Edi Mann

Der Leuchtturmwächter


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ausnutzend schweben sie mühelos und majestätisch durch ihr Element. Angesichts ihrer Schönheit kommt mir der Name, den wir Menschen ihnen verpasst haben, ziemlich unpassend vor. Die Bewunderung dieser eleganten Flugschau schwindet jedoch rasch, als ich an ihre Arbeit und ihren Speisezettel hier unten auf der Erde denke. Aufräumarbeit und Resteessen. Auch hier wieder: Aus der Nähe betrachtet oder direkt mit dem jeweiligen Geschehen konfrontiert scheinen die Dinge anders als aus der Entfernung mit einer gewissen Distanz betrachtet.

      Tal des Todes (Im Agavenfeld)

       Der Körper ist unsterblich und stellt niemals dumme Fragen wie: „Gibt es Unsterblichkeit?“ Er weiß, dass er in dieser bestimmten Form an ein Ende kommen wird, nur um in einer anderen weiterzumachen.

       - U.G.Krishnamurti

      Die vermeintliche Vegetation vor mir entpuppt sich als ein halb vertrocknetes Agavenfeld. Wie ihrer Leitungen beraubte Telegrafenmaste recken sich die langen Blütenstängel in die Höhe, viele davon schon umgestürzt und wie geschlossene Schranken chaotisch übereinanderliegend. Schranken, ein Feld voller Schranken, einige wenige geöffnet, der Großteil aber geschlossen. Augenblicklich werden Assoziationen wach. Symbolisiert mir dies ein erneutes Grenzgebiet in das ich hier eingedrungen bin? Die mächtigen Blätter dieser so archaisch anmutenden Pflanzen haben trotz ihres meist schon ausgetrockneten Zustands nichts von ihrer Wehrhaftigkeit verloren. Dornen bewehrt behaupten sie sich inmitten allerlei anderem bereits abgestorbenem stacheligen Gestrüpps.

      Jetzt am Abend beginnt der Wind aufzufrischen und mit den toten Büschen zu spielen. Er treibt sie zusammen um sie anschließend über die Landschaft zu jagen, bis sie an noch festgefügten, aber nicht weniger trockenem Buschwerk hängen bleiben. Tanzende Windhexen zwischen den wie Orgelpfeifen dastehenden Agavenstangen, auf denen der Wind nun ein düster-makabres Lied spielt. Auch hier wieder das Lied des Todes? Er scheint mich nicht aus seinen Klauen zu lassen.

      Ein paar dicht zusammenstehende Pflanzen bilden eine Art Halbkreis, in den ich mich, geschützt vor dem nun kräftig wehenden Wind, niederlasse. Desillusioniert und völlig geschafft sinke ich zurück, nur um im nächsten Moment mit einem laut ausgestoßenen Schmerzschrei, der sich im heulenden Wind verliert, wieder aufzuspringen.

      Die lanzenförmige Spitze eines dieser dicken Agavenblätter hat sich, glücklicherweise ohne abzubrechen, tief in meinen Arm gebohrt. Hat sich nun auch noch die Vegetation gegen mich gekehrt? Um die Wunde zu reinigen drücke ich so viel Blut wie möglich aus ihr heraus. Diese langen und dicken Dornen sind nicht ohne, wie ich aus früheren Begegnungen weiß. Sie scheinen mit irgendeinem Stoff präpariert zu sein, der bei einer Verletzung sehr schmerzhaft wirkt und zu üblen Entzündungen führen kann.

      Dieses mal meine Umgebung genauer im Blick behaltend setze ich mich auf einen dieser vom Wind gefällten Stämme. Trotz der schmerzhaften Erfahrung stiehlt sich Bewunderung ins Bewusstsein. Diese Agaven sind schon imposante Pflanzen. Mit ihren bis zu zwei Meter langen und zum Zentrum hin ziemlich dickfleischigen Blättern, den scharfen Sägezahnrändern und dem langen Dorn am Ende stellen sie Wehrhaftigkeit in ihrer reinsten Form dar. Einmal mit ihr Bekanntschaft gemacht versteht man diese „Fass-mich-nicht-an“-Symbolik. Völlig symmetrisch wächst sie in die Höhe, dabei einen Umfang von bis zu drei Metern erreichend, um schließlich nach frühestens 15 Jahren diesen gewaltigen bis zu zehn Meter hohen Blütenstängel hervorzubringen. Ab dem oberen Drittel stehen mehrere Zweige im rechten Winkel zum Stamm ab, an denen viele Samen hängen, teilweise schon am Stamm keimend und kleine Pflanzen bildend. Das Hervorbringen einer so gewaltigen Blüte kostet die Pflanze ihre letzten Energiereserven und sie stirbt im Anschluss daran ab. Jedoch hat sie während ihrer Lebenszeit schon viele Rhizome hervorgebracht und Ableger in verschiedenen Wachstumsstadien umgeben sie. Um Nachwuchs braucht sie sich also keine Sorgen zu machen. In einer so trockenen Umgebung wie hier scheint ihr das aber auch nicht allzu viel zu bringen, denn viele der Pflanzen sind schon vertrocknet ohne das notwendige Alter für die Blütenbildung erreicht zu haben.

      Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang schon Leben und Tod. Ist es angebracht, die Pflanze als tot zu bezeichnen, nur weil sie mir braun und vertrocknet erscheint? Was ist mit den jungen grünen Ablegern, die immer noch durch die Rhizome mit ihr verbunden sind? Was ist mit den aufgekeimten Samen, selbst schon kleine Pflänzchen, die immer noch an ihrem Blütenstängel festsitzen? Sie scheinen den Tod der alten Pflanze für ihr eigenes Leben zu benötigen. Die neue Generation ernährt sich aus den Verfallsprodukten der Mutterpflanze, so einen ewigen Kreislauf bildend. Wo in diesem Kreislauf also endet das Leben, oder anders gefragt, wo ist der Tod? Wenn ich jetzt diesen kleinen Kreislauf, der sich hier überall beobachten lässt, auf die ganze Natur übertrage, wo sollte da Raum für den Tod sein? Sind sie nicht dasselbe, dieser angebliche Tod und das Leben? Tod beinhaltet das Leben, und das Leben den Tod. Da lässt sich kein Punkt für mich finden, an dem man eine Trennung erkennen könnte. Da gibt es gar keine Trennung. Eins ist abhängig vom anderen, wodurch sie zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen. Eine todlose Natur, in der sterben neues Leben bedeutet.

      Auch ich, oder besser gesagt dieser Organismus hier, mit dem ich mich momentan identifiziere, bin in diesen ewigen Kreislauf eingebunden. Egal ob ich hier nun scheinbar lebendig sitze oder scheinbar tot auf der Erde liege, immer bin ich ein untrennbarer Teil des Ganzen. Solange der so individuell erscheinende Organismus am Leben ist steht für ihn das Nehmen im Vordergrund. Nach seinem sogenannten Tod, der hier schon bald eintreten könnte, bekommt das Zurückgeben einen größeren Stellenwert. Der Zerfall des einen bildet die Nahrung des anderen. Nehmen und Geben, einen permanenten Kreislauf des Seins bildend.

      Trotz dieses strapazenreichen Tages noch relativ guter Laune beschließe ich, die Nacht hier zu verbringen. Wie um mir Mut zu machen halte ich einen einzigen Gedanken im Bewusstsein: „Es könnte schlimmer kommen“. Dieser Gedanke sollte recht behalten, denn es kommt schlimmer. Beim Ausziehen der Schnürstiefel löst sich die vorher schon lockere Sohle nun fast vollständig vom Schuh.

      Soll dies ein Zeichen sein nicht weiterzugehen? Eine Botschaft dass der Weg für mich hier zu Ende ist? Von Schranken umgeben, die meisten davon schon herabgelassen. Eingeschlossen in diesem surrealen Dornenwald, der sich mit Einbruch der Dämmerung noch dichter um mich zusammenzuziehen scheint. Das diffuser werdende und sich in verschiedene Rottöne wandelnde Licht lässt die dornigen Pflanzenobjekte bizarre Schatten werfen und verleiht der dem oberflächlichen Blick so leblos erscheinenden Szene eine düstere Lebendigkeit. Doch wenn es eins gibt das ich auf meinem bisherigen Weg gelernt habe dann ist es dies: Nichts ist wirklich so wie es zu sein scheint.

      Leblosigkeit? Plötzlich erwacht diese eben noch wie der Inbegriff des Todes erscheinende Umgebung zu neuem Leben. Da verfolgen sich zwei erdfarbene Eidechsen, überrascht an meinem Fuß anhaltend, um ihn neugierig zu untersuchen. Als die eine beginnt meine Wade zu erklimmen muss ich die Zähne zusammenbeißen um nicht laut aufzulachen. Ich will sie nicht erschrecken, aber ihre kleinen Krallen auf der nackten Haut kitzeln wie verrückt. Die zweite, ihres sicherlich bald schon wieder nachwachsenden Schwanzes entledigt, scheint weniger mutig zu sein. Schlechte Erfahrungen, die sie nun vorsichtiger agieren lässt? Aber nach einiger Zeit traut auch sie sich immerhin meinen großen Zeh mit ihrer züngelnden Zunge zu untersuchen. Langsam, hastige Bewegungen vermeidend, löse ich meinen Wasserschlauch von der Gürtelöse und schraube ihn auf. Den letzten Rest zu teilen erscheint mir als dankbare Geste an Mutter Natur. Und die beiden Gesellen sind wohl mehr als dankbar, als ich ein kleines Rinnsal über mein Bein laufen lasse, so dass sich eine Pfütze zwischen den Zehen bildet. Sofort machen sie sich darüber her, die kurze Zeit nutzend, bevor sie von einem smaragdgrün schillernden Männchen davon gejagt werden. Auch er holt sich seinen Anteil und schleckt das hier so kostbare Nass von meinen Füssen. Frisch gestärkt, mich keines Blickes würdigend, macht er sich wieder auf die Suche nach seinen Weibchen. Oder er tut was Eidechsen halt sonst so tun. Was weiß ich.

      Nicht nur der staubtrockene Erdboden scheint sich zu beleben, auch über mir beginnt ein Vogel seine Stimme zu erproben. Zuerst nur zwei Töne in immer gleichem Rhythmus hervorbringend verfällt er bald in eine melodiöse Tonfolge, die sich aus mehreren Tönen zusammensetzt. Ich beginne ihm pfeifend im gleichen Rhythmus zu antworten, worauf erst mal abrupte Stille