Stefan Zweig

Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam


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gelebt, unter engen und plebejischen Menschen. Die spartanische Zucht der Seminare und der geistige Daumschraubenzwang der Scholastik waren für seine feinen, sensitiven und neugierigen Nerven wirkliche Folter gewesen; sein Geist, der auf Weite gestellt ist, kann sich in dieser Beschränkung nicht entfalten. Aber dieses Salz und diese Bitternis waren vielleicht notwendig, um ihm jenen ungeheuren Durst nach Weltwissen und Freiheit zu geben, denn in dieser Zucht hat der lange Geprüfte gelernt, ein für allemal alles engstirnige Bornierte und doktrinär Einseitige, alles Brutale und Befehlshaberische als unmenschlich zu hassen – gerade daß Erasmus von Rotterdam das Mittelalter am eigenen Leibe, an der eigenen Seele noch so ganz und so schmerzhaft erlebt hat, befähigt ihn, Bote der neuen Zeit zu werden. Von einem jungen Schüler, dem Lord Montjoy, nach England mitgenommen, atmet er mit unermeßlicher Beglückung zum erstenmal die stärkende Luft geistiger Kultur. Denn Erasmus kommt in einem guten Augenblick in die angelsächsische Welt. Nach dem endlosen Krieg der Weißen und Roten Rose, der jahrzehntelang das Land zerstampft hat, genießt England wieder die Segnungen des Friedens, und überall wo Krieg und Politik abgedrängt sind, vermögen Kunst und Wissenschaft sich freier zu entfalten. Zum erstenmal entdeckt der kleine Klosterschüler und Stundengeber, daß es eine Sphäre gibt, wo einzig der Geist und das Wissen als Macht gelten. Keiner fragt ihn nach seiner unehelichen Geburt und zählt seine Messen und Gebete nach, hier wird er einzig als Künstler, als Intellektueller um seines eleganten Lateins, um seiner amüsanten Redekunst willen in den vornehmsten Kreisen geschätzt, beglückt lernt er die wunderbare Gastlichkeit, die edle Unvoreingenommenheit der Engländer kennen,

      »ces grands Mylords Accords, beaux et courtois, magnanimes et forts«,

      wie sie Ronsard gerühmt. Eine andere Art des Denkens wird ihm in diesem Lande offenbar. Obzwar Wiclif längst vergessen ist, lebt in Oxford die freiere, kühnere Auffassung der Theologie weiter, hier findet er Lehrer der griechischen Sprache, die ihm eine neue Klassik erschließen, die besten Geister, die größten Männer werden seine Gönner und Freunde, sogar der junge König, Heinrich VIII., damals noch Prinz, läßt sich das kleine Priesterlein vorstellen. Es ehrt Erasmus für alle Zeiten und zeugt für seine eindrucksvolle Haltung, daß die edelsten Menschen jener Generation, daß Thomas Morus und John Fisher seine innigsten Freunde, daß John Colet, die Erzbischöfe Warham und Cranmer seine Gönner wurden. Mit leidenschaftlichem Durst trinkt der junge Humanist solche geistig durchglühte Luft ein, er nützt die Zeit dieser Gastlichkeit, um nach allen Seiten sein Wissen zu erweitern, er verfeinert im Gespräch mit den Adeligen und deren Freunden und Frauen seine Umgangsformen. Das Selbstbewußtsein seiner Stellung hilft mit zur raschen Verwandlung – aus dem ungelenken scheuen Priesterchen wird eine Art Abbé, der die Soutane wie ein Gesellschaftskleid trägt. Erasmus beginnt sich sorgfältig auszustaffieren, er lernt reiten und jagen, seine aristokratische Lebenshaltung, die dann in Deutschland so scharf von den gröberen, plumperen Formen der Provinzhumanisten absticht und ihm ein gut Teil seiner kulturellen Hoheitsstellung einbrachte, hat er in den gastlichen Häusern des englischen Adels sich anerzogen. In die Mitte der politischen Welt gestellt und innig den besten Geistern der Kirche und des Hofes verbrüdert, gewinnt sein scharfer Blick jene Weite und Universalität, die später die Welt an ihm bewundert. Aber auch sein Gemüt wird hell: »Du fragst mich«, schreibt er froh einem Freunde, »ob ich England liebe? Nun, wenn Du mir je Glauben schenktest, so bitte, glaube mir auch dies, daß nichts mir je so wohlgetan hat. Ich finde hier ein angenehmes und gesundes Klima, soviel Kultur und Gelehrtheit, und zwar nicht der haarspalterischen und banalen Art, sondern tiefer, exakter und klassischer Bildung, sowohl in Latein als in Griechisch, daß ich außer den Dingen, die dort zu sehen sind, wenig Sehnsucht nach Italien habe. Wenn ich meinem Freund Colet zuhöre, so ist mir, als lausche ich Plato selbst, und hat die Natur je eine gütigere, zartere und glücklichere Wesensart hervorgebracht als die des Thomas Morus?« In England ist Erasmus vom Mittelalter genesen.

      Aber alle Liebe zu England macht Erasmus dennoch nicht zum Engländer. Als Kosmopolit, als Weltmann, als freie und universalische Natur kehrt der Befreite zurück. Von nun ab ist seine Liebe überall dort, wo Wissen und Kultur, wo Bildung und Buch herrschen; nicht Länder und Flüsse und Meere teilen für ihn mehr den Kosmos ab, nicht Stand und Rasse und Klasse; er kennt nur zwei Schichten mehr: die Aristokratie der Bildung und des Geistes als die obere Welt, den Plebs und die Barbarei als die untere. Wo das Buch herrscht und das Wort, die »eloquentia und eruditio«, dort ist von nun ab seine Heimat.

      Dieses hartnäckige Sichbeschränken auf den geistesaristokratischen Kreis, auf die damals so haardünne Schicht der Kultur, gibt der Gestalt des Erasmus und seinem Schaffen etwas Wurzelloses: als der wahre Kosmopolit bleibt er überall nur Besucher, nur Gast, nirgendwo nimmt er Sitten und Wesen eines Volkes in sich auf, nirgends eine einzige lebendige Sprache. Mit allen seinen ungezählten Reisen ist er eigentlich am Wesenhaftesten jedes Landes vorbeigereist. Für ihn bestanden Italien, Frankreich, Deutschland und England aus dem Dutzend Menschen, mit denen er ein geschliffenes Gespräch führen konnte, eine Stadt aus ihren Bibliotheken, und er bemerkte allenfalls noch, wo die Gasthöfe am reinlichsten, die Menschen am höflichsten, die Weine am süßesten waren. Aber jede andere als die Buchkunst blieb ihm verschlossen, er hatte kein Auge für Malerei, kein Ohr für Musik. Er bemerkt nicht, daß in Rom ein Lionardo, ein Raffael und ein Michelangelo schaffen, und die Kunstbegeisterung der Päpste tadelt er als überflüssige Verschwendung, als antievangelische Prunkliebe. Niemals hat Erasmus die Strophen Ariosts gelesen, Chaucer bleibt ihm in England, die französische Dichtung in Frankreich fremd. Nur der einen Sprache Latein ist sein Ohr wirklich offen, und die Kunst Gutenbergs war für ihn die einzige Muse, der er wahrhaft verschwistert war, er, der subtilste Typus des Literaten, dem nur durch die litterare, die Lettern, Weltinhalt erfaßbar wird. Er konnte zur Wirklichkeit kaum anders in Beziehung treten als durch das Medium der Bücher, und er hat mit ihnen mehr Umgang gehabt als mit Frauen. Er liebte sie, weil sie leise waren und ohne Gewaltsamkeit und unverständlich der dumpfen Menge, das einzige Vorrecht der Gebildeten in einer sonst rechtlosen Zeit. In dieser Sphäre allein konnte der sonst sparsame Mann zum Verschwender werden, und wenn er mit Widmungen sich Geld zu schaffen suchte, so tat er dies einzig zu dem Zwecke, um sich Bücher kaufen zu können, immer mehr, immer mehr, griechische, lateinische Klassiker, und er liebte die Bücher nicht nur um ihres Inhalts willen, sondern er vergötterte sie auch als einer der ersten Bibliophilen rein fleischlich in ihrem Dasein und in ihrem Werden, in ihrer herrlichen, handlichen und gleichzeitig ästhetischen Form. Bei Aldus in Venedig oder bei Froben in Basel in der niedern Druckstube zwischen den Werkleuten zu stehen, noch feucht die Druckbogen aus der Presse zu empfangen, die Zieraten und zarten Initialen mit den Meistern dieser Kunst gemeinsam einzusetzen, wie ein scharfsichtiger Jäger mit flinker gespitzter Feder den Druckfehlern nachzujagen oder noch rasch auf den nassen Blättern eine lateinische Phrase reiner und klassischer zu runden, das waren für ihn die seligsten Augenblicke seines Daseins, an Büchern, für Bücher zu wirken, die natürlichste Form seiner Existenz. Im letzten hat Erasmus nie innerhalb der Völker und Länder gelebt, sondern über ihnen, in einer dünneren, hellsichtigeren Atmosphäre, in dem tour d'ivoire des Artisten, des Akademikers. Aber von diesem Turm, der ganz aus Büchern und Arbeit gebaut war, lugte er neugierig herab, ein anderer Lynkeus, um frei, klar und gerecht das lebendige Leben zu sehen und zu verstehen.

      Denn Verstehen und immer besser Verstehen war die eigentliche Lust dieses merkwürdigen Genius. Im strengen Sinn kann Erasmus vielleicht kein tiefer Geist genannt werden; er gehört nicht zu den Zuendedenkern, zu den großen Umformern, die den Weltraum mit einem neuen geistigen Planetensystem beschenken; die Wahrheiten des Erasmus sind eigentlich nur Klarheiten. Aber wenn kein profunder, so war Erasmus doch ein ungewöhnlich weiter Geist, wenn kein Tiefdenker, so doch ein Richtigdenker, ein Helldenker und Freidenker im Sinne Voltaires und Lessings, ein vorbildlicher Versteher und Verständlichmacher, ein Aufklärer in des Wortes edelster Bedeutung. Helligkeit und Redlichkeit zu verbreiten, war für ihn eine Naturfunktion. Alles Wirre widerte ihn an, alles verworren Mystische und verstiegen Metaphysische stieß ihn organisch ab; wie Goethe haßte er nichts so sehr wie das »Nebulose«. Das Weite lockte ihn aus sich heraus, aber die Tiefe zog ihn nicht an: über den »Abgrund« Pascals hat er sich nie gebeugt, er kannte nicht die seelischen Durchschütterungen eines Luther, Loyola oder Dostojewskij, diese Art furchtbarer Krisen, die geheimnisvoll schon Tod und Wahnsinn verwandt sind. Alles Übertreibliche mußte seiner vernünftlerischen Art fremd bleiben. Aber anderseits