Edi Mann

Der Leuchtturmwächter


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massiven Schrank gleich, den ich an zentraler Stelle in mir aufstellte. Der Schrank der vergangenen Zeit, angefüllt mit Erinnerungen und anderen einstmaligen Wichtigkeiten. Schublade über Schublade, es müssen Tausende gewesen sein, vollgestopft und überquellend mit gemachten Erfahrungen, scheinbar Erlebtem, gebildeten Meinungen und richtungsweisenden Vorurteilen. Ganz oben, ohne Leiter kaum zu erreichen, befanden sich eine ganze Reihe teils aufwendig und reich verzierte Glaubenskisten. Manche davon noch im Originalzustand, die wächserne Versiegelung vor den Schlössern intakt und ungebrochen. Obwohl sie hier in meinem Schrank standen scheinen sie noch nie geöffnet worden. Andere wiederum waren weit geöffnet, ihr Inhalt breitete sich wie ein bunter Lamettaregen über das Darunterliegende aus. Alles in allem ein ziemlich chaotisches Inventarsystem der ganz eigenen Art, meiner eigenen Art.

      Doch jetzt ist der Inhalt verbrannt und der den Altar bildende Schrank gleich mit ihm. Schwelende Reste eines ganzen Lebens. Der Gott des Jetzt, dieser „Ich bin“, scheint keine anderen Götter neben sich zu dulden. In seiner Vernichtungsarbeit ist er radikal und unerbittlich.

      Sogar mein Schatten, bis vor kurzem noch munter vor mir hergehend und mir den Weg weisend, hat mich verlassen. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Sonne sich direkt im Zenit, sprich über mir, befindet. Mein breitkrempiger Hut, frisch geflochten aus trockenen Palmwedeln, bewahrt das Hirn davor im Innern des Kopfes gekocht zu werden. Einige grundlegende handwerkliche Fähigkeiten machen die Existenz in dieser doch recht extremen Umgebung etwas erträglicher. Obwohl sich natürlich schon die Frage stellt, was ich in der glühenden Mittagshitze auf diesem Pfad durch eine lebensfeindliche Wüste zu suchen habe.

      Sonnenzeit

       Du bist wie eine Fata Morgana in der Wüste, die der durstige Mensch für Wasser hält; aber wenn er es erreicht, findet er nichts. Und da, wo er glaubte Wasser zu finden, findet er Gott. Gleichermaßen, wenn du dich selbst untersuchtest, würdest du feststellen, dass du selbst nichts bist, und stattdessen würdest du Gott finden. Das heißt, du würdest Gott finden an Stelle von dir selbst, und es würde nichts von dir übrig bleiben als ein Name ohne Form.

       - Al-Alawi

       Wie der leere Himmel hat Es keine Grenzen, und doch ist Es genau hier, immer tiefgründig und klar.

       - Yung-chia Hsuan-cheh

      Einer Endlosschleife gleich, einem gordischen Knoten, hat sich der Gedanke an diesen nicht vorhandene Schatten in den unergründlichen Tiefen des Gehirns festgesetzt. Wo ist mein Schatten? Was hat es mit diesem nicht mehr vorhandenen Schatten auf sich? Ist es der Schatten der Vergangenheit, die nur vorgestellte und sich als Illusion herausgestellte Person die ich einmal war und die sich nun verflüchtigt hat? Obwohl, verflüchtigt scheint der falsche Ausdruck, eher integriert von einer Art Ganzheit, die, schleichend und fast unbemerkt von dieser Person, das Ruder übernommen hat. Aber vielleicht hat er sich auch nur tief in mein Inneres zurückgezogen, in diese nicht greifbare Leere und Frische, welche unerreichbar und unberührt von der so gnadenlos auf mich einwirkenden Hitze bleibt.

      Unbeantwortete Fragen, deren einziger Sinn darin zu liegen scheint, neue Fragen nach sich zu ziehen. Müßiges Geplapper eines überforderten Verstandes.

      Meine Gegenwart gleicht einem zerbrochenen Spiegel, dessen Scherben unter dieser glühenden Sonne sporadische und zusammenhanglose Bilder der Vergangenheit auf mich zurückwerfen. Fragmente eines alles vernichtenden Feldzuges gegen mich selbst. Ein Kampf, der weder Sieger noch Verlierer auf dem Schlachtfeld zurückließ. Nur verbrannte Erde, auf der ich nun unterwegs bin.

      Bei diesem Kampf gegen mich selbst wurde ich zum Mörder. Da war dieses Grenzland, mit dem ich, der Grenzwächter, eine untrennbare Einheit bildete. Dieses Grenzland gibt es nicht mehr. Es löste sich auf, als die letzte Person dort vernichtet war. Einstmals scheint es dicht bevölkert gewesen zu sein. Doch all den dort auftauchenden Personen wurde der Prozess gemacht. Und alle wurden sie für schuldig befunden. Schuldig im Sinne von nicht wirklich zu sein. Ich habe sie alle getötet, diese Personen die keine wirklichen Menschen waren, diese Zombies die mir ihre Wichtigkeit und damit einhergehend ihren Wirklichkeitsanspruch beweisen wollten.

      Aber vielleicht bin ich auch der Zombie. Allem entledigt was so ein Organismus zum Menschen macht, was den Mensch zur Person macht. Denn was bleibt übrig wenn erkannt wurde dass all die getöteten Personen Teil des eigenen Daseins waren? Wenn die Suche nach Wahrheit das alte Weltbild in den Untergang riss und auf dessen Ruinen kein neues entstand? Kein Phönix aus der Asche, nur ein Nichts, dessen letzter Weg hier der endgültigen Vernichtung entgegen zu gehen scheint. Aufgesaugt und absorbiert von dieser mit unverminderter Kraft auf mich herab scheinenden Sonne.

      Sonnenzeit. Die Sonne, die allem Geschehen einen zeitlichen Rahmen verpasst. Untrennbar mit dem Fortschreiten der Zeit verbunden. Eins mit der Zeit, aber nicht in sie verwickelt. Das stillstehende Zentrum, alles zeitliche Geschehen aus sich hervorbringend. Tag und Nacht, Morgen und Abend, Sommer und Winter. Der über das Firmament ziehende Sonnenwagen, gelenkt von Helios, diesem All-erschauenden, dem angeblich nichts verborgen bleibt. Doch hier und jetzt scheint er seine Fahrt unterbrochen zu haben, die Zeit steht still. Ist das der Tod, das Ende des Weges, das Ende der Zeit? Mit zusammengekniffenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken und schaue zu ihm hoch. Er scheint mir zuzublinzeln, mich einzuladen ihn auf seiner Fahrt zu begleiten. Ein plötzliches Schwindelgefühl überfällt mich und legt mir eine tiefe Schwärze vor die Augen. Die Sinne beginnen sich einer nach dem anderen zu verabschieden, was angesichts der extremen Umstände wenig verwunderlich ist.

      Hoch über einer kleinen rotierenden Kugel, die sich bei genauerer Betrachtung als Erde zu erkennen gibt, komme ich wieder zu mir. Seltsamerweise beunruhigt mich nicht die Tatsache hier neben Helios in seinem Sonnenwagen zu sitzen, sondern das Gefühl einer starken Beschleunigung, die mich unerbittlich in meinen heißen Sitz presst. Ich dachte immer die Sonne wäre ein Fixpunkt, selbst stillstehend.

       Ja, ich bin ein Fixpunkt der die Welt um mich herum in Bewegung hält. Doch auch ich selbst bin einer dauernden Bewegung unterworfen. Die Welt bewegt sich um mich und ich bewege mich durch die Welt. Verhält es sich denn mit euch Menschen nicht genauso? Seid ihr nicht auch Fixpunkte und alles dreht sich um euch selbst, wobei ihr euch gleichzeitig durch diese eure Welt bewegt? Sonnengleich seid ihr, wie ich selbst, nur scheint ihr es vergessen zu haben.

       Siehst du da unten Japan? Dort bin ich dem Namen nach Amaterasu, der unaufhaltsam seine Bahn von Ost nach West zieht. Und hier, über diesen grandiosen Pyramiden stehend, bin ich Horus, Ra oder Aton. Die Perser da unten nennen mich Mithra, das bedeutet “Derjenige der alles Leben ermöglicht“. Im südlichen Europa bin ich als Apollo bekannt, aber zu einer anderen Zeit wachte ich als Sol Invictus über dem Kolosseum. Weiter nördlich beschere ich als Sunna und Sol den Germanen ihre Sonnwendfeiern. Na ja, diese Zeiten sind längst vorüber, aber ich kann dir sagen dass es dabei immer heiß zuging. Und wer weiß, vielleicht besinnen sich die Menschen bald wieder meiner. Oder ihrer selbst, was auf das Gleiche hinausläuft. Im fernen Amerika, bei den Inkas, kämpfte ich als Viracocha gegen den Huitzilopochtli der Azteken, den ich ebenfalls verkörpere. Ein Kampf gegen mich selbst, der bis heute noch nicht entschieden ist. Und als Krönung meiner Reise erscheine ich als Malina den Eskimos weit im Norden sogar um Mitternacht.

       Hey, was ist mit dir, du bist ja ganz bleich und dein Körper zittert wie Espenlaub. Bekommt dir irgendetwas nicht? Die Reise hat doch eben erst begonnen, die erste Runde ist kaum beendet. Na ja, es wird wohl besser sein dich wieder abzusetzen, ihr Sterblichen habt wohl eine recht schwächliche Konstitution.

      Im heißen Staub sitzend und an einen nicht weniger heißen Fels gelehnt finde ich mich wieder. Trotz der sengenden Hitze scheint dem Körper plötzlich eiskalt zu sein. Was ist das, die Ankündigung eines drohenden Hitzschlages? Zitternd lege ich mir meine alte schon recht zerschlissene Wolldecke um, was die beunruhigenden Symptome augenblicklich mildert. Jetzt ist mir wieder heiß, was mir aber den Umständen entsprechend wesentlich gesünder vorkommt. Dass die Sonne