Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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uns, dachte ich in diesem Moment, wenn Gott das wüsste. Das weiß ich noch. Ich robbte einen halben Tag lang hin zu dem nahen Pappelhain am Rande des Ackers, so langsam, dass mich kein Schütze aus dem Dorf ausmachen konnte. Ich trank aus den öligen Pfützen und aß die kleinwüchsigen Rüben, die die Bauern nach der Ernte in der Erde gelassen hatten. Hinter dem Pappelhain buddelten die übrigen Infanteristen einen Graben, wie Tatteriche schlotternd, einen halben Meter tief, um sich dort zu verstecken. Dann grollte schon wieder der Befehl über ihre verwirrten Köpfe. Wieder anrennen, Pflicht und Vaterland. Sie schnappten auf und rüttelten die Gewehre und tasteten sich ab, ob sie nicht doch schon irgendwo getroffen waren. Ich zweigte ab. Sie liefen kreischend in den Westen, dem Sonnenuntergang entgegen, der sie blendete, ich ging nach Süden. Nach kurzer Zeit hörte ich hinter mir wie die Luft durch hunderte rasende Peitschenschläge zerrissen wurde. Ich drehte mich ein letztes Mal um und sah Rauch aus den Pappeln herausqualmen, wie aus Schornsteinen. Je weiter ich ging, desto leiser wurden die Schreie. Eine Kuh mit zerschossenem Hinterteil sank nicht unweit von mir in die Wiese. Die Bauern hatten all ihr Vieh freigelassen. Das Tier hielt sich noch mit den Vorderbeinen aufrecht, zitterte, dann fiel es zusammen. Die Schweine waren hartnäckiger, noch tagelang streiften sie mit ihren Wunden umher und grunzten zäh, dann versackten auch sie. Nur die Hühner flatterten quietschfidel über die Leichen, schwirrten in die Bäume und gackerten wie echte Kriegsprofiteure. Ich ging weiter und kam in verlassene Dörfer. Ich betrat ein leeres Haus, alles stand noch an seinem Platz, kalter Kaffee auf dem Kocher, Spielsachen verstreut im Salon. Es kam mir so vor, als beträte ich ein Zimmer voller Menschen, doch alle waren unsichtbar, nur ich nicht. Ich ging weiter. Unter den Wäldern zu schlafen wurde zu Gewohnheit. Behutsame Eulen sangen mich in den Schlaf und eifrige Spechte weckten mich an den Morgen. Als ich das erste Mal seit langem einen Menschen sah, griff ich zu meinem eigenen Erschrecken nach meinem Gewehr und rüttelte daran, als ob ich noch eines gehabt hätte. Eine Phantomreaktion. Ich beobachtete ihn. Es war frischer Morgen und man sah die Wasserpartikel in der frühen Luft. Er war Bauer oder Förster und hackte Holz. Ich legte an und sagte: Peng. Dann schlich ich davon und lebte fortan allein. Und hier sitze ich nun und schreibe und male meine Überlegungen auf.« Schmatzend stellte Brockhaus die Schale zurück ans Lager. »Dann haben Sie ja einiges verpasst seitdem. Wann war das?« »Es war die erste Schlacht des Krieges in Belgien, Langemarck bei der Yser, das sagte ich.« »Der Krieg ist aus«, brummte Dachs, drehte sich um und versuchte zu schlafen. Brockhaus belehrte: »Das ist jetzt sieben Jahre her, junger Mann, der Krieg dauerte vier Jahre und ist jetzt schon seit drei Jahren vorüber. Wir haben verloren, der Kaiser wurde abgedankt und die Monarchie gibt es nicht mehr. Die Siegermächte vereinigten die Erde in einem Völkerbund und teilten sie untereinander auf. Alte Länder zerfielen, neue entstanden, selbst die Juden haben jetzt einen eigenen Staat. Die Welt ist zu einem Netz aus Grenzen verwebt und Deutschland blecht. Sie haben einiges verpasst. Wir haben Frieden!« »Es hat einen Krieg gegeben, also wird es wieder einen geben, das ist die Natur der Dinge.« »Sind Sie sich da so sicher?« »Ein Fluss fließt ins Meer, im Meer kondensiert sein Wasser zu einer Wolke und zieht zurück ins Landesinnere, wo er früher oder später zurück in seine Quelle regnet. Der Fluss kann große Kurven schlängeln, lange Wege fluten, breite Bögen schwingen; er kann es verzögern, doch er kann es nicht verhindern. Er wird wieder ins Meer fließen, wieder verdunsten, wieder in den Himmel steigen und wieder herabregnen. Und wir alle sind nur Regentropfen, die wieder und wieder mitgezogen werden. Alles wiederholt sich. Allein ich bin neben das Flussbett gefallen und in eine Tropfsteinhöhle gesickert. Hier fließe ich nicht mehr, hier kondensiere ich nur an der Decke und falle von den Stalaktiten und werde zu Mondmilch. Das alles können Sie lesen, hier auf den Steinen.« Er zeigte auf verschiedene Steine, die dort herumlagen und angeordnet aussahen. »Es ist eine unendliche Geschichte der Vergesslichkeit.« Dann tunkte er den Zweig wieder in die Pfütze und schrieb. »Sie haben tatsächlich alles verpasst«, nuschelte Dachs, mit dem Rücken zugewandt. »Sie haben wirklich gar nichts mitgekriegt.« »Ich weiß genug. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt«, erwiderte der Einsiedler schreibend. Dann legte er den Zweig zur Seite und atmete lange aus. »Das Leben, das Sie meinen, welches mir verborgen bleibt, ist das Öffentliche. Ich schätze meine Privatsphäre.« »Und Ihre Familie?«, fragte Brockhaus. »Wollen Sie nicht wissen wie es Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Ihren Freunden ergangen ist? Wie es ihnen geht?« »Ich weiß, wie es ihnen geht. Es geht ihnen so, wie ich denke, wie es ihnen geht. Ich habe ihre glücklichen Gesichter auf die Steine hier gemalt. Sie sind bei mir und ich bei ihnen.« Dachs wollte nicht so recht einschlafen und stützte sich auf. »Wir suchen Lapislazuli«, sagte er und rieb sich die Augen. »Das ist eine Farbe, nicht wahr?«, vervollständigte der Einsiedler sein Gedächtnis. »Nein, das ist ein Stein. Aber aus diesem Stein gewinnt man eine Farbe: Ultramarin. Das brauchen wir. Man soll es hier in den Höhlen finden können.« »Aber wir befinden uns in der Eifel, wenn ich mich recht irre.« Der Einsiedler schien an einem Mundwinkel zu lächeln. Brockhaus rehabilitierte seinen Verdacht. »Ich habe gelesen, es gäbe auch in der Eifel Fundorte von Lapislazuli-Adern. Wissen Sie, wo die sind?« »Ich verwende keine Farben«, sagte der Einsiedler. »Ich nehme das Wasser hier.« »So!«, sagte Dachs und stand auf. »Kurt, ich denke, das war unser Stichwort. Auf geht‘s – weitersuchen.« »Warte noch«, bändigte ihn Brockhaus. »Ich will mehr erfahren, lass ihn doch noch eine Weile sprechen.« Dachs blies die Backen auf und setzte sich wieder hin. »An was arbeiten Sie gerade?«, wandte sich Brockhaus an den Einsiedler. »Schreiben Sie eine Geschichte?« »Ein Gleichnis, ja«, sagte der Einsiedler. »Können wir es hören?«, fragte Brockhaus. Dachs rieb sich die Stirn. »Natürlich«, kündigte der Einsiedler an. »Ich hole nur eben etwas Dramaturgie, dann erzähle ich.« Er stand auf, ging zu einer kleinen Kiste und holte eine Hand voll Schießpulver heraus. Er setzte sich näher an das Feuer und an seine Gäste, nahm etwas von dem schwarzen Sand aus seiner Handkuhle und warf einen Schrot in das Feuer, so dass es aufwallte, zischte, knackte und Funken spie. »Es ist das Gleichnis des erleuchteten Feuergespenstes«, führte er an, Brockhaus sah in die Glut und öffnete seine Ohren, Dachs gähnte und der Einsiedler begann: »Volk des Feuers, Gespenstervolk, knackende, knisterbärtige Gelbköpfe, das waren sie. Sie waren Licht, sie waren Hitze – nur eines waren sie nicht – dunkel. Darum machten sie die unbekannten Schatten rund um ihre Welt zu Götzen, zu Göttern, die sie bebeteten und sich nach ihren Tänzen richteten, sich ihnen unterordneten und sich selbst und ihr Licht zu Nichtsen verklärten. Und so schrieben und gesetzestexteten es die Priester nieder über die Niederköpfe, und so prusteten es die Bischöfe in den Flammenberg und die müden Feuergespenster ließen ihre faulen Mäuler auf und kauten, schluckten und dauten jeden Schnitz Asche, den sie ihnen hineinwarfen. Beten zu den Schatten, als dass sie Erschaffer, Schützer und Zerstörer sein mögen, auf dass die Hegemonen über die Blindgeborenen herrschen. Bloß dies eine rätsel-frohe Gespenst fraß die Leichenweisheit nicht, sah unter jedem schwarzen Holzscheit nach und wendete jeden gesprungenen Stein um sich selbst ein Bild zu machen. Beständig bewanderte es die springenden Gipfel, schlich von Bergbauch zu Bergrücken, um den Hintergrund der Schatten und ihre Herkunft zu entlarven. Und so schlug eines Tages die Zeit des Handelnden, als es auf einen fliehenden Funken sprang und durch die Hitzemauer in die Außenwelt hineinritt. Herausgestiegen aus der Feuerwelt erblickte das Gespenst zum ersten Mal das Nicht-Licht, sah Figur und Abriss, Gegenstand und Zugehörigkeit, Farbe und Kontrast und zuletzt das Gestirn der Sonne, dem Urfeuer, das Leben über all das All-Das goss. Das Gespenst verstand. Alles andere als Götter sind diese Schatten! Nichts als dunkle Luft, untergebene des Wahren, Illusion, Trabant der Realität. Und es leuchtete. Also sank es zurück in das Loder um es allen Gespenstern zuzutragen, auf dass sie Augen und Ohren haben würden für ihr Winzling-Dasein und Zwergen-Dortsein. Doch die Gespenster waren dummgebildet und Eitel ihres Starrsinns. Sie wollten es zur Überraschung des Gespenstes nicht wissen, sie wollten weiter an die Schatten glauben. Und nicht nur das. Die Fäuste der Hegemonen und Priester und Bischöfe wüteten über des Pestgespenstes Wahnsinn, frostgesprengt sei seine Seele draußen in der bitteren Eiswelt der Schattengötter – und ohnehin stand schon der Gedanke unter Strafregel ihrer Schattenreligion. Und sie befahlen seine Buße und man tat wie ihnen gesagt. Sie schmierten das Gespenst in Ölfilm und unterwarfen es der Brandleisterei. Wasser sieden und Luft saugen sollte es, zu beflissener Geschäftigkeit verdammt, sich krümmen und sich nicht mehr kümmern um diese Trümmerträume. So duckte sich das Gespenst lange Geisterjahre unter den Gewölben der Brandhölzer und Schmelzeisen – bis eines Tages wieder die Zeit des Handelnden schlug, es einen Funken