Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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bedienen sich verschiedenster Gesichtsausdrücke, auf verschiedenste Arten interpretierbar. Hier die anwaltliche Interpretation: Zweie lachen sich gegenseitig zu, ein anderer schmollt, der nächste notiert bedächtig, ein anderer sitzt dort wie Kinopublikum und raucht Zigarre, der nächste bewacht die Türe, und ein anderer Arzt hält die Krankenakte sichtlich erstaunt. Die Bildunterschrift lautet: ›Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.‹ Garstige Ironie. Alles in allem ist die Situation eine Lächerliche. Unsere anwaltliche Rechtsauffassung hat hier einen tiefen Einschnitt in die Standards unserer Staats- und Spitalräson sowie unseren pharmazeutischen Fortschritt identifiziert. Zu den Euren, euer Ehren.« »Sterben Soldaten nicht?«, fragte der werte Richter. Der Staatsanwalt zog die Nase kraus und dann das dritte Blatt hervor. »Beweisstück Nummer drei: Zwei durchaus als unsympathisch hervorgehobene Geschäftsleute, oder Handelsmänner, speisen bei durchaus imposantem Mahl, während vor ihnen scheinbar unschuldige Menschen von Soldaten mit deren Bajonetten zerstochen werden. Und überhaupt, es sieht dabei ganz so aus, als hätten die Soldaten Spaß dabei, Menschen zu schlachten. Als schenke es ihnen Freude Menschen zu zerstechen und ihre Pistolen zu ziehen. Sehen Sie es sich an. Widerlich. Ekelhaft. Euer Ehren, dies ist nichts anderes als ein eklatanter Angriff auf die Reichswehrmoral, ein Skandal. Eine Grabschändung der ehrbaren Opfer des Krieges. Ja, Sie, Georg Großklein, da haben Sie es. Und es ist ja nicht einmal anatomisch korrekt ausgeführt, euer Ehren, die Perspektive ist ja ganz prekär, euer Ehren, zu den Euren.« Der werte Richter suchte nach einer weisen, salomonischen Gegenfrage, da hob der Staatsanwalt das nächste Blatt und wurde selbstbewusster. »Das Profil eines spastisch behinderten Soldaten! Meine Damen und Herren, euer Ehren. Das Bild eines spastisch behinderten Soldaten! Ja!« Der Staatsanwalt spuckte theatralisches Feuer in den Saal: »Unsere Staatsgewalt, unsere Staatsmacht, unser Staatsstolz, unser Staatssein, unser Staat…«, er verlor an Atemluft und hustete, sein nächster Staat war ihm entfallen. »Können Sie denn beweisen, dass es sich hier um einen Spasmus handelt, Herr Staatsanwalt?«, fragte der werte Richter. Herzfelde nutzte die Schweigesekunde, hob abermals die Faust und lancierte den Staatsbegriffsmissbrauch: »Unser Staat, euer Staat, unser aller Staat, doch ohne Gewalt, ohne Macht, ohne Stolz, ohne Sein, keinem eigen! Jeder Staat, jede Gewalt, jede Macht, jedwedes Stolz, zusammen, jedem eigen! Das ist die nächste Welt. Nicht die Welt die uns wieder in Gewalt stürzt. Nicht die Welt die uns wieder, und wieder stürzt! Versteht ihr denn nicht den guten Gedanken?« »Himmel, Hintern, Zwirn, Herr Herzfeld, konzentrieren Sie sich endlich! Hinsetzen!«, rief der werte Richter, alteriert über die Undiszipliniertheit dieses jungen Dränglers. Herzfelde blieb stehen. Grosz kontrahierte auf den springenden Punkt: »Was an diesen Zeichnungen ist mir nun exakt und ausführlich vorzuwerfen, und wenn ja, warum und inwiefern betrifft dies meinen Verleger, Wieland Herzfelde?« Der Staatsanwalt schäumte, der werte Richter knickte ihn ab und tat, was er am liebsten tat, er kam zum Abschluss: »Genug gehört, genug gesehen. Strichmännchen, die wie Generäle aussehen, jucken die Ankläger, Generäle jucken die Angeklagten. Ähem. Waagschale hin, Waagschale her, Justizia entscheidet. Herr Groß, stehen Sie auf. Herr Herzfeld, auf sie kommen wir gleich zu sprechen, setzen Sie sich jetzt hin, verdammt noch mal. Ungeheuerlich!« Herzfelde blieb stehen. »Herr Groß, Ihre Erklärung an die Ankläger. Was haben Sie sich nur bei dieser Schandkleckserei gedacht? Das ist doch keine Kunst.« Grosz hob seine Vortragshand. »Was ist denn Kunst, Euer Ehren? Ich verarbeite nur meinen Eindruck, nichts weiter als das. Sehen Sie: Wenn der Bauer dem Schaf das Gras zu fressen gibt, dann will er nicht das wiedergekäute Gras zurück. Er will die Milch, die Wolle und das Fleisch, und endlich Käse und Pullover und Braten. So ist es auch mit mir. Ich nehme auf und gebe ab, das ist mein menschlichstes Tun. Ich gebe in einer Form ab, was ich in einer anderen Form aufnehme. Ich esse – und ich scheiße!« »Ja, und das alles ist Scheiße! Da haben Sie’s gesagt!«, echauffierte sich nun erstmals der zweite Staatsanwalt und kippte mit seinem Stuhl nach vorn, als hätte die Debatte nun endlich sein Niveau erreicht. »Nichts als Scheiße!«, schrie er inbrünstig, »ein Fiasko!« Satanisch erhob er die offene Hand zur Backpfeife. Justizia musste sich schon fast die Ohren zuhalten. »O ja«, stimmte ihm Grosz zu, »alles was der Körper aufnimmt, verdaut er und stößt es los. Das ist die Tugend des Schaffenden. Der Schaffende kann nicht anders als zu schaffen – das ist körperliche Notwendigkeit. Nichts anderes als körperliche Notwendigkeit. Und wenn ich Schimmel und Pilz und Knochen und Gräte essen muss – dann scheiße ich Scherben. Und wenn es stinkt, dann ist es nicht mein Körper, sondern es sind die Gase dieser schimmligen Gräten und dieser knöcherigen Pilze die ich zurückstoßen muss. So sucht sich der Maler stets eine schöne Landschaft zum Malen, denn sie bringt gesunden, festen Stuhl hervor. O, du friedlebender Landschaftsmaler. Ja, der Ästhet, er scheißt lang und gern, denn guter Stuhl ist die Vollendung eines wahrhaftigen Mahles, des ernsten Malens. Doch eure Welt gibt mir keine ruhige Landschaft und lachende Bäume und herzliche Grashügel. Eure Welt gibt mir nur Scheiße zum Sujet, und so esse ich, und so male ich. Ich kann nun mal nichts anderes verdauen als meinen Einfluss. Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd. Doch jetzt genug – Sie haben mich schon verstanden. Ich plädiere auf Unschuld.« Die Staatsanwälte schüttelten die Köpfe wie ungläubige Katholiken. Der Richter klopfte seinen Hammer zum abermaligsten Male auf die Platte, es rumorte schon wieder. Er erhob sich erhaben und gelobte seiner Entourage mit prophetengleicher Geste ihm gleich zu tun. Das Gefolge folgte ihm, die Urteilsverkündung war also gekommen. Schluss mit dem Vabanquespiel dieser zwei Rotzlöffel. Er öffnete den Käfig hinter sich und ein Lichtstrahl schoss aus ihm heraus und erbrach sich über den Tross. Justizia höchstpersönlich stieg dort heraus und wuchs über die gespannten Kläger und Beklagten hinaus. Mit ihren vier Metern Körperhöhe streiften ihre elektrisch geladenen Seidenhaare die Saaldecke. Die Augen, das Organ des Erkennens, verbunden – so sollte sie nun das Urteil fällen. Nur mit den Ohren, dem Organ der Furcht, und einem Riecher, dem Organ der Verführung, zur Verfügung. Eine rostige Krämerwaage in der einen Hand, welche Tat mit Strafe aufwiegt; und ein Schwert in der anderen, welches die abgemessene Rache ausführt. So stand sie da, blind, mit dem Rücken zum Geschehen. »Justizia!«, rief Herzfelde. »Hier sind wir!«, rief Grosz. »Pssst!«, zischte der Staatsanwalt. Justizia drehte sich um und stieß sich ihren Kopf am Kronleuchter, ihr seidenes Haar verfing sich in den Glasketten, so dass die Gerichtsdiener eine Leiter hereinbrachten um das Missgeschick zu entwirren. Während sie noch beim entfädeln waren, richtete Justizia ihr Schwert zum Schuldspruch an die Fensterfront. Die Gäste sprangen auf und lachten. Arme Justizia, dachte Grosz. Ihr werden Werte in die Waagschalen gelegt bis den Handelsmännern ihr Geschäft billig ist. Gleich welchem System sie nun dienen soll, die arme Madame der Gerechtigkeit, man verbindet ihr die Augen, dreht sie fünfmal im Kreis und ruft ihr zu: Blinde Kuh! Blinde Kuh! Blinde Kuh! Finde das Salzkorn in der Suppe! Die Gerichtsdiener geleiteten die Schwertspitze vor seine freche Nasenspitze. Die alte, dürre Geisterfrau öffnete ihren Mund, und der Geruch von Jahrhunderte altem Schweigen miefte durch den Saal und drang in das modrige Möbelholz der Bänke und Altare, wo schon viele Generationen Juristen Platz genommen hatten und die Asche ihrer Traditionen weitergaben. »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren«, kommentierte Herzfelde unbeeindruckt. Justizia öffnete ihr Sprachrohr. Die Spinnweben in ihrem mit Flechten bewachsenen Kiefer bogen sich wie Segel und die Spinnen verkrochen sich in ihre Zahnlücken. Der Wind blies Grosz durchs Haar, der Papierkram verflog in kleinen Wirbelstürmen. Der Bass ihrer tiefen, alten Stimme ließ den Boden krächzen und knarzen. »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Unheil, bitte, Urteil, danke. Georg Groß. Schuldig im Sinne der Anklage in zweierlei Punkten: Rufmorden der Reichswehr und Angriff auf die öffentliche Moral. Sein Opfer füge die Teile wieder zusammen, sein Blut fülle die Brunnen wieder auf. Das macht auf Deutsch dreihundert Reichsmark. Wieland Herzfeld, Kopf der Organisation des kommunistischen Verlages Malik und der kriminellen Energie eines Wolfsrudelführers. Sein Opfer verschließe die Wunden unschuldiger Kinderseelen, sein Blut fließe aus den Wasserhähnen aller Betroffenen. Das macht auf Deutsch sechshundert Reichsmark.« Dann sperrten die Gerichtsdiener Justizia zurück in den Käfig. Die Renegaten blieben still und angemessen, hoben ihre Trenchcoats von den Stuhllehnen, setzten sich die Hüte auf und verließen das Spannungsfeld. Die Unwirklichkeit der flachen Systemiker unterrichtet einen mit tiefen Schlägen. Was soll man schon anderes tun als die Grobdenker zu erdulden. Ohne Grußworte beeilten sie sich durch die großen Türen und stolzierten, mit ihrem Rudel im Rücken, die Treppen des Gerichtsgebäudes hinab. Herzfelde drehte sich um rief ihnen zu: »Genug! Die Obergockel haben genug gegackert und Schlaumeier gelegt und sich die Kämme wund gekämmt, lassen