Stefan Zweig

Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam


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und Rationalisierung: einer jener typischen Augenblicke tritt ein, da die Menschheit gleichsam von ihrer eigenen Leistung überrannt wird und alle Kraft aufbieten muß, um sich selber wieder nachzukommen.

      Alle Zonen menschlicher Ordnung werden von diesem ungeheuren Stoß erschüttert, selbst jene unterste Schicht des Seelenreichs ist um diese großartige Jahrhundert- und Weltenwende erreicht, die sonst unberührt unter den Zeitstürmen liegt: das Religiöse. Von der katholischen Kirche in starre Form gebannt, hatte das Dogma wie ein Fels unverrückbar allen Orkanen standgehalten, und dieser große, gläubige Gehorsam war gleichsam das Signum des Mittelalters gewesen. Oben stand ehern die Autorität und gebot, von unten blickte, gläubig hingegeben, die Menschheit dem heiligen Wort entgegen, kein Zweifel wagte sich gegen die geistliche Wahrheit, und wo Widerstand sich rührte, offenbarte die Kirche ihre Verteidigungskraft: der Bannstrahl zerbrach das Schwert der Kaiser und erstickte den Atem der Ketzer. Völker, Stämme, Rassen und Klassen, so fremd und feindlich sie einander waren, verband dieser einhellige, demütige Gehorsam, dieser blind und selig dienende Glaube zu einer großartigen Gemeinschaft: im Mittelalter hatte die abendländische Menschheit nur eine einheitliche Seele, die katholische. Europa ruhte im Schoße der Kirche, manchmal von mystischen Träumen bewegt und erregt, aber es ruhte, und jeder Wunsch nach Wahrheit und Wissenschaft war ihm fremd. Jetzt zum erstenmal beginnt eine Unruhe die abendländische Seele zu bewegen: seit die Geheimnisse der Erde ergründbar geworden sind, warum sollte es nicht auch das Göttliche sein? Allmählich erheben sich einzelne von den Knien, auf denen sie gesenkten Hauptes demütig gelegen, und blicken fragend empor, statt der Demut beseelt sie ein neuer Denkmut und Fragemut, und neben den kühnen Abenteurern unbekannter Meere, neben den Kolumbus, Pizarro, Magalhães ersteht ein Geschlecht geistiger Konquistadoren, die sich entschlossen an das Unermeßliche wagen. Die religiöse Gewalt, die jahrhundertelang im Dogma verschlossen war wie in einer versiegelten Flasche, strömt ätherisch aus, sie dringt aus den priesterlichen Konzilen bis in die Tiefe des Volks; auch in dieser letzten Sphäre will die Welt sich erneuern und verändern. Dank seinem siegreich erprobten Selbstvertrauen empfindet sich der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts nicht mehr als winziges, willenloses Staubkorn, das nach dem Tau der göttlichen Gnade dürstet, sondern als Mittelpunkt des Geschehens, als Kraftträger der Welt; Demut und Düsternis schlagen plötzlich um in Selbstgefühl, dessen sinnlichsten und unvergänglichen Machtrausch wir mit dem Worte Renaissance umfassen, und neben den geistlichen Lehrer tritt gleichberechtigt der geistige, neben die Kirche die Wissenschaft. Auch hier ist eine höchste Autorität gebrochen oder zumindest ins Wanken gebracht, die demütig stumme Menschheit des Mittelalters ist zu Ende, eine neue beginnt, die mit gleich religiöser Inbrunst fragt und forscht, wie die frühere geglaubt und gebetet. Aus den Klöstern wandert der Wissensdrang in die Universitäten, die fast gleichzeitig in allen Ländern Europas erstehen, Trutzburgen der freien Forschung. Raum ist geschaffen für den Dichter, den Denker, den Philosophen, für die Künder und Erforscher aller Geheimnisse der menschlichen Seele, in andere Formen gießt der Geist seine Kraft; der Humanismus versucht, das Göttliche ohne geistliche Vermittlung den Menschen zurückzugeben, und schon erhebt sich, vereinzelt zuerst, aber dann von der Sicherheit der Masse getragen, die große welthistorische Forderung der Reformation.

      Großartiger Augenblick, eine Jahrhundertwende, die zur Zeitwende wird: Europa hat einen Atemzug lang gleichsam ein Herz, eine Seele, einen Willen, ein Verlangen. Übermächtig fühlt es sich als Ganzheit angerufen von noch unverständlichem Befehl zur Verwandlung. Herrlich bereit ist die Stunde, Unrast gärt in den Ländern, atmende Angst und Ungeduld in den Seelen, und über all dem schwingt und schwebt ein einziges dunkles Lauschen nach dem befreienden, nach dem zielsetzenden Wort; jetzt oder niemals ist es dem Geist gegeben, die Welt zu erneuern.

      Dunkle Jugend

      Unübertreffliches Symbol für diesen übernationalen, der ganzen Welt gehörigen Genius: Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren. Der Name Erasmus Roterodamus, den er dem Weltruhm entgegenträgt, ist nicht von Vätern und Ahnen ererbt, sondern ein angenommener, die Sprache, die er zeitlebens spricht, nicht die heimatlich holländische, sondern das erlernte Latein. Tag und Umstände seiner Geburt sind in merkwürdiges Dunkel gehüllt; kaum mehr ist gewiß als das nackte Geburtsjahr 1466. An dieser Verschattung war Erasmus keineswegs unschuldig, denn er liebte nicht, von seiner Herkunft zu sprechen, weil ein uneheliches Kind und mehr noch, ärgerlicher noch, Kind eines Priesters, »ex illicito et ut timet incesto damnatoque coitu genitus«; (und was Charles Reade in seinem berühmten Roman »The cloister and the heart« romantisch von der Kindheit des Erasmus erzählt, ist selbstverständlich Erfindung). Die Eltern sterben früh, und begreiflicherweise zeigen die Verwandten größte Eile, den Bastard möglichst kostenlos von sich wegzuhalten; glücklicherweise ist die Kirche immer geneigt, einen begabten Knaben an sich zu ziehen. Mit neun Jahren wird der kleine Desiderius (in Wahrheit: ein Unerwünschter) in die Kapitelschule von Deventer geschickt, dann nach Herzogenbusch: 1487 tritt er in das Augustinerkloster Steyn, nicht so sehr aus religiöser Neigung, sondern weil es die beste klassische Bibliothek im Lande besitzt; dort legt er um das Jahr 1488 das Mönchsgelübde ab. Aber daß er in diesen Klosterjahren glühender Seele um die Palme der Frömmigkeit gerungen habe, ist von keiner Seite bezeugt, man erfährt aus seinen Briefen vielmehr, daß eher die schönen Künste, daß lateinische Literatur und Malerei ihn hauptsächlich beschäftigt haben. Immerhin empfängt er 1492 durch die Hand des Bischofs von Utrecht die Priesterweihe.

      In diesem seinem geistlichen Kleide haben Erasmus zeitlebens nur wenige jemals gesehen; und es bedarf immer einer gewissen Anstrengung, sich zu erinnern, daß dieser freidenkende und unbefangen schreibende Mann tatsächlich bis in die Sterbestunde dem Priesterstand angehört hat. Aber Erasmus verstand die große Lebenskunst, alles, was ihm drückend war, auf sachte und unauffällige Weise von sich abzutun und in jedem Kleid und unter jedem Zwang sich seine innere Freiheit zu wahren. Von zwei Päpsten hat er unter den geschicktesten Vorwänden die Dispens erlangt, das Priesterkleid tragen zu müssen, vom Fastenzwang befreit er sich durch ein Gesundheitszertifikat und in die Klosterzucht ist er trotz allen Bitten, Mahnungen, ja Drohungen seiner Vorgesetzten nicht für einen Tag mehr zurückgekehrt.

      Damit enthüllt sich schon ein bedeutsamer und vielleicht der wesentlichste Zug seines Charakters: Erasmus will sich an nichts und niemanden binden. Keinen Fürsten-, keinen Herren- und selbst keinen Gottesdienst will er dauernd auf sich nehmen, er muß aus einem innern Unabhängigkeitszwang seiner Natur frei bleiben und niemandem untertan. Niemals hat er innerlich einen Vorgesetzten anerkannt, an keinen Hof, an keine Universität, an keinen Beruf, an kein Kloster, an keine Kirche, an keine Stadt fühlte er sich je verpflichtet, und wie seine geistige Freiheit, hat er lebenslang seine moralische mit stiller und zäher Hartnäckigkeit verteidigt.

      An diesen so wesentlichen Zug seines Charakters schließt sich organisch ein zweiter: Erasmus ist zwar Unabhängigkeitsfanatiker, aber darum keineswegs ein Rebell, ein Revolutionär. Im Gegenteil, er verabscheut alle offenen Konflikte, er vermeidet als kluger Taktiker jeden unnützen Widerstand gegen die Mächte und Machthaber dieser Welt. Er paktiert lieber mit ihnen als gegen sie zu frondieren, er erschleicht lieber seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen; nicht wie Luther mit kühner dramatischer Geste wirft er, weil sie ihm zu eng die Seele schnürt, seine Augustinerkutte von sich; nein, er zieht sie lieber leise, nach unterirdisch eingeholter Erlaubnis in aller Stille aus: als guter Schüler seines Landsmannes Reineke Fuchs schlüpft er wendig und geschickt aus jeder Falle, die man seiner Freiheit stellt. Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt: er siegt in seiner ewigen Schlacht um die Unabhängigkeit der Lebensgestaltung nicht durch Mut, sondern durch Psychologie.

      Aber diese große Kunst, sich das Leben frei und unabhängig zu gestalten (die schwerste für jeden Künstler), will erlernt sein. Die Schule des Erasmus war hart und langwierig. Erst mit sechsundzwanzig Jahren entrinnt er dem Kloster, dessen Enge und Engstirnigkeit ihm unerträglich geworden. Doch – erste Probe seiner diplomatischen Geschicklichkeit – er entläuft seinen Vorgesetzten nicht als ein eidbrüchiger Mönch, sondern läßt sich nach geheimen Verhandlungen zum Bischof von Cambrai berufen, um ihn auf seiner Reise nach Italien als lateinischer Sekretär zu begleiten; in demselben Jahre, da Kolumbus