Ole R. Börgdahl

Ströme meines Ozeans


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der jetzt mit seinem Boot sogar schon auf dem Weg nach Australien sein soll. Für Victors gemeine Flunkerei habe ich aber eine Entschädigung erhalten. Auf den Marquesas beherrschen die Insulaner ebenfalls die Kunst des Monoimachens und Victor hat mir ein paar erlesene Fläschchen mitgebracht. Es riecht etwas anders, als das Öl, das ich in Papeete zu kaufen gewohnt bin. Jetzt habe ich wenigstens ein paar unterschiedliche Düfte. Victor war die ganze Zeit auf Nuku Hiva, wo er auch das Monoi gekauft hat. Ich kenne die Insel Nuku Hiva ja aus einer der Geschichten von Melville.

      Papeete, 1. Juli 1896

      Mutter lässt mich am Leben in Europa teilhaben. In der aktuellen Post schickt sie mir wieder eine Zeitung, diesmal aber nicht aus aktuellem Anlass, sondern einfach nur so. Es ist ein neues englisches Blatt. Die Daily Mail ist in den vergangenen Wochen für Mutter zu dem geworden, was für Vater die Times ist. Mutter fand die Times schon immer langweilig, zu ausführlich, zu politisch. Die Daily Mail lässt sich leichter lesen, was auch ich recht angenehm finde. Mutter verspricht mir, in ihren nächsten Briefen immer wieder einmal eine Ausgabe beizulegen. Ich werde natürlich alles sammeln, was mich bisher und künftig in dieser Abgeschiedenheit erreicht. Es gibt aber auch Nachrichten, die nicht allein durch eine Zeitung oder ein Magazin zu uns dringen, denn ganz so abgeschnitten von der Welt sind wir hier dann doch nicht. Eine dieser Nachrichten hätte ich aber am liebsten gar nicht gehört. Es betrifft eine verheerende Flutkatastrophe, die sich an der Küste Japans ereignet hat. Stürme oder Überschwemmungen kommen sicherlich immer wieder einmal vor, aber diesmal soll es mehrere Tausend Opfer gegeben haben, Tote und Verletzte. Japan liegt so unvorstellbar weit von uns entfernt, aber mein Atlas zeigt, dass uns derselbe Ozean verbindet.

      Papeete, 17. Juli 1896

      In einem chinesischen Laden habe ich zwei Stoffpuppen gekauft. Ich wollte eine Rote und eine Gelbe nehmen, dann habe ich doch lieber zwei rote genommen, damit sie völlig gleich sind. Thérèse und Julie hatten bislang noch keine Puppen, sie haben immer mit ihren Deckchen geschmust. Die Puppen wurden herzlich aufgenommen, als wenn die beiden nur auf solch ein Spielzeug gewartet hätten. Mit der Farbe hätte ich mir aber keine Gedanken machen müssen, es gab trotzdem Streit, weil Thérèse irgendwann die Puppe haben wollte, die sich Julie zuvor ausgesucht hatte. Julie war ganz verdutzt. Es gab ein bisschen Gekreische, aber es war schnell vorüber, weil die Mädchen irgendwann wohl nicht mehr wussten, welches wessen Puppe war. Ich könnte es jetzt auch gar nicht mehr unterscheiden.

      Papeete, 3. August 1896

      Ich bin schon länger als ein Jahr hier in Polynesien und ich habe noch nicht einmal über den Tellerrand geschaut. Mit diesem Tellerrand meine ich Tahiti. Natürlich weiß ich von Moorea, es ist ja vom Hafen aus nicht zu übersehen, aber ich meine mehr die anderen, ferneren Inseln, die auch zu unserem Protektorat gehören. Der Hafenkapitän hat mir Einblick in seine Seekarten gegeben und mir alles gezeigt. Ich habe sogar eine Karte mitnehmen dürfen, aus der ich jetzt zitieren kann. Moorea und Tahiti sind natürlich die größten der Inseln. Im Nordwesten liegt dann eine Inselgruppe, die gut hundert Seemeilen von uns entfernt beginnt, Huahine, Tahaa, Raiatea und Bora Bora. An diesen Inseln bin ich sogar schon einmal vorbeigefahren, ohne sie aber gesehen zu haben. Um einiges näher an Tahiti, dafür aber ganz einsam und klein, liegen die Inseln Tetiaroa im Norden und Maiao Iti im Westen. Dann gibt es noch Mehetia im Osten, Makatea im Nordosten und Tupai und Maupiti die beide in südwestlicher Richtung liegen und die weit über hundert Seemeilen von uns entfernt sind. Aber das ist noch nicht alles. Es gibt im Nordosten noch einen ganzen Archipel kleiner und kleinster Inseln, das Tuamotu-Archipel. Die Inseln des Tuamotu-Archipels erstrecken sich über eine Distanz von tausend Seemeilen. Auf der Karte sind es lauter kleine Punkte. Über dem Tuamotu-Archipel öffnet sich dann der Ozean, aber nach gut siebenhundert Seemeilen kommen dann die Marquesas-Inseln. Hiva Oa und das mir schon bekannte Nuku Hiva sind die Größten. Ich überblickte noch einmal die Seekarte und denke, dass alles Wichtige erwähnt ist.

      Papeete, 20. August 1896

      Anne hat zum zweiten Mal geschrieben. Sie schwärmt noch immer von ihrem Liebhaber. Sie erwartet es nicht mehr, dass dieser Mann seine Familie verlässt, sie will nur, dass er bei ihr bleibt, auch wenn sie ihn mit einer anderen Frau teilen muss. Anne ist blind, sie war schon vor zwei Jahren blind. Ich werde ihr raten, Abstand zu gewinnen, dann wird auch ihre Leidenschaft schwinden und sie kann die Angelegenheit ohne jede Schwärmerei überdenken.

      Papeete, 12. September 1896

      Gouverneur Gallet ist schon seit ein paar Wochen im Amt, ich bin ihm aber erst gestern zum ersten Mal begegnet. Es war allerdings nur eine flüchtige Begegnung. Ich wurde ihm zwar vorgestellt, wir haben dann aber nicht weiter miteinander gesprochen. Sein Vorgänger Monsieur Papinaud ist schon lange aus Tahiti fort und wird wohl irgendwo anders mit neuen diplomatischen Aufgaben betraut worden sein.

      Papeete, 25. September 1896

      Die Jérôme ist ein kleiner aber hochseetüchtiger Schoner und sie ist ein französisches Marineschiff mit einer Besatzung von zwanzig Matrosen, fünf Deckoffizieren und drei Offizieren einschließlich des Kapitäns. Die Jérôme ist erst seit sechs Monaten in Papeete stationiert und sie ist für die kleinen Fahrten zwischen den Kommandanturen zuständig. Victor ist damit der Vorgesetzte der Jérôme und ihrer Besatzung. Die Geschäfte haben ihn in dieser Woche nach Moorea geführt und ich durfte mitkommen. Es waren nur kleine Geschäfte und so hat sich Victor noch drei Tage freigenommen, die wir auf Moorea verbracht haben. Die Kinder sind zu Hause geblieben, und auch wenn ich sie schon nach wenigen Stunden vermisst habe, war es doch sehr angenehm so. Auf Moorea verfolgt uns nicht die Hektik Papeetes, es war ein richtiger Urlaub. Die Strände sind wunderschön, kleine Buchten gesäumt von grünen Hügeln. An einem Tag sind wir mit einer Kutsche in die Berge gefahren und haben grandiose Aussichtspunkte besucht. Mein frischer Eindruck verleitet mich, zu behaupten, das Moorea noch schöner ist als Tahiti. Heute Morgen hat uns die Jérôme wieder abgeholt. Das nächste Mal möchte ich länger bleiben und auch die Kinder mitnehmen.

      Papeete, 3. Oktober 1896

      Die große Flut in Japan ist schon ein Vierteljahr her und fast schon wieder vergessen. Jetzt erreicht uns dazu aber die Septemberausgabe des National Geographic Magazines. Victor hat sie mit nach Hause gebracht. In dem Magazin ist ein ausführlicher Artikel über die Katastrophe enthalten. Es war gar keine richtige Flut, wie sie von einem Sturm oder Orkan hervorgerufen wird. Der Auslöser für die Überschwemmungen soll ein Erdbeben gewesen sein. Es ist nicht so leicht zu verstehen, aber wenn unter dem Ozean die Erde bebt, dann kann sich der Meeresboden absenken und das Wasser im Ozean erhält einen Ruck, eine gewaltige Bewegung. Unter Wasser merken die Fische wohl kaum etwas davon, aber an der Wasseroberfläche entsteht eine Welle. Diese Welle hat sich bis an die japanische Küste fortgepflanzt und hat dort zur Flutkatastrophe geführt. Das National Geographic Magazine hat mir dann aber vollends Angst gemacht, denn die Welle kann sich über viele Hundert Kilometer fortpflanzen. Welche Richtung sie dabei nimmt, ist nicht vorhersagbar. Auf meinem Atlas habe ich mir unsere Lage, unseren Standort in dem riesigen Ozean angeschaut. Ich frage mich, was eine solche Welle davon abhält, statt in Richtung der japanischen Küste, auf uns zuzurollen. Ich wage es gar nicht, in der Kolonie jemanden zu fragen, ob sich ein solcher Vorfall schon einmal ereignet hat. Was würde dies für Tahiti bedeuten, für Papeete. Ich zitiere das Magazin nur widerwillig, aber in Japan wurden fast zehntausend Häuser und ebenso viele Fischerboote zerstört und dazu noch Hunderte von Dampfschiffen und Segelschiffen jeder Größe versenkt. An die vielen Tausend Todesopfer, unter denen auch ein französischer Missionar gewesen sein soll, mag ich gar nicht denken. Tahiti hätte sicherlich weit weniger Opfer, schon deshalb, weil hier nicht so viele Menschen leben, was aber nicht beruhigt, wenn Victor oder ich selbst unter diesen Opfern sein könnten.

      Papeete, 17. Oktober 1896

      Es gab in diesem Jahr schon mehrere Briefe von Colonel Dubois, der Letzte macht mich nachdenklich. Victor hat mir wie immer vorgelesen. In Frankreich weitet sich die Stimmung gegen die Juden auch