Friedrich Hauptvogel

DJEZEBEL


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erscheinen mir als Züge, ihr Hass und ihr Hochmut, ihre Gier, ihre Ängste, aber auch ihre Treue und Opferbereitschaft kann ich wie Variationen schon oft gespielter Partien erkennen. Aber meist sind es Standarderöffnungen und triviale Abschlüsse.“

      Noch aus einem anderen Grund liebte er diesen Raum. Hier war der akustische Mittelpunkt des Schlosses. Herangetragen auf unerfindlichen Bahnen, Schallbrücken, durch alte, nicht mehr erkennbare Schächte im Mauerwerk, kreuzten sich hier alle Geräusche aus dem Schloss. So wie eine Spinne im Netz die Schwankungen fühlt, die das unglückliche Insekt verursacht, das sich darin verfängt, so würde der einsame Lauscher in diesem Raume an vielem teilnehmen, wenn er die Fähigkeit hätte, alles zu verstehen, was rings um ihn gesagt, geflüstert, gestöhnt, geradebrecht wurde.

      Mehr als zwei Stunden vergingen. Das Lesen hatte der Professor nach einer kurzen Weile aufgegeben. Er trank auch keinen Whisky mehr. Von einer zentralen Stelle aus wurde das Deckenlicht gelöscht. Er saß regungslos, mit offenen Augen, wie in Trance, nur ein wuchtiger Schatten im diffusen Licht der Notbeleuchtung. Botho lag schlafend neben dem Sessel.

      Schließlich begann der Professor, sich wieder zu bewegen. Er erhob sich langsam, griff nach seinem Stock, und ging zu einem kleinen Nebenausgang. Als er die Tür öffnete, drängte sich Botho an ihm vorbei, und verschwand mit langen Sätzen in der Dunkelheit. Tief atmete der Professor die kalte Nachtluft ein. Hier, an der Rückseite des Schlosses, brannten keine Lampen.

      „Botho“, rief er mit gedämpfter Stimme nach einigen Minuten, und sofort war der Airdale an seiner Seite.

      Das Zimmer des Professors war im ersten Stock am Ende des Ganges. Dies war sein Lieblingszimmer, weil die Aussicht nach zwei Seiten ging und er so immer zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Welt hatte. Valerie wohnte gegenüber. Als er langsam den Flur entlangging, blieb der ihm vorauseilende Botho vor einer der Zimmertüren stehen. Der Hund neigte den Kopf, und der Professor sah, wie sich langsam sein Nacken unter dem drahtigen, krausen Haar versteifte. Als er näherkam, hörte auch er, was der Hund schon vor ihm wahrgenommen hatte: einen feinen, hohen Ton, regelmäßig, aber in sich verkürzendem Rhythmus an-und abschwellend. Der Professor war irritiert. Neben dem Hund blieb er stehen, und erst jetzt konnte er hören, dass diese Töne offensichtlich aus dem Zimmer hinter der Tür kamen. Heftiges Atmen war jetzt auszumachen und eine helle Frauenstimme: „Ja, mach‘ schon, komm‘!“ Unvermittelt schwang die Stimme um in stöhnendes Keuchen.

      Einen Moment lang lauschte der Professor, neigte den Kopf, dann machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand, fuhr mit ihr wie ein Blinder tastend über die Sieben aus Messing, die auf der Tür angebracht war, gab dem Hund einen festen Klaps auf den Rücken, und ging in sein Zimmer.

      Botho rollte sich sofort auf seiner Schlafdecke zusammen, während der Professor sich auf den Rand des Bettes setzte und eine Weile vor sich hin grübelte.

      „Seltsam“, sagte er zu sich selber, „irgendetwas ist seltsam“. Er schüttelte den Kopf, seufzte, und begann sich auszukleiden.

      ***

      Er hatte abgeschworen. Das erzählte er Valerie ein halbes Jahr nach dem Beginn ihrer Freundschaft, um, wie er sagte, unklare Verhältnisse zu vermeiden. Von Kindheit auf geplagt von einem unberechenbaren Temperament, das in der Befriedigung wildflackernder Leidenschaften seine Haupttriebfeder hatte, reihte er in seinem Privatleben Katastrophe an Katastrophe. Ohne dauernde, sich bewährende Beziehung zermürbte er sich im hektischen Suchen nach ruhiger Zufriedenheit. Und in den kurzen Besinnungspausen – todmüde am Abend mit dem Whiskyglas in der Hand und zufällig sich im Spiegel erblickend oder aus dem warmen Bett einer Frau in den harten und kalten Autositz flüchtend, um für den kurzen Rest der Nacht doch noch nach Hause zu fahren – schienen ihm aus den zerstörten Menschenschicksalen, die die Akten auf seinem Schreibtisch füllten, ebenso viele Facetten eigenen Ungenügens entgegenzublicken. Er kam sich vor wie ein Blinder, der über verschneite Pfade durch die Berge irrt.

      Kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag lernte er Viola kennen, und wurde von ihr und ihren beiden kleinen Töchtern in eine warme Welt ruhigen Glücks geführt. Da schmolz aller lang verdrängter Groll und Hass, die sich wie Jahresringe um ihn gelegt und ihm die Luft abgedrückt hatten. Die Krusten aus Schmach und Niederlagen brachen auf, und wie erlöst trat er ein in eine neue Welt.

      Viola war achtunddreißig, eine dunkelhaarige Frau von slawisch-schwermütiger Schönheit, die nach zehn Ehejahren ihren amerikanischen Mann durch eine heimtückische Krankheit verloren hatte. Als sie bei Freunden den Professor kennenlernte und seine Einladung annahm, hatte sie keine Liaison im Sinn, was sie ihm bei ihrem zweiten Treffen offen sagte. Trotzdem trafen sie sich wieder. Im Laufe dreier Monate wurden die Abstände zwischen ihren Begegnungen immer kürzer. Violas Töchter vernarrten sich in ihn. Er setzte sich zu ihnen auf den Boden, spielte mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten, und nahm sie in den Arm. Marise war acht, Cora-Lee zehn. Der Professor verlor sein Herz an die beiden, noch bevor er sich in Viola verliebte. Weihnachten kam, sie saßen alle vor dem geschmückten Tannenbaum, und stellten fest, dass sie eine Familie geworden waren.

      Sie heirateten, und lebten zusammen in Violas großer, gemütlicher Wohnung. Zum ersten Mal in seinem Leben genoss der Professor ein langes ungetrübtes Glück. All seine Leidenschaft wandte er nun seiner Familie zu. Zuerst ängstigte ihn diese Ausschließlichkeit, weil sie ihm andere Erfahrungen zu verbieten schien, doch dann begann er, sich ihr mit wachsender Gelassenheit zu ergeben. Viola war finanziell abgesichert, und der Professor war zwar nicht reich, hatte aber durch seine lange Strafverteidigertätigkeit einiges Kapital erworben und in zwei Mietshäuser angelegt, die so viel abwarfen, dass er bequem davon leben konnte. So gab er seine Anwaltskanzlei auf, und widmete sich nur noch Frau und Kindern.

      Ein knappes Jahr später, am 21. Dezember 1988, zerbarst sein Glück. Sie wollten Weihnachten in Florida verbringen. Viola wollte mit den Kindern ein paar Tage vorher nach New York fliegen, um dort die Eltern ihres früheren Mannes zu besuchen. Als der Professor von dem Terroraschlag auf das Pan-Am-Flugzeug über Lockerbie hörte, wollte er zunächst – zum ersten Mal in seinem Leben – eine unumstößliche Tatsache ignorieren. As er den Schmerz schließlich doch an sich heranließ, sprach er mit niemandem darüber. Zunächst blieb er wie mit einem unerwünschten Gast allein mit ihm. Dann legte sich der Schmerz über sein ganzes Denken und Fühlen, er mauerte sich in ihm ein und hütete ihn eifersüchtig wie ein Flagellant seine Geißel.

      Er folgte der Einladung auf einem Plakat in der Stadt, und besuchte einen Vortrag über die astrale Welt. Eine schöne Hoffnung trat wie eine Fata Morgana vor seine leidgeprüfte Seele. Jede Nacht, so lehrte ein sanfter junger Mann in weitgeschnittener Kleidung, gleite die Seele hinüber in die Astralwelt, die unterste der geistigen Ebenen. Mit bestimmter Technik gelänge es, beim Einschlafen nicht das Bewusstsein zu verlieren und es so mit hinüberzunehmen. Die Wahrheit des Gehörten sprang den Professor derart unvermittelt an, als wisse er das alles längst und habe dieses Wissen nur verdrängt.

      Am selben Abend noch machte er den ersten Versuch, völlig übermüdet nach stundenlangem Grübel und Sinnen. Morgens gegen vier wachte er auf, schweißüberströmt, noch angezogen auf dem Bett.

      Auch der zweite Versuch misslang. Vier Wochen später tat sich dann das Tor zur anderen Welt auf. Aber er fand nicht, was er suchte. Der Kontakt zu Viola und den Kindern blieb aus. Er begegnete nur sich selber, seinen Gedanken über Viola, seinen Erinnerungen an die vertrauensvoll sich an ihn schmiegenden Kinder.

      Er löste die Wohnung auf, verkaufte das Mobiliar, übertrug die Verwaltung der beiden Häuser einem jungen Kollegen, vernichtete all seine privaten Unterlagen, und fuhr nach Japan. Zwei Jahre lebte er in einem Zen-Kloster. Karge Kost, wenig Schlaf, das stundenlange Sitzen mit dem Gesicht zur Wand, das Meditieren über ein vom Abt gestelltes Kōan, eines offensichtlich unlogischen Satzes, die mangelnde Kommunikation aufgrund der sprachlichen Probleme – all das hielt er nur aus, weil sein innerer Schmerz noch größer war als jede andere Empfindung. Das Malträtieren des Körpers mit Kälte und Hunger erinnerte ihn an die harte Sporterziehung in der NAPOLA, jener Nazi-Eliteschule, in die ihn sein Vater geschickt hatte, und die in jenen Flakhelferwochen endete, aus denen er körperlich und seelisch fürs Leben gezeichnet hervorgegangen war. Die körperlichen Torturen des Klosterlebens ertrug er leicht, aber das geistige