Edi Mann

Der Leuchtturmwächter


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Wesen, wie wir von Helios bezeichnet werden, auch schon wissen.

      Kaum haben sich die körperlichen Symptome einigermaßen beruhigt beginnt der Verstand mit seiner Analyse des Geschehens. Eigenartigerweise beschäftigt ihn nicht das Ereignis an sich, sondern der Inhalt der Aussage des Sonnengottes. Das eben Erfahrene als Halluzination abzutun scheint ihm als Erklärung zu genügen.

      Die Sonne. Überall gilt sie als ein Symbol der beständigen Wiederkehr, der Dauerhaftigkeit, egal welcher Art die jeweilige Benennung auch ist, die ihr übergestülpt wird. Diese Benennungen der Erscheinungen mit anschließender Interpretation scheint ein menschliches Phänomen zu sein. Ein für den Verstand notwendiges, vielleicht schon zwanghaftes Bemühen, Ordnung in die vor ihm erscheinende Welt der Phänomene zu bringen. Erst wenn die Dinge einen Namen haben kann man sie interpretieren und mit Bedeutungen versehen. Sie einordnen in das eigene Inventarsystem und sich eine Meinung darüber bilden. Was man kennt meint man auch kontrollieren zu können. Hier bei der Sonne wird die Benennung sogar noch einen Schritt weiter getrieben und eine Personifizierung angestrebt, was, wie in diesem Fall, einen leibhaftigen Helios zur Folge haben kann. Da der Mensch sich selbst als Person sieht, versucht er die ihm erscheinenden Objekte oder Kräfte auf seine Ebene zu bringen. Ob er sie zu sich herauf oder herabholt ist dabei nebensächlich. Dies ist nur von seinem Standpunkt abhängig, auf den er sich selbst stellt. Jetzt kann eine direkte Auseinandersetzung stattfinden, sei es durch Anbetung, Opfergaben oder Beschimpfungen, die bis zum Verfluchen reichen können. Auf diese Art erschafft sich der Mensch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das er von nun an zu seinen Gunsten zu beeinflussen sucht. Durch die Benennung geschieht aber in Wirklichkeit eine Abtrennung. Die Dinge werden vom Menschen aus der Einheit, in die er selbst integriert ist, herausgelöst, um anschließend wieder in Beziehung zu ihnen zu treten. Diesmal aber in eine Gedankenbeziehung, die ihm eine scheinbar kontrollierbare Interaktion ermöglicht. So macht sich der Verstand die Welt zu eigen.

      Mein eigener Verstand scheint noch nicht völlig ausgetrocknet zu sein, da er sich noch mit solchen philosophischen Unwichtigkeiten beschäftigen kann. Oder ist es ein Zeichen von Resignation, eine Ablenkung von der Tatsache, an der so langsam aber sicher bedrohlich werdenden Situation nichts ändern zu können?

      Die andere von Helios angesprochene Sache, das mit dem Fixpunkt, schiebt sich ins Bewusstsein. Wenn ich selbst ein Fixpunkt bin dann könnte oder müsste das doch bedeuten, alles mir Erscheinende dreht sich um mich. Oder kommt sogar aus mir selbst hervor. Und ich, von was auch immer getrieben, begebe mich in diese Erscheinungswelt hinein. Dieser Aspekt scheint es mir Wert zu sein im Auge behalten zu werden. Allerdings weigert sich der Verstand momentan dieses Gedankenspiel weiterzuspielen. Ob es an der Hitze liegt oder ob er prinzipiell damit überfordert ist kann ich nicht sagen. Na ja, wahrscheinlich gibt es im Augenblick auch wichtigeres zu überdenken.

      Um auf die eigene Auseinandersetzung mit meinem derzeitigen Peiniger zurückzukommen, da bin ich mittlerweile auf der Schwelle des Verfluchen angelangt. Wie schnell sich diese lebensspendende Kugel in einen glühenden Todesstern verwandeln kann. Lebensspendend, ein schlechter Witz angesichts der Umstände, in die ich mich, warum auch immer, hinein manövriert habe. Lebensfeindlich scheint dem schon näher zu kommen.

      Auf der Suche nach einem Schuldigen oder einem Verursacher dieser prekären Situation beginnt der Verstand ironischerweise mit Selbstvorwürfen: „Das ist die Konsequenz der geleisteten Vernichtungsaktion im Grenzgebiet.“ Oder: „Das ist die Strafe für die zahlreichen im Unverstand begangenen Morde.“ Das Wort “hätte“ nimmt dabei in seinen Ausführungen eine Schlüsselposition ein. Na ja, man muss ihm das wohl nachsehen, er arbeitet eben noch immer nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip. Selbst davon befreit beachte ich ihn nicht weiter und lasse das nölende Geplapper über mich ergehen. Was soll man machen, so ein Verstand tut halt auch nur was er tun muss. Und vielleicht hat er ja gar nicht mal so unrecht. Die Suche nach dem Licht (ich sträube mich noch immer es Erleuchtung zu nennen), die mich zu dieser Wanderung hat aufbrechen lassen, ist möglicherweise gar nicht vorgesehen im menschlichen Bauplan. Nicht aufgeführt im Reiseführer durch die Zeit. Doch auch das sind nur müßige Verstandesüberlegungen und dienen nicht wirklich dazu die Situation zu verbessern.

      Das einzig Vernünftige scheint mir einfach weiterzugehen. Ein steiler Abhang, bedeckt mit losem Geröll, das den Abstieg nicht gerade vereinfacht, führt mich zu einem noch gut erkennbaren ovalen Choral, aufgeschichtet aus den zahllos hier herumliegenden Steinbrocken. Wie ein Eindringling ragt er aus dem eintönigen Wüstenboden. Eindeutig Menschenwerk, das sich allerdings in einem fortgeschrittenen Verfallstadium befindet. Als ich dort ankomme und mich erschöpft an einem noch intakten Mauerstück niederlasse stelle ich fest, dass das Leben auch hier schon vor langer Zeit weitergezogen ist. Zurückgelassen hat es einen mittlerweile vertrauten Anblick: Vertrocknetes Gebüsch auf sonnenverbrannter Erde, dazwischen ausgebleichte Knochen und Skelettfragmente. An einer schattigen Stelle innerhalb des Choralls entdecke ich, versteckt unter dem wurmstichigen Gerippe eines schon vor langer Zeit abgestorbenen Feigenbaumes, doch noch einen letzten Rest Leben. Die mit wehrhaften Stacheln besetzten Ohren eines halb vertrockneten Opuntienkaktus trotzen hier der Dürre und dem Tierfraß. Die einladend aussehenden roten Früchte darauf entpuppen sich beim Nähertreten allerdings als leere Hüllen. Die Vögel und Eidechsen waren wohl vor mir da, um sich diese Köstlichkeit schmecken zu lassen.

      Sogar für eine richtige Enttäuschung scheint die Energie zu fehlen. Desillusioniert lässt sich der Körper wieder auf seinen Hintern nieder und streckt die müden Beine weit von sich. Der Kopf sinkt nach unten, doch gerade als die schweren Augenlider folgen wollen wird er wieder, wie an einer Schnur hängend, in die Höhe gezogen.

      Ein stetig lauter werdendes Rauschen drängt sich in die bleierne Stille hinein, das mich, nach der Ursache Ausschau haltend, aufblicken lässt. Ist da nicht eine Bewegung auf dem mir gegenüberliegenden Hang auszumachen? Bis mir klar wird, was dieses Rauschen zu bedeuten hat, sitze ich auch schon mitten drin in einer sich über den steinigen Boden wälzende Windhose. Roter Staub hüllt mich ein, zerrt an Kleidung und Haaren, reißt den Hut vom Kopf und bringt die nicht rechtzeitig geschlossenen Augen zum tränen. Die Winderscheinung gibt mich genauso schnell wie sie mich einhüllte auch wieder frei, ihren unbestimmten Weg durch den Steinchorall fortsetzend. Offensichtlich ohne besonderes Ziel, manchmal abrupt die Richtung wechselnd oder auch mal sekundenlang am selben Fleck verweilend, scheint sie das Gelände wie ein Fährtensucher abzutasten. Bei ihrer Tätigkeit wirbelt sie viel Staub und vertrocknete Gebüschteile auf, die sie, einen Sog bildend, hoch in die Luft befördert. Dadurch lässt sich ihr wirrer und für mich unvorhersehbarer Weg gut verfolgen. Fast wie ein Spiel kommt es mir vor, ein absichtsloses herumtollen und sich austoben. Oder steckt doch ein tieferer sich mir nicht offenbarender Sinn dahinter?

      Plötzlich schmückt sich dieser sich um sich selbst drehende Wirbelwind mit einer Vielzahl weißer Federn. Die vormals staubgesättigte Luftsäule legt sich ein Federkleid um, sich so in ein völlig verändertes Erscheinungsbild bringend. Ein runder tonnenförmiger Leib mit sich nach oben verlierenden flügelähnlichen Extremitäten. Manifestiert sich hier ein Engel aus einer anderen Dimension vor mir? Gebannt starre ich auf das sich langsam verdichtende Gebilde. Doch die Erscheinung ist nicht von langer Dauer. So plötzlich wie die Windhose aus dem Nichts erschien verschwindet sie auch wieder, sich in sich selbst auflösend. Die hoch aufgewirbelten Federn sinken langsam herab, eine davon auf meiner ausgestreckten Handfläche landend.

      Es ist eine gewöhnliche Taubenfeder, also nichts mit Engelserscheinungen. Wohl die Hinterlassenschaften eines Falken, der im Schutz der Steinmauer seine Beute rupfte.

      Tote weiße Friedenstauben, aus dem Nichts erscheinende und wieder verschwindende Engel... Der Verstand, dies als schlechtes Omen deutend, drängt zum sofortigen Aufbruch. Doch der erschöpfte Körper lässt sich nicht so ohne weiteres überreden und lehnt sich erneut an die brüchige Steinmauer zurück.

      Zwei im Laufe der Zeit von Wind und Wetter blank polierte und in der gleißenden Sonne weiß glänzende Schädel erregen meine Aufmerksamkeit. Wie von einem knochentrockenen Objektkünstler platziert heben sie sich wie Schmuckstücke aus der monoton rotbraunen Landschaft. Sie sind noch ziemlich intakt und den sich nach oben windenden schneckenförmig eingedrehten dunkelbraunen Hörnern nach die Überreste zweier einst mächtiger Schafböcke. Sich einem zeitlosen Finalkampf