Andreas Loos Hermann

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Jahren gab es hier noch Supermärkte, aber inzwischen sind die alle weg. Du hast ja gesehen, wie es hier in der Gegend aussieht. Jetzt sind wir sozusagen Selbstversorger. Trupps organisieren das Essen, meistens Konserven. Und das Gemüse bauen wir selbst an, da hinter den Ruinen gibt es jede Menge Platz. Wenn man den Schutt wegräumt, ist darunter sogar gute Erde“.

      „Das reicht natürlich nicht für alle, das Gemüse ist viel zu wenig, aber wer übrigbleibt, muss entweder kämpfen, oder weiterziehen, in ein anderes Slumgebiet.“ „Sonst kann es auch sein, dass er in der Konservenfabrik endet, aber ganz sicher nicht als Arbeiter “, grinste Mike.

      Er griff in die Tasche und zog eine kleine runde Dose hervor. „Hier ist eine Spezialität. Turkeybrust in Soja und in Gelee steht da drauf. Ich schenke sie dir.“

      Hungrig griff Clara nach der Dose und mühte sich mit dem Deckel ab. Sie hatte in ihrem Leben noch nie so eine Dose in der Hand gehabt. Susy half ihr dabei.

      Clara zuckte zurück, als sie den Inhalt sah. Eine graue verdickte Masse, die nach Chemiefabrik stank. Ihr Hunger war mit einem Schlag vergangen. Susy, die ihr Zögern bemerkte, fuhr sie an: „Verwöhnte Göre, am Land ist das Essen wohl noch zu gut, aber in der Stadt gibt es nichts Besseres. Wenn du es nicht willst, gibt her.“ Sie riss ihr die Dose aus der Hand und begann sich gierig über den Inhalt herzumachen. Solange bis ihr Bruder ihr die Dose wegnahm und den Rest verdrückte. Die Geschwister sahen Clara abschätzig an und Mike meinte: „Du hast noch nie richtig Hunger gehabt, aber das wird schon noch kommen.“

      Clara kämpfte mit den aufsteigenden Tränen, denn die Worte von Susy und Mike hatten sie tiefer getroffen, als sie sich eingestehen wollte.

      „Ich wollte euch doch nicht beleidigen, ich kann ja nichts dafür, dass ich nicht von diesen Dosen leben muss. Wie könnt ihr das essen. Was soll ich denn machen?“ Ihre Tränen waren jetzt echt.

      „Jetzt musst du aber davon leben“, erklärte Susy unbarmherzig. Jetzt bist du in der Stadt, da gibt es nicht viel anderes, nur Dinge, die noch schlimmer sind.

      „Warum geht ihr dann nicht aufs Land?“, wollte Clara wissen.

      „Du Dummerchen, das musst du doch wissen, wenn du von dort bist, dass sie da niemandem willkommen heißen. Die Bürgerwehren schießen jeden nieder, bevor er sie nur nach dem Weg fragen kann, das weiß doch jeder in der Stadt. Hier gibt es keinen Ausgang für uns. Du warst dumm genug, herzukommen, jetzt sieh´ zu, dass du überlebst.“

      Clara war am Boden zerstört, denn wenn sie verriet, wo sie wirklich herkam, wäre sie bald tot. Sie sah Mike an, der eigentlich sehr gut aussah. Dann nahm sie allen Mut zusammen und fragte: „Warum schlagt ihr euch nicht in die innere City durch, da gäbe es doch sicher mehr zu holen, als hier heraußen?“

      Mike sah sie mitleidig an und erwiderte: „Du bist wirklich vom Land und hast keine Ahnung Kleines. Aber du bist süß, so zerrissen und verdreckt, wie du jetzt aussiehst.“

      Clara sah an sich hinab und bemerkte erst jetzt ihre verdreckten Jeans und ihre zerrissene Bluse und das Mike mehr von ihrer Brust sehen konnte, als sie ihm zugestanden hätte.

      Mike fuhr fort: „Die Leute in der City haben sich hinter meterhohen Betonmauern und Stacheldraht verschanzt. Der Draht ist elektrisch geladen und an den Wachtürmen sind Scharfschützen mit Schnellfeuerwaffen. Die lassen niemanden übrig, der dieser Mauer zu nahekommt.“

      Da fiel Clara ihr implantierter Mikrochip ein. Sie erschrak, ließ sich aber nichts anmerken, denn wenn Suzy von dem Chip erfuhr, dann konnten die hier womöglich ihre wahre Identität erkennen. Sicher gab es hier auch Lesegeräte. Sie musste das herausbekommen.

      Doch Mike redete unbekümmert weiter, er schien den Panikanfall von Clara nicht bemerkt zu haben: „Und selbst wenn du in der Nacht über die Mauer kommst, bist du drinnen deines Lebens nicht sicher, denn die haben dort überall Kontrollposten, hat mir ein guter Freund erzählt, wo sie die Leute elektronisch kontrollieren können, und wer keine gültige Aufenthaltsberechtigung hat, wird sofort am Kontrollposten erschossen, hat er mir erzählt, und ich glaube ihm das auch. Und so einen digitalen Pass geben sie uns hier in East End natürlich nicht. Wir sind für die da drinnen bloß ein Sicherheitsrisiko.“

      Clara jubilierte innerlich, denn Mike hatte gesagt, die Posten gäbe es nur in der City. Dann war sie hier sicher vor Entdeckung, da hier keiner ihren Chip lesen konnte.

      Gleichzeitig war das ihre Rettung, denn wenn Sie es schaffen könnte, bis zu einem Lesegerät zu kommen, dann wäre sie gerettet, dann könnte sie eindeutig identifiziert werden und man würde sie nach Hause bringen. Und jede Strafe von zu Hause wäre ein Klacks gegen das, was ihr hier in den Slums von East London bevorstand. Die hier hatten anscheinend alle keine Chips, deshalb waren sie die Outlaws und für die Regierung nicht existent. Nur, wie sollte sie das anstellen, um über die Mauer zu kommen?

      Kapitel 11

      Wieder brach ein Abend über Köln herein und Dr. Reisinger saß in einem Innenstadtlokal beim Abendessen. Als Single hatte er kein Interesse, den Abend alleine zu Hause zu verbringen. Er bevorzugte die Italienische Küche und ließ sich gerade ein Glas besten Baudolino vom Kellner einschenken, als die Tür des Lokals aufging und ein guter Bekannter den Raum betrat. „Zufälle gibt es, die können keine Zufälle sein“, dachte sich Reisinger.

      Der Bekannte kam an seinen Tisch und benahm sich wie ein Fremder. Sicher ist sicher, dachte er. Er fragte ganz belanglos, ob es recht sei, wenn er bei ihm Platz nehme, da alle anderen Tische reserviert waren. Reisinger nickte und meinte beiläufig: „Aber natürlich, setzen Sie sich nur, das Lokal wird noch sehr voll werden.“

      Der Bekannte nahm Platz und beide taten so, wie wenn sie sich nicht kennen würden, und hier nur ein wenig auf Konversation machten, aber der Bekannte war in Wahrheit der Antiquariar von der Goethestraße, den Reisinger wegen Professor Fowey hatte aufsuchen wollen.

      Die beiden sprachen vorerst kaum miteinander. Erst als sich das Lokal gefüllt hatte und ein kräftiges Stimmengewirr den Raum erfüllte, begann ihre leise Unterhaltung. Reisinger erzählte von seinen heutigen Erlebnissen mit der Behörde und wie er nach der verbotenen Abfrage ausgehorcht worden war.

      Thomas Brunner, der sein Antiquariat seit vielen Jahren führte, war um die Fünfzig und lebte ebenfalls allein. Seine Frau war vor vielen Jahren gestorben. Sie hatte den Lehrstuhl für Germanistik an der UNI Köln innegehabt. In Brunners Antiquariat gab es daher Dinge, die es wo anders nicht oder nicht mehr gab. Brunner hatte einen Keller in der Kölner Innenstadt unter falschem Namen gemietet, wo sich Dinge befanden, die es längst nicht mehr geben durfte, wäre alles nach dem Willen der EU Behörden gegangen. Aber Brunner hatte geheime Quellen und kannte Leute, die man offiziell besser nicht kannte.

      Reisinger sprach Brunner auf Professor Fowey an. Bei ihm konnte er sich darauf verlassen, dass nichts verraten wurde. Er hatte Angelika, Brunners Frau, gut gekannt. Sie war immer unabhängig gewesen und das Amt für Datenschutz, die allwissende Kontrollbehörde, hatte ihr nie etwas nachweisen können.

      Brunners Stimmer wurde noch leiser, als er zu erzählen anfing. Reisinger hatte Mühe, ihn überhaupt zu verstehen.

      „Fowey, den Namen kenne ich, das war so ein Spinner aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der in England gelebt hat und der behauptet hat, dass Energie aus dem Vakuum geschöpft werden könne und dass daher die Energievorräte der Menschheit unendlich wären. Er wollte immer eine Maschine bauen, mit der er das beweisen könne. Es gelang ihm aber nie. Sein Labor mit allen Forschungsergebnissen brannte ab und er musste außer Landes flüchten. Es gab hunderte Artikel und freie Internetseiten über ihn, als das Internet noch frei war. Das ist jetzt alles längst verschwunden. Aber ich denke, im unteren Keller habe ich sicher noch ein paar Datenträger über ihn. Man müsste sie nur suchen, da die Ordnung dort unten nicht die beste ist.“

      „Könnte dieser Professor Fowey eigentlich nicht auch Recht gehabt haben?“, fragte Reisinger leise.

      „Kaum, denn wozu wären dann die Ölkriege nötig gewesen. Dann hätten wir doch alle Energie in Fülle und müssten uns nicht