.

      Nur drei der sieben Tische waren besetzt. Im Kamin knackte und gloste ein gemütliches Holzfeuer, an dem vorbei Olli sie zu ihrem Tisch führte. Während der Professor sich bemühte, sein blessiertes Bein mit der Fülle seines Leibes nicht allzu sehr zu belasten, als er sich auf seinen merklich ächzenden Stuhl fallen ließ, winkte Olli den Servierkellner herbei, der große, handgeschriebene Karten vorlegte.

      Geraume Zeit grübelten sie über den angebotenen Speisen. Mit den dicken Fingern seiner linken Hand liebkoste der Professor dabei die gerade noch unter dem Tischtuch hervorlugende Schnauze Bothos. Plötzlich wurde diese, die sich dem Streicheln seiner gekrümmten Finger wohlig entspannt hingegeben hatte, von einem unwilligen Zucken überfallen. Der Professor schaute nach unten, und sah, dass Botho gespannt eine neue Witterung einsaugte und langsam seinen rechteckigen Schädel unter dem Tisch hervorzustrecken begann.

      Der Professor folgte dem Blick des Hundes, und sah an der Eingangstür ein junges Paar. Das heißt, eigentlich sah er vor allem, um nicht zu sagen ausschließlich, die Frau. Es war der noch nicht ganz erloschene primitiv-chauvinistische Instinkt, der ihn in den vergangenen Jahrzehnten so oft umgetrieben hatte. Einen Moment schaute er – fast verlegen – Valerie an, die sich aber in routinierter, selbstsicherer Diskretion ausschließlich auf die Speisekarte konzentrierte, dann blickte er wieder in Richtung der jungen blonden Frau, die an der Tür jetzt mit Olli wegen eines Tisches verhandelte. Sie schienen miteinander vertraut.

      Sie mochte knapp über zwanzig sein, ihr Begleiter ein paar Jahre älter, beide den Glanz der jeunesse dorée auf den Wangen, ihrem selbstverständlichen Auftreten nach Mitglieder der Gesellschaftsschicht, die in solcher Umgebung nur an Nuancen des Stils interessiert ist, nicht am Preis.

      Wegen der Unterhaltung der anderen Gäste konnte man nicht verstehen, was die junge Frau sagte, aber der Tonfall ihrer Stimme war bestimmend, hell und von angenehmer Melodie. Ihr Begleiter, den der Professor jetzt mit nachlässiger, aber dennoch wachsamer Aufmerksamkeit musterte, war geringfügig kleiner als sie. Als sie an einem etwas abseits stehenden Tisch in der Nähe des Kamins Platz nahmen, fuhr er sich mit den Händen durch die dicken kastanienbraunen Haare, eine etwas unpassende, verlegen wirkende Geste. Die Frau sagte etwas zu ihm, lächelte, und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Darauf lächelte auch er, aber schüchtern, verlegen und weniger für sie als für einen unbestimmten Partner im Raum.

      „Ein sehr gutaussehender junger Mann“, sagte nun Valerie mit ironischer Betonung auf Mann, und betrachtete das Paar aufmerksam. Olli trat an ihren Tisch, um – Zeichen ungewöhnlicher Hochachtung bei ihm – die Bestellung selbst aufzunehmen. Seufzend wandte sich der Professor nochmals der Karte zu. Sie wählten als Vorspeise Steinpilze in Knoblauchtunke und dann Lammrücken, dazu einen leichten roten Landwein.

      Valerie hatte sich entschlossen, die Aufmerksamkeit des Professors wieder auf sich zu lenken, und begann, von einer Munch-Ausstellung zu erzählen, die sie Ende März in Paris im Musée d’Orsay gesehen hatte. Die Pilze kamen, aber während der Professor höflich zuhörte und langsam und bedächtig aß, wanderte sein Blick gleichzeitig immer wieder zu dem jungen Paar hinüber.

      Valerie spürte, dass ihr Bericht nur eine Begleitmusik zu dem Aufritt war, den er beobachtete. Sie hatte dergleichen schon früher erlebt, sie kannte seine Neigung zu grübelnder Interpretation menschlicher Beziehungen, aber da sie sich sicher war, dass seine Aufmerksamkeit am Ende immer wieder zu ihr als der intelligentesten und offensichtlich am wenigsten egoistischen Partnerin zurückkehren würde, konnte sie es ertragen, im Moment ignoriert zu werden.

      „Sie scheinen Krach zu haben“, meinte der Professor, und auf Valeries fragenden Blick fügte er hinzu, „der Junge ist ganz verkrampft. Schau‘ dir nur seine Finger an, wie er die gegeneinander drückt.“

      „Ich weiß nicht“, sagte Valerie, um ihn ein wenig weiter herauszulocken. Das Studium der Körpersprache war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, er hatte es in zahllosen Mandantengesprächen und in vielen Strafprozessen bei der Befragung von Zeugen geschult und genutzt.

      Neben dem Kamin sprach die Frau pausenlos auf den Mann ein. Der hatte den Kopf etwas eingezogen, und blickte starr auf seine Hände. Die Miene der Frau war jetzt düster.

      Das Lammgericht kam. Tief sog der Professor den Geruch von Knoblauch und Kräutern auf. Er nahm sein Glas, und prostete Valerie zu. Während er trank, glitt seine Hand wieder nach unten zu der Hundeschnauze. Einen Moment schaute er etwas verunsichert auf das Tier, dann in Richtung des Paares. „Seltsam“, murmelte er.

      „Was ist so seltsam?“, fragte Valerie, die sich um ihre Ausführungen über Munch nun doch etwas betrogen fühlte, in leicht ironischem Ton.

      „Unsere kleine Schönheit hat Angst. Ganz offensichtlich.“

      Überrascht musterte Valerie die junge Frau, deren Aussehen dieser Feststellung zu widersprechen schien. Ihr klar geformtes, ebenmäßiges Gesicht mit den vollen Lippen unter einer sanft gerundeten Nase glich den zeitlos schönen Tänzerinnen auf altägyptischen Wandbildern. „Meinst du?“

      Der Professor schaute ihr ernst in die Augen. „Ich meine gar nichts. Aber Botho.“

      „Botho?“

      „Botho“, bestätigte der Professor. „Er sitzt da unter dem Tisch, und wendet kein Auge von den beiden ab. Er ist wie erstarrt.“

      Ratlos sah Valerie den Professor an. „Er riecht es“, sagte er, „Botho riecht die Angst. Ein Organismus, der Angst empfindet, schüttet bestimmte Hormone aus. Über die Haut umgeben sie den Körper mit einer für uns nicht wahrnehmbaren Aura. Für einen Hund ist das, als wenn dort mit Leuchtschrift das Wort ‚Angst‘ stünde. Ich habe mit Botho ähnliche Situationen schon mehrmals erlebt.“

      „Wer von den beiden hat Angst? Warum soll das Mädchen Angst haben?“

      Der Professor zuckt nur mit den Schultern, und breitete seine Hypothesen aus: „Vielleicht ist sie verheiratet, und geht zum ersten Male fremd. Dann hat sie Angst, dass jemand sie erkennt. Aber dazu ist sie eigentlich zu jung. Oder sie ist von Zuhause ausgerückt. Aber dazu ist sie wiederum zu alt.“

      Valerie war ob dieser trivialen Hypothesen enttäuscht. „Lassen wir die beiden. Sie werden schon zurechtkommen.“

      Der Professor knurrte etwas Unverständliches, und winkte dem Ober. „Wir wollen den Nachtisch bestellen.“

      Unmittelbar nachdem es das Essen beendet hatte, erhob sich das junge Paar. Der Missklang, der zwischen ihnen herrschte, war nun offensichtlich. Die Art, wie sie voneinander abgewandt zur Türe gingen, ließ keinen Zweifel offen. Einige der anderen Gäste sahen ihnen nach, wobei aus den Augen der durchweg älteren Herren vor allem Bewunderung strahlte, soweit sie sich von ihren Begleiterinnen unbeobachtet glaubten. Auch Ollis düsterer Blick folgte ihnen.

      ***

      Nach dem Essen war Valerie müde, und verabschiedete sich. Der Professor zog sich mit Botho in die hintere Halle des Schlosses zurück, um Zeitung zu lesen. Kein anderer Gast war anwesend. Olli brachte ihm mit einer gewissen Feierlichkeit die Flasche Glenfiddich, die immer für ihn bereitstand. Der Professor prüfte kurz den Pegelstand – noch gut ein Viertel –, und lehnte sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck in seinen Ohrensessel zurück.

      Nie ging er vor Mitternacht zu Bett, häufig erst gegen zwei Uhr morgens.

      Der Raum war viel kleiner als die Haupthalle, aber ausgestattet mit einer riesigen Feuerstelle, groß genug, um einen Ochsen zu braten. Diesen Vorschlag hatte Olli tatsächlich einmal vorgebracht, er war aber natürlich nicht durchführbar. Schwer lastete die niedrige Decke auf dem durchgebogenen Holzbalken. Die abwechselnd in den Farben Milchweiß und Braunrot verlegten Fliesen des Fußbodens hatte der Professor einmal Valerie gegenüber mit einem Schachbrett verglichen – „das Schachbrett unseres Lebens“ und sich damit von ihr nur eine mokante Bemerkung eingehandelt. „Wenn ich hier spätabends sitze“, hatte er aber ungerührt hinzugefügt,