Liliana Dahlberg

Der Zauber von Regen


Скачать книгу

dass doch heutzutage alle Welt am Strand heiraten würde und es nichts Besonderes mehr sei.

      »Statt eines Brautkleides trägst du dann einfach einen schicken Schneeanzug. Konventionell heiraten ist doch langweilig, mein Schatz, oder sollte ich sagen, mein Schneehase?«

      Es blieb bei den Plänen. Nadine fing an, immer noch in der Schlange stehend, ein wenig zu träumen. Bei dem Gedanken, Tom dann doch eines Tages zu ehelichen, bekam sie fast schon weiche Knie wie bei ihrem ersten Kuss. Sie erinnerte sich noch genau, als sei es gestern gewesen. Sie hatten einen langen Spaziergang auf der Insel unternommen und wegen starken Regens Unterschlupf in dem Leuchtturm bei Hörnum gesucht, dessen Ausguck ein wunderschönes Panorama bot. Dort fanden ihre Lippen zueinander. Nadine wollte in diesem Moment die Zeit anhalten.

      Eine Stimme holte sie aus den Träumen. »Madame, wollen Sie nun einen Crêpe, oder was? Sie müssen schon was sagen, denn Gedanken lesen kann ich nicht.«

      Sie war an der Reihe. Ein vollbärtiger Mann, der so aussah, als sei er ein richtiger Seebär und hätte bereits alle sieben Weltmeere bereist, schaute sie erwartungsvoll an. Er trug trotz des lauen Sommerabends eine Mütze und einen roten Schal, und seine Haut schien so rau, als sei ihm schon oft der Seewind um die Nase geweht. Er bot einen lustigen Anblick. Nadine spielte ein wenig mit ihrer Fantasie. Er dachte sich wohl, dass er seine Finanzen ein wenig aufbessern könnte, indem er in seinem Rentnerdasein Crêpes verkaufte. So sah es zumindest aus. Das war aber auch nicht weiter wichtig. Mit einem strahlenden Lächeln gab sie einen Nugatcrêpe in Auftrag. Mit dieser kleinen Aufmerksamkeit wollte sie ihrem Tom eine Freude machen. Sie fand es nämlich wichtig, mit kleinen Gesten zu zeigen, dass man sich liebte und an den anderen dachte. Als sich der Crêpe nun, in Alufolie verpackt, in ihrer Hand befand, ging sie zu dem Haus, in dem sie eine siebzig Quadratmeter große Wohnung ihr Eigen nannte. Schon wenige Augenblicke später stand sie vor dem Gebäude mit seinem hellen und freundlichen Anstrich. Sie kramte mit der noch freien Hand den Schlüsselbund aus ihrer paillettenbesetzten Handtasche und öffnete die Tür. Nadine betrat den Wohnkomplex, und nur noch das Treppenhaus trennte sie von ihrem Apartment. Sie konnte es kaum erwarten, Tom in ihre Arme zu schließen. Sie erklomm im Schnellschritt die Stufen, drückte die Türklinke herunter, und das Unheil nahm seinen Lauf.

      Sie betrat ihr Apartment und vernahm deutlich ein Stöhnen, das von ihrem Wohnzimmer her an ihre Ohren getragen wurde. Sie fragte sich, ob der Fernseher angeschaltet war und Tom eine Liebeszene verfolgte. Nadine konnte noch nicht ahnen, dass dieser selbst in einer solchen involviert war und eine tragende Rolle darin spielte.

      Schließlich trat sie von dem kurzen Flur in ihr Wohnzimmer. Der Fernseher war ausgeschaltet, und dennoch sah sie Bilder, die sie nicht so schnell vergessen sollte. Ihr Blick war auf die Couch gerichtet, die gut zwei Meter vor dem Fernseher und zentral im Zimmer stand. Sie traute ihren Augen und Ohren nicht. Nadine wurde kreidebleich, als sie Tom mit Veronika beim Liebesakt sah. Sie durchlebte die schlimmsten Momente ihres Lebens. Ihr entfuhr ein heller Schrei. Schlüsselbund und Crêpe entglitten ihr und fielen geräuschvoll auf das Parkett. Dann herrschte für ein paar Sekunden Stille. Wäre jetzt eine Stecknadel auf den Boden gefallen, hätte man sie gehört. Denn Tom, der Nadine sah, als er seinen Kopf von Veronikas Hals hochhob, den er soeben noch leidenschaftlich und innig geküsst hatte, erstarrte. Seine Hand war um Veronikas Hüfte gelegt. Deren Augen waren geschlossen gewesen, weil sie das prickelnde Gefühl, das sie erlebte, noch intensiver genießen wollte, doch mit Nadines Schrei waren diese aufgesprungen. Auch bei ihr saß der Schock tief, und blankes Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie nun ihre Freundin und Kollegin erblickte. Veronikas schlimmste Befürchtungen waren eingetreten. Tom erholte sich zuerst von dem Schock, der alle im Raum gelähmt zu haben schien, und fand die Sprache wieder. Er löste sich von Veronika und versuchte, ruhig auf seine Verlobte einzureden. Sein Spiel war aufgeflogen, und sein Liebesabenteuer hatte ein jähes Ende gefunden.

      »Nadine, mein Schatz. Schön, dich zu sehen!«, log er. »Bleib jetzt bitte ganz ruhig und versuche, die Situation nicht falsch zu verstehen. Was du hier siehst, ist schließlich sehr menschlich und …«

      Nadine schnürte es die Kehle zu, und sie glaubte, dass man ihr soeben ein Messer mitten in die Brust gerammt hätte. Sie rang um Fassung. Sie fing an zu schluchzen und legte ihre Hand auf den Mund. Nadine glaubte, dass es sie innerlich zerriss. Sie musste hier raus, bevor sie erstickte oder verblutete. Sie hob ihren Schlüsselbund auf und flüchtete zur Tür.

      Tom sprang von der Couch und rannte ihr hinterher. »Nadine, so warte doch, ich kann …«

      Diese drehte sich zu ihm um und schrie ihn an, wobei ihre Worte immer wieder von einem starken Schluchzen unterbrochen wurden: »Ich soll warten? Etwa darauf, dass Veronika ihren Höhepunkt mit dir hat, du Schuft? Du hast auch nicht damit gewartet, unsere Liebe zu zerstören!« Ihre verweinte Stimme klang um ein paar Oktaven höher als sonst und sehr schrill. Aus ihr sprachen pure Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt. Sie fasste sich an den Kopf und fuhr mit ihren Händen durch ihr langes blondes Haar.

      Konnte das alles wahr sein? Sie wandte sich wieder der Tür zu, rannte hinaus und warf sie vor Toms Nase ins Schloss. Im Treppenhaus nahm sie zwei Stufen auf einmal, um so schnell es ging diesen schrecklichen Ort zu verlassen. Es gab jetzt nur noch einen, den sie sehen wollte und der ihr in dieser schwierigen Situation beistehen konnte: ihr Blacky. So fuhr eine in Tränen aufgelöste Nadine auf das Gestüt ihres Vaters.

      Es waren nun gut zwei Stunden vergangen, seitdem Nadine Zeugin vom Liebesspiel ihres Verlobten und Veronika geworden war.

      Nadine stieg gerade in ihr Auto und startete den Motor, um einen schweren Weg anzutreten. Sie wusste, dass das Geschehene sie in ihrer Wohnung wieder einholen würde. Sie zögerte. Durch das Licht der angeschalteten Scheinwerfer sah sie eine ihr bekannte Gestalt aus den Stallungen laufen. Diese war groß und hatte einen leichten Bauchansatz. Ihre eigentlich dunkel gelockten Haare waren schon von einem leichten Grauton durchdrungen, und im Gesicht, das stets offen und sehr herzlich wirkte, trug sie einen Schnauzer. Es konnte sich somit nur um ihren Vater handeln, der noch mal bei seinen Pferden gewesen war. Sie überlegte, ob sie aussteigen und sich ihm anvertrauen sollte. Schließlich verband beide ein gutes Verhältnis. Sie entschied sich dafür, ihr Leid mit ihm zu teilen, in der Hoffnung, dass es an Stärke verlieren würde. Sie stieg aus und lief auf ihren Vater zu. Er freute sich, sie zu sehen. Doch er war sehr besorgt, als er die roten, verweinten Augen seiner Tochter und ihren leidenden Gesichtsausdruck bemerkte. Er hatte sie selten so zerbrechlich gesehen und schloss sie sofort in seine Arme. Die beiden befanden sich auf der Höhe des eingezäunten Longierplatzes, der in der Mitte des Gestüts auf Ross und Reiter wartete. Er war von dem Verwaltungsgebäude auf der Stirnseite sowie rechts und links von den Ställen umgeben, die um ihn wie ein Hufeisen ausgerichtet waren.

      »Was ist passiert, mein Schatz? Geht es Blacky nicht gut?«, fragte ihr Vater sanft.

      Nadine schnaufte tief und holte Luft. Sie war noch kurz gehemmt. Dann brach es aus ihr heraus. Sie berichtete ihrem Vater alles und sparte nichts aus. Keine Träne trat mehr aus ihren Augen, doch die Schluchzer kehrten wieder.

      »Paps, ich habe Angst, nie wieder glücklich zu werden!«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe heute Abend nicht nur eine große Liebe verloren, sondern auch eine Freundin. Beiden habe ich vertraut. Sie haben mir so wehgetan …« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

      Ihr Vater strich Nadine mit seiner rechten Hand über den Rücken. Er versuchte, seiner Tochter ein Lächeln zu entlocken, und meinte schmunzelnd: »Ich als dein Vater sollte diesem Tom sämtliche Knochen brechen.«

      »Ach, Paps«, unterbrach Nadine.

      »Du brauchst nichts zu sagen, Engelchen«, meinte er, »ich weiß, es wäre schade um all die Bandagen und den Gips.« Der Plan ihres Vaters ging auf, und Nadine musste sogar etwas lachen.

      »Ich habe übrigens auch ein schwerwiegendes Problem, Nadine. Stell dir vor, deine Mutter hat sich für das kommende Wochenende angekündigt. Nach monatelanger Abwesenheit bequemt sich Madame mal wieder auf das in ihren Augen piefige und provinzielle Sylt.«

      »Und das ist ein großes Problem für dich?«, fragte Nadine überrascht.

      »Ja,