LUNATA
Nesthäkchen im weißen Haar
Nesthäkchen Band 10
© 1925 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
1. Kapitel
Marietta
Oktobersonne blinzelte durch hohe, unverhangene Fenster. Sie malte goldene Strahlenkegel an die schlichtgetünchte Wand des Klassenraumes. Sie streichelte mit warmen Fingern junge Mädchengesichter, die sich voll Andacht und Eifer dem Katheder zuwandten. Dort stand eine Frau, die mit ernsten, warmen Worten die jungen Zuhörerinnen in Bann hielt. Eine von den Frauen, die ihre starke Persönlichkeit schon beim ersten Zusammensein offenbaren. Sie war weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich. Ein feingeschnittener, kluger Kopf mit ruhigen, in die Tiefe schauenden Augen. Das war Fräulein Dr. Engelhart, die Leiterin der sozialen Frauenschule.
Zum erstenmal hatte sich die unterste Fachklasse zu Beginn des neuen Lehrjahres versammelt. Herzklopfend, in seltsamer Befangenheit, wie man einst als kleine Abc-Schützen den ersten Schritt in das Schulleben hinein getan, so hatten die fast zwanzigjährigen Mädchen heute die soziale Frauenschule betreten. Aber bei den gütigen Begrüßungsworten der Vorsteherin wich jede Befangenheit. Heiligen Ernst, erwartungsvolle Arbeitsfreudigkeit offenbarten die jungen Gesichter der Zuhörerinnen. O ja, sie wußten es, daß es ein schweres Feld war, das es für sie zu beackern galt.
»Der soziale Beruf sollte nur von denen ergriffen werden, die der Ruf einer inneren Stimme dazu treibt, die sich im wahren Sinne des Wortes dazu berufen fühlen. Soziale Hilfsbereitschaft verlangt volle Hingabe, dienende Liebe. Sie verlangt Menschen, die ihr eigenes Selbst hintenansetzen, in der Allgemeinheit aufgehen können. Nur wer mit diesen Vorbedingungen in den sozialen Beruf eintritt, wird eine beglückende, erfüllende Aufgabe finden.« So klang es ernst und verheißungsvoll von den Lippen der Sprechenden.
Fräulein Dr. Engelharts Blick, der die neuen Zöglinge prüfend überflog, blieb in der vorletzten Reihe haften. War es das goldbraune Kraushaar, über das die Oktobersonne all ihr flimmerndes Gold ausgestreut zu haben schien, das wie ein Heiligenschein ein schmales, zartes Mädchengesicht umstrahlte, was den Blick der Vorsteherin hielt? Oder waren es die großen schwarzen Augen, die in selbstvergessener Hingabe an den Lippen der Sprechenden hingen? Fräulein Dr. Engelhart, daran gewöhnt, schnell und sicher zu sondieren, empfand sofort Fäden der Sympathie und Gemeinschaft, die von dem unbekannten, neuen Zögling sich zu ihrer eigenen Person herüberspannen. Aber auch die klaren, blaugrauen Augen der Danebensitzenden mit dem schlichten Blondscheitel, die ihren Ausführungen so verständnisvoll folgten, fesselten die Menschenkennerin.
»Es ist notwendig, meine Damen,« fuhr sie in ihrer Rede fort, »daß sich jede von Ihnen sobald wie möglich, schon bei Beginn ihrer sozialen Laufbahn, klar darüber wird, zu welchem Ziele Sie der einzuschlagende Weg führen soll, welchem Sondergebiet der sozialen Fürsorge Sie sich widmen wollen. Es ist dies für die praktische Tätigkeit, die Hand in Hand mit unseren theoretischen Lehrkursen geht, unumgänglich. Wir unterscheiden drei Hauptgruppen, für die wir Wohlfahrtspflegerinnen ausbilden. Die erste ist die Gesundheitsfürsorge. Sie können auf dem Boden dieser Abteilung Beamtin an Säuglingsfürsorgestellen, städtische Armenpflegerin, Lungenfürsorgeschwester, Wohnungsinspektorin werden. Es ist ein großes Feld für soziale Tätigkeit. – Die zweite Hauptgruppe umfaßt die Jugendwohlfahrtspflege. Diese Gruppe bildet Schul-, Jugend- und Waisenpflegerinnen aus. Die dritte und letzte Gruppe ist der allgemeinen und wirtschaftlichen Wohlfahrtspflege gewidmet, insbesondere der Arbeiterinfürsorge. Fabrikpflegerinnen und Beamtinnen für Arbeiterinnenheime und Vereine gehen aus ihr hervor.«
»Das ist für dich das Richtige, Marietta, – die Arbeiterfürsorge«, flüsterte die Besitzerin der blaugrauen Augen da hinten auf der vorletzten Bank ihrer Nachbarin mit dem goldbraunen Heiligenschein zu.
»Wollen Sie sich irgendwie dazu äußern, Fräulein – wie war doch Ihr Name?« wandte sich Fräulein Dr. Engelhart freundlich an die Flüsternde.
»Ebert – Gerda Ebert.« Das blasse Mädchengesicht überzog leichte Röte. »Ich meinte nur, Arbeiterfürsorge wäre das richtige Feld für meine Kusine Marietta Tavares. Und ich selbst möchte – –«
»Nun – nun, Fräulein Ebert, ich verlange nicht, daß Sie diese für die Zukunft schwerwiegende Frage sofort entscheiden sollen. Gut Ding will gute Weile haben. Erst müssen Sie einen Einblick in unsere verschiedenen Abteilungen mit ihren Anforderungen und Pflichten bekommen, bevor Sie einen endgültigen Entschluss fassen. Dabei muß Sie Ihre eigene Veranlagung leiten. Sie selbst müssen es fühlen, zu welcher sozialen Betätigung Sie Ihr Inneres treibt. Keiner der Wege ist leicht, jeder ist gleich schwer, das darf ich Ihnen nicht verhehlen. Nur wer sich selbst geprüft hat, wer zielbewußte Pflichttreue und volle Aufopferung dazu mitbringt, ist uns als Weggenossin im Dienste der Menschheit willkommen. So, meine Damen,« – Fräulein Engelhart schlug jetzt einen sachlichen Ton an, – »nun notieren Sie bitte den Stundenplan.«
Da wurde es mancher der jungen Novizen im Reiche der sozialen Hilfsgemeinschaft etwas schwül zumute. Schon bei den eindringlich mahnenden Worten der Anstaltsleiterin hatte sich diese und jene bange gefragt, ob man auch wirklich die notwendigen Vorbedingungen für den schweren sozialen Beruf mitbringe. Himmel, man war doch knapp zwanzig Jahre alt, das Leben mit all seinen Freuden lag vor einem. Man lachte gern, man belustigte sich, und man tanzte nur allzu gern. Und doch wollte man helfen, Tränen stillen, Schmerzen lindern. Aber man hatte es sich leichter gedacht. Schon der Stundenplan. Da gab es Berufskunde und soziale Literatur, Gesundheitslehre und Gesundheitsfürsorge, Pädagogik und Jugendfürsorge. Da gab es Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, Worte, bei denen einem allein schon himmelangst werden konnte. Unter denen man sich vorläufig nur einen steilen Berg, den man niemals erklimmen würde, vorzustellen vermochte.
Die schwarzen Augen unter dem goldbraunen Kraushaar in der