nach schon entwachsen war. »Unser kleiner Idiotenjüngling« nannten ihn die jungen Helferinnen oder auch »unser Wasserköpfchen«. Marietta aber mochte das nicht hören. Ihrem warmen Herzen tat das arme Kind, das nur zum Vegetieren auf der Welt war, leid. Unermüdlich versuchte sie, die schlummernden Geisteskräfte in ihm zu wecken, mit dem Erfolg, daß er jetzt das erste Wort »Sette« sprach. Augenblicklich hatte Ottchen die Entrüstung seiner Pflegerinnen erregt. Er war noch nicht stubenrein und mußte wieder frisch behost werden.
Krampfartiges Husten aus dem Laufgitter ließ Marietta in ihrer Sorge um Ottchen innehalten. Ja, was war denn mit Mausi? Mausi hatte zwar neulich schon etwas gehustet, aber so arg ...
»Fräulein Erna, hat Dr. Ritter Mausi heute gesehen?« erkundigte sie sich erschreckt. Der Arzt kam täglich in den Kinderhort, um die Kinder zu beobachten.
Diese zuckte gleichmütig die Achsel. Fräulein Hilde aber meinte: »Die Kleine hustet ja bloß ein bißchen. Dr. Ritter hat ihr vor einigen Tagen Brechwurzelsaft verschrieben. Den nehmen wir pünktlich ein, nicht wahr, Mausichen?«
Mausichen konnte nicht antworten, denn der Husten würgte sie. Die Tränen traten dem Kind dabei in die Augen, puterrot wurde das Gesichtchen von dem Anfall.
»Mausi muß sofort isoliert werden – das Kind hat bestimmt Keuchhusten«, ordnete Marietta erregt an. Sie kannte diesen krampfartigen Küsten von ihrer früheren Tätigkeit her. »Wir müssen den Arzt und Fräulein Dr. Jungmann« – das war die Hortleiterin – »sofort benachrichtigen. Hier muß desinfiziert werden. Hoffentlich ist noch keins von den anderen Kindern angesteckt.«
Mausi wurde mit Gummiquietschpuppe und einer abwaschbaren Zelluloidkatze in die Isolierbaracke, einem Nebenzimmer, eingeliefert. Fräulein Erna, die sie dort betreuen sollte, behauptete, den Keuchhusten noch nicht gehabt zu haben und für Ansteckung besonders empfänglich zu sein. Fräulein Hilde fand, sie sei bei den anderen Kindern unentbehrlich. So wanderte Marietta mit Mausi, Gummiquietschpuppe und Zelluloidkatze in den Isolierraum.
Vergebens warteten die Hortkinder nach Fertigstellung ihrer Tapeten, Teppiche und sonstiger Einrichtungsgegenstände für das Puppenhaus auf Tante Jetta und die versprochene Belohnung. Zum erstenmal hielt Tante Jetta heute nicht Wort. Sie kam nicht wieder zum Vorschein. Gewissenhaft hielt sie sich von den andern Kindern fern und versuchte der armen Mausi jede nur mögliche Erleichterung zu verschaffen.
Die enttäuschten Kinder, die vergeblich warteten, begannen wieder Unfug zu treiben. Sie verdarben sich gegenseitig die mühsam verfertigten, netten Sachen und fingen, da Tante Martha grade in der Küche die Schüsselchen mit Grießbrei füllte, wiederum an zu johlen und sich wie junge Katzen zu balgen.
Der Lärm lockte Fräulein Dr. Jungmann herbei. »Ja, Kinder, was soll denn das heißen? Schämt ihr euch nicht, euch so ungezogen zu benehmen?« donnerte sie in den Tumult hinein. Vor Tante Jungmann hatten sie alle Respekt, die Kleinen sowohl wie die Großen. Eingeschüchtert ließen sie voneinander ab.
»Wo ist Tante Marietta?« forschte die Leiterin ärgerlich. An den Tagen, an denen Marietta im Hort arbeitete, pflegten derartige Radauszenen nicht vorzukommen.
Ingeborg erstattete Bericht, daß Tante Jetta zu den Kleinen gegangen und nicht wiedergekehrt sei. In der Laufkrippe erfuhr Fräulein Dr. Jungmann, was sich zugetragen, und gab sofort die notwendigen Anweisungen zum Desinfizieren.
»Sie haben verständig und umsichtig gehandelt, Fräulein Tavares«, sagte darauf die Hortleiterin, den Isolierraum betretend. »Aber Sie hätten irgendein anderes junges Mädchen bei dem Keuchhustenkind lassen sollen. Ihre Unterstützung ist mir bei der Gesamtheit von größerem Wert.«
Kein Wort kam über Mariettas Lippen, daß die anderen sich der Pflicht entzogen hatten.
Die Türglocke begann jetzt ihre Stimme zu erheben, in kleinen Zwischenräumen, als könne sie sich gar nicht beruhigen. Das waren die von der Arbeit kommenden Mütter, die ihre Grießbrei löffelnden Kleinen aus dem Kinderhort heimholten. Wie leuchteten die Augen in den blassen, verarbeiteten Gesichtern beim Anblick des den ganzen Tag entbehrten Lieblings. Wie sprangen die Kleinen der Mutter in die Arme. »In'n Hort is scheen, aber bei Muttern is's noch ville scheener!«rief Paulchen mit strahlenden Gesicht.
Mausis Mutter wurde davon verständigt, daß sie ihre Kleine mit Rücksicht auf die andern Kinder für einige Wochen zu Hause behalten müßte. »Ach Jotte doch, ach Jotte doch, nu hatte ich jrade so'n scheenen Verdienst, und nu muß ich wieder mit der Arbeit aufhören. Wo soll ich denn Mausichen bloß lassen? Die Nachbarin hat selbst sechse, die wird sich hüten und Mausichen auch noch nehmen. Noch dazu mit'n Keuchhusten. Den hat se sich doch sicher bei Ihnen hier jeholt, und nu, wo se'n weghat, wird se an die Luft jesetzt.«
»Hören Sie mal, liebe Frau Adumat, wenn Sie für all die Liebe, die Ihr Kind hier genießt, sich noch undankbar und ungehörig benehmen, brauchen Sie die Kleine überhaupt nicht mehr herzubringen«, bedeutete ihr Fräulein Dr. Jungmann energisch.
»Jotte doch, so war's doch nich jemeint. Ich weiß doch man bloß nich, wo ich mit das Wurm hin soll. Man braucht doch jetzt die paar Jroschen so notwendig«, entschuldigte sich Mausis Mutter. Marietta wandte sich bittend an die Leiterin. »Würde ein Kinderkrankenhaus die Kleine nicht aufnehmen?« fragte sie leise. Die soziale Not griff ihr ans Herz.
»Nee, in 'n Krankenhaus jeb' ich mein Mausichen jar nich. Da krieg ich ihr nich lebendig wieder raus. Lieber hungern wir.«
»Sie sollen nicht hungern, Frau Adumat«, versprach Marietta eifrig.
Unten auf der Straße im Regengeriesel des frühen Dezemberabends, durch den die Mutter sorgenvoll mit ihrem Kinde heimschritt, fühlte die Frau plötzlich einen Papierschein sich zwischen ihre erklammten Hände schieben.
»Das ist für Mausis Pflege und recht gute Besserung!« sagte eine liebe Stimme.
Es war doch schön, Geld zu haben – wenn man andern damit helfen konnte.
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