Liliana Dahlberg

Der Zauber von Regen


Скачать книгу

dass er der Mann ihrer nicht gelebten Träume war. Für sie war er die Inkarnation des edlen Ritters, nach dem sie sich schon als junges Mädchen gesehnt hatte. Er war der, der sie auf sein weißes Ross holen, dem Alltag entreißen und in spannende Welten entführen würde. Sie machte sich zwar Vorwürfe, dass sie schließlich völlig seinem Charme erlag, den er bei Tisch ausspielte, jedoch war das Gefühl der Liebe auf den ersten Blick stärker. Die Stimmen der anderen Gäste im »Seeblick« schienen plötzlich so weit entfernt. Sie hatte nur noch Augen und Ohren für ihn. Was wäre gewesen, wenn Nadine gewusst hätte, dass sie Tom bereits an diesem Abend an Veronika verloren hatte, schon Wochen vor dem Abend, der für sie mit einem Paukenschlag endete?

      Tom hatte sich damals bewusst auf das Spiel mit dem Feuer eingelassen, als Veronika, dieses eigentlich unscheinbare Mädchen, begann, eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn auszuüben.

      Obwohl sie nicht eine so starke Präsenz ausstrahlte wie Nadine, war es gerade ihr etwas scheuer Blick mit diesen grünen, leicht eng stehenden Augen, der ihn an eine schöne Katze erinnerte, und diese braunen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, die ihn seine Versprechen von Treue an Nadine vergessen ließen. Er wollte sich kopfüber in ein Liebesabenteuer stürzen, das einen besonderen Reiz für ihn hatte. Die Glut der Leidenschaft entflammte schließlich endgültig zwischen Tom und Veronika, als sie sich heimlich in ihrer Wohnung trafen, die etwas weiter südlich von Westerland lag. Er legte bei ihr sofort den Verlobungsring ab und gab sich ganz der Lust hin. Veronika befreite sich von anfänglichen Zweifeln in ihrem Handeln. Ihren Ritter, der nach ihr zu lechzen schien, konnte sie nicht wegstoßen. Nadine war letztendlich noch nicht mit Tom verheiratet, somit war es kein Ehebruch. Selbst wenn sie später einmal Rechenschaft ablegen musste, war es ihr das wert, dieser Versuchung nachzugeben. Denn das Gefühl, von einem wunderschönen Mann erobert und begehrt zu werden, war unbeschreiblich. Seine breiten Schultern luden zum Anlehnen ein, sein markantes Kinn und seine glasklaren, blauen Augen ließen sie träumen und alles um sich herum vergessen. Konnte wahre Liebe Sünde sein? So küsste sie schon bald seine vollen Lippen und seinen athletischen Körper. Sie glaubte, dass die angenehme Hitze, die sie verspürte, wenn sie ihn mit ihren Armen umschlang, sie einen ganzen Winter lang wärmen könnte. Sie war mit Männern noch sehr unerfahren und hatte nur wenige Verflossene auf ihrer Liste. Veronika war sich sicher, dass sie mit Tom ein Stück reifen und wachsen würde. Doch die Versteckspiele hinterließen bei ihr bald Spuren. Während Tom den Spagat zwischen Seitensprung und treu sorgendem Verlobten mühelos meisterte, fand Veronika oft nur schwer Ruhe, denn der Sog, den der Strudel des Verbotenen aus Gewissensbissen mit sich brachte, riss sie mit. Sie hatte Probleme, an manchen Tagen in den Spiegel und Nadine auf der Arbeit ins Gesicht zu sehen.

      Es gab so viele Momente, in denen Veronika kurz davor war, ihr die Wahrheit zu sagen, doch sie ließ sie immer wieder verstreichen, weil sie sich in Erinnerung rief, dass Tom unter keinen Umständen wollte, dass es seine Verlobte durch sie erfuhr. Er meinte, dass es seine Aufgabe und Bürde sei, Nadine reinen Wein einzuschenken. Er wolle den richtigen Augenblick abwarten. Daraufhin gerieten die beiden aneinander.

      »Du willst den richtigen Augenblick abwarten?«, fragte Veronika mit einem vorwurfsvollen, gar aufgebrachten Ton in der Stimme. »Mensch, Tom! Dafür gibt es nicht den richtigen Augenblick. Ich halte diese Lügerei nicht mehr aus. Mir wächst schon eine lange Nase!«

      Tom erwiderte leicht entnervt: »Dann geh doch zum Schönheitschirurgen. Ich bin mir sicher, der bekommt das wieder hin!«

      Damit war das Thema vom Tisch. Veronika traute sich nicht weiter, darauf zu pochen, dass Tom ein klärendes Gespräch mit Nadine führte. Außerdem hatte sie seine zynische Äußerung eingeschüchtert. Tom wollte auf den Adrenalinkick nicht verzichten, der ihm seine Affäre verschaffte. Sein Ego wuchs von Tag zu Tag, denn von zwei Frauen gleichzeitig geliebt zu werden, war ein Luxus der besonderen Art. Es sollte zum großen Knall kommen, als er Veronika an einem Nachmittag anrief.

      »Schatz, ich vermisse dich so schrecklich! Nadine hat mir heute in der Früh gesagt, dass sie einen Termin mit der Bauaufsichtsbehörde hat und gegen Abend den Bau einer Villa in Kampen überwacht. Es wird also später. Du hast doch heute deinen ersten Urlaubstag. Den würde ich dir gerne versüßen. Komm zu mir, so gegen sechs.« Damit meinte er Nadines Wohnung.

      Veronika zögerte: »Ich weiß nicht, Liebling. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Es ist ihr Apartment …«

      Er zerstreute ihre Bedenken: »Sobald du über die Schwelle trittst, wird es für gut eine Stunde nur uns gehören.«

      Veronika gab schließlich nach und stand Punkt sechs vor der Tür eines schönen Wohnhauses. Sie hatte noch zuvor ein Parfum von Davidoff in einem Geschäft in der Friedrichstraße für ihren Liebsten erstanden, um nicht mit leeren Händen zu kommen. Als Tom die Tür öffnete, stand er in einem blütenweißen Hemd und einer engen Jeans vor ihr. Er lächelte sie charmant an.

      Tom zog seine rechte Augenbraue leicht hoch in der Hoffnung, noch unwiderstehlicher zu wirken. Sein Ziel war es, Veronika auf verbotenes Territorium zu locken, obschon er die leichte Beklemmung in ihren Augen sah. Ferner schaute er sie bedeutsam und auch ein wenig verspielt an. Dann fixierte er Veronika mit verwegenem Blick. Er bediente sich wirklich aller Tricks der Verführung. Seine Mimik setzte er genauso gekonnt ein wie ein begabter Schauspieler. Er ergriff schließlich die Hand seiner Beute und führte sie ins Treppenhaus. Sie stiegen es hinauf, wobei Tom Veronika eilig über die Stufen zu Nadines Wohnungstür hinter sich her zog. Sie traten über die Schwelle. Tom schloss die Tür behutsam und so geräuschlos wie möglich. Im Apartment sah sich Veronika nervös um. Ihr Herz schlug in der Stärke eines Tamburins. Sie legte das Parfum, von dem Tom nicht weiter Notiz genommen hatte, auf einen kleinen Flurtisch.

      Das eigentlich stilvoll eingerichtete Reich von Nadine wirkte auf Gäste immer einladend, doch bei Veronika hielt sich das Gefühl, dass es vermint war und man jederzeit mit einer Detonation rechnen musste. Erst als sie mit Tom vorsichtig immer mehr Zärtlichkeiten auszutauschen begann, verlor sie all ihre Scheu. Beide waren vom Flur in das Wohnzimmer getreten. Sie küssten sich innig vor der Couch, die Nadine erst kürzlich bei einer Auktion in Paris erworben hatte. Diese kostbare Antiquität war sehr ausladend und Zeugnis einer längst vergangenen Zeit. Nadine hatte nämlich auch einen ausgeprägten Sinn für Inneneinrichtung sowie eine Schwäche für Möbelstücke, die Geschichte atmeten.

      Veronika und Tom waren jetzt in heißem Verlangen eng umschlungen. Ihre Zungen suchten gierig Befriedigung im Mund des anderen. Sie ließen sich schließlich auf das Sofa fallen, und ein Kleidungsstück nach dem anderen fand seinen Weg auf den Boden. Schon bald spürte Veronika, wie sie eins mit Tom wurde, und vergaß völlig ihre Umgebung. Sie lebte nun ganz für den Augenblick.

      Nadine hatte derweil schon einen großen Teil eines anstrengenden Arbeitstages hinter sich gebracht, der früher endete als erwartet. Denn nachdem sie den Termin bei der Bauaufsichtsbehörde wahrgenommen und sich darüber hinaus im Bauausschuss von Westerland für die Konstruktion von Reihenhäusern auf einem freien Grundstück der Stadt eingesetzt hatte, meinte Lennart Petri, dass sie nicht auch noch gegen Abend den Bau einer Villa in Kampen beaufsichtigen müsse. Er würde das übernehmen. So freute sich Nadine riesig über den verfrühten Feierabend. Doch sie schlug, als dieser gekommen war, nicht sofort den Weg zu ihrem Apartment ein, sondern steuerte einen der Crêpestände an, die die Friedrichstraße säumten. Sie wusste, dass Tom um diese Uhrzeit gewöhnlich von der Arbeit zu Hause war und sicherlich bereits in ihrer Wohnung auf sie warten würde. Sie wollte ihn mit seinem Lieblingscrêpe überraschen und ihm ein Stück Frankreich mitbringen. Dieses Land war nämlich auch ihr bevorzugtes Urlaubsziel. In Paris, der Stadt der Liebe, hatte er ihr damals die Frage aller Fragen gestellt und ihr auf dem Eiffelturm den Verlobungsring über den Finger gestreift. Sie war vor Freude und Glück in Tränen ausgebrochen, ihm um den Hals gefallen und hatte »Ja!« geschrien. Sie schwelgte gerne in diesen Erinnerungen. Diese stiegen in ihr auf, als sie sich in die Schlange vor dem Stand stellte. Er hatte ihr damals versprochen, dass der Goldring mit einem Diamanten besetzt würde, sobald sie vor den Traualtar schritten.

      Der Termin für die Hochzeit wurde jedoch immer wieder verschoben. Sie konnten sich auf keinen einigen, geschweige denn auf den Ort der Trauung. Während Tom eine Hochzeit in einem Skigebiet in Tirol vorschwebte, wollte Nadine auf Sylt im Spätsommer am Strand heiraten.