Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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wissen, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Denn ich mache vielbedurfte Dinge. Darum gehe ich in vielen Ländern ein und aus. Ich habe Termine in Warschau, Königsberg, Riga, Petrograd. Kürzen Sie ab, Herr Prinzipal.«

      »Nun gut«, gab Kinkel nach und beugte sich der Beratung. Er setzte sich, holte ein paar Blätter aus seiner Schreibtischschublade heraus und fächerte sie vor Bobrow auseinander.

      »Wir ließen die Patienten malen«, fing Kinkel an. »Neueste Methoden der Psychoanalyse nach ihrem Essay. Und wie Sie es in Stufe drei beschrieben, ›Die Illusionspräambel: Plastische Zwangsvorstellungen in der Farbenidee‹: Die meisten malten Bäume oder Brüste. Wir konnten sie als Simulanten enttarnen und zurück in den Wehrdienst integrieren. Doch dieser Patient, er malt andere Dinge, fremde Gewalt und abstrakte Brutalität, es ist scheußlich. Herr Doktor Bobrow, sagen Sie mir, ist das Kunst, oder ist das neuronale Perversion?«

      Bobrow betrachte das Tintenwerk. Strichmännchen im Wasserfarbenblutbad, skelettöse Linienführung. Keine Sonne, kein Mond, keine Eltern, weder Bäume noch Brüste. Nur ein Klumpen Unordnung.

      »Nein, Kunst ist das nicht«, brummte Bobrow durch seine Borstenhaare. »Haben Sie keinen Schnaps? Wodka sogar?«

      »Wir haben, wie gesagt, bis auf weiteres komplizierte Kapazitätserscheinungen mit Importware Herr Doktor Bobrow, aber ich kann Ihnen ein Kirschwasser bieten.« Kinkel verneigte sich gastfreundlich.

      »Dann Kirschwasser, Herr Prinzipal.«

      Als sich der Arzt an die Vitrine machte spannte Bobrow kurz zu Grosz herüber.

      »Spinner!«, furzte er leise und wog sich zurück in die quietschende Lehne.

      Er nahm das Glässchen Obstbrand, diese Oase im Alltagsreichtum, und ließ den spärlichen Inhalt in seinen Rachen fallen.

      »Darf ich Ihnen zur Bekömmlichkeit auch eine Zigarre anbieten?«, fragte Kinkel, im Nachhinein zuprostend. Dann schob er ihm eine alte Kiste entgegen.

      »Ich habe meine eigenen«, nuschelte Bobrow in seinen Bart.

      »Was rauchen Sie?«

      »Russisch.«

      »Ich wusste nicht, dass Russland Zigarren produziert.«

      »Russland ist groß.«

      »Ja, nur ist es dort nicht zu kalt für den Tabakanbau?«

      »Sehr groß.«

      »Also, was ist es?«, fragte Kinkel, und zeigte auf Grosz. »Neuronale Zwangsbeschimpfung, schizophrene Konfliktvorstellungen, Dementia paranoides, nicht wahr? Ich meine, pseudomoralisches Verhalten, klaustrophobiale Bewusstseinszustände, paragegenwärtige Trägheit. Und dann diese psychoabnormen Kritzeleien. Papier voller Verwüstung. Lässt dies nicht auf einen homosexuellen Konflikt in der Kindheit schließen, einen muttermordenden väterlichen gar? Wäre nicht Kastration der nächste Schritt? Und – könnte er dann noch dem Soldatenstand funktional hilfreich sein? Ohne Trieb meine ich, als Eunuch. Über welche Geschlechterrolle läge sich dann die Seele? Sie wissen schon, als ›ganzer‹ Mann fallen?«

      »Kastration schließe ich aus«, nickte Bobrow ab.

      Grosz ließ sich an die Stuhllehne sinken. Er war kurz davor aus dem offenen Fenster zu springen, gleich welcher Stock es war.

      »Elektrotherapie?«, fuhr Kinkel fort. »Ich machte auch erhebliche Fortschritte in der Malariatherapie, wissen Sie? Künstliche Infektion. Der fieberinduzierte Schüttelfrost vernichtet befallene Nerven.«

      Grosz bekam finsteren Bauchschmerz.

      »Und die Malaria?«, fragte Bobrow.

      »Die behandeln wir dann mit Quecksilberchlorid.«

      »Na, wenns Ihnen hilft«, sagte Bobrow und klärte auf:

      »Der Junge hat doch keinen Schatten, der ist traumatisiert, Herr Prinzipal. Und bevor Sie wieder fragen, das ist eine nervliche Atrophie des Charakters nach akuter Gegenüberstellung mit der eigenen Mortalität. Völlig normal. Das Individuum ist sozusagen negativ erleuchtet in seiner Existenzialität, oder wie Spinoza es nicht sagen würde, schockiert darüber, wie scheißegal es der Realität doch ist. Die Illusion des Schicksals, ersetzt durch die Möglichkeit des Zufalls, löst sich auf in melancholischer Bedeutungslosigkeit. Ein Gedanke ist nicht krank, nur weil er jenem Verstand, den wir augenblicklich als gesund verstehen, schwer zugänglich ist. Ich glaube nicht an Ihr Konzept der Seelenbehandlung. Ich denke weiter.«

      »Weiter wohin?«, fragte Kinkel.

      »Nun, dieses Gekrakel. Ich nenne es ›das geistige Verbluten‹. Es ist ein heilsamer Prozess, aber natürlich nicht frei von Risiken. Um sicher zu gehen, schlage ich operative Methoden vor, Herr Prinzipal. Direkter Eingriff am Gehirn. Nativkontakt an der Synapse.«

      »Sie meinen dort sitze die Seele?«

      »Die Seele ist ein Begriff der Romanciers und in Wahrheit nicht mehr als eine profane Drüse, drei Finger breit vom Frontallappen entfernt. Ich meine dort sitzt das Denken. Das Denken, das Bilder malt. Das Denken, das Gewehre bedient. Das Denken, das Kaffee kocht. Vergessen Sie das mit der Seele besser schnell wieder. Ich spreche von der Lobotomie, Herr Prinzipal. Sie haben davon gehört?« »Ja, ich hielt es für verfrüht.« »Ganz und gar nicht. Seien Sie mir da mal nicht zu konservativ. In meiner Forschung zu meinem neuen Buch habe ich nach meinen chirurgischen Behandlungen erstaunliche Entwicklungen an den Probanden feststellen können. Eine Art emotionale Veränderung vollzieht sich, Ruhe kehrt in den Patienten ein. Die statistische Unschärfe an erfolgreichen Wiedereintritten in Armeen ist zwar noch nicht ausgespitzt, obschon, lassen Sie mich nur so viel sagen: Mein Buch ist auf einem guten Weg. Sie werden noch davon hören.« »Und wie funktioniert die Lobotomie nun technisch?« Bobrow kramte in seinem Arzneikoffer, holte ein Merkheftchen heraus und schob es über den Tisch auf Kinkel zu. Kinkel las eifrig den Titel: »Aventiure Lobotomie – ein Handbrevier für den Medikus auf der Suche nach dem Nervenkitzel.« Brobrow erklärte das Vorgehen: »Nun, wir denervieren den Probanden indem wir ihm einige Nervenbahnen zwischen dem Stirnlappen und dem Zwischenhirn entfernen. Dann entnehmen wir etwas der grauen Substanz. Aus der Entnahme dieser Substanz erfolgt eine Eindämmung der, Sie nennen es ›Seelenschmerzen‹ aus einem Zentralbereich des Körpers. Der Eingriff wird mal durch die Nebenhöhlen, mal durch die Augenhöhlen unternommen, je nach Physiognomie. Man benötigt die Fertigkeit eines Spezialinvasiven, Herr Prinzipal, Sie bedürfen eines Sachverständigen dieses komplexen Handwerks. Mir.« »Weisen Sie mich ein«, meldete Kinkel. »Ich bin wie gesagt in beratender Funktion zu gegen. Mein Anschlusszug wirft schon die Kohlen ins Feuer, mein Scheck ist sauber, dafür danke ich Ihnen, ich muss los.« »Doch eine Stunde ist noch nicht vorbei, Herr Doktor Bobrow.« »In meinem beschäftigten Leben, da ticken die Uhren anders, Herr Prinzipal. Hören Sie das?« Nur das Ticken von Kinkels Kuckucksuhr war zu hören. »Nein«, sagte Kinkel. »Genau«, sagte Bobrow und nahm seinen Mantel. Kinkel ging um den Tisch und fing ihn an der Tür ab. »Es geht hier nicht um mich, oder um die Reputation der Salpeterbergklinik, oder um den medizinischen Fortschritt als Ganzes. Es geht um den Patienten, Herr Doktor Bobrow, einen Menschen, ich insistiere! Wie soll ich ihm erklären, dass er keine Lobotomie erfahren darf, dass er nicht mehr den Frieden finden darf, wo doch eine Lösung seines Schmerzes so nah wäre? Wie soll ich einem jungen Mann erklären, dass er sich nicht mehr dem Weltgeschehen stellen, nein, dass er sich nicht mehr zurück an die Front einreihen darf? Dass er nicht normal ist!« »Was ist Normalität?«, fragte Brobrow suggestiv. Kinkel spannte die Ohren auf, froh den Spezialisten gefordert zu haben. Dieser spannte das Kreuz und drückte seine Wampe in den Vordergrund. »Normalität als solches ist statistisch nicht nachweisbar. Jeder schlägt dann und wann vom normativen Wert ab und ist als solcher im Ausnahmefall nicht kategorisierbar, oder als gesund oder ungesund messbar. Ich würde Normalität nicht als Maßstab der zivilisatorischen Integrierbarkeit erwägen. Ich würde die Wogen der Zivilisation abwiegen und davon den Einzelwert herausziehen. Theorie und Praxis, Herr Prinzipal. Frieden erfordert Morpheumspritzen, Krieg erfordert Lobotomien. Sie sehen? Und da wir in Kriegszeiten leben ist Lobotomie-Saison. Ich bin verbucht. Wenn sie ihm nicht ins Gehirn schneiden können, lassen sie ihn gehen und seine Bilder malen. Sperren Sie nicht ein, was Sie nicht heilen können. Er ist geisteskrank, aber gesund, in Ihren Augen.« »Warten Sie, werter Herr Kollege«, hastete Kinkel.