Else Ury

Nesthäkchen im weißen Haar


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aufzunehmen und durchzuführen. Du bist körperlich und seelisch viel zu zart. Dazu bedarf es robusterer Nerven, amerikanischer Rücksichtslosigkeit, um sich dort drüben durchzusetzen. Du würdest bald flügellahm werden. Ganz abgesehen davon, daß du dich niemals bei der lähmenden Tropenhitze wohl gefühlt hast und sicher nicht imstande wärst, dabei ernsthaft zu arbeiten. Hast du mir nicht selbst erzählt, wie ihr in den heißen Monaten bei verdunkelten, gegen die Sonne fest versperrten Jalousien, matt und zu jeder Tätigkeit unlustig, vegetiert habt? Wie ihr euch um den ein wenig Kühlung spendenden Rieseneisschrank geschart habt und nur nachts ins Freie konntet? Glaubst du, dabei etwas schaffen zu können? Nein, Seelchen, du hast nur eine Pflicht, die, welche jeder Mensch hat, gegen sich selbst. Du bist für die Tropen ungeeignet. Auch deine Eltern sind bereits zu dieser Erkenntnis gekommen. Der Hauptzug deines Wesens ist deine Liebe und Fürsorge für die Kinder. Denen gehört deine Arbeit. Deine Pflicht ist es, für den Kreis zu wirken, für den du berufen bist, den du auszufüllen vermagst. Ob das nun in Amerika oder in Europa geschieht – wo du etwas leistest, wo du Gutes schaffst, da liegt deine Pflicht.«

      Still war's, nachdem die Großmama gesprochen. Der warme, eindringliche Ton ihrer Worte schwang noch lange durch den verdämmernden Tagesglanz. Lange hing er Marietta noch im Ohr. Sie vermochte nicht gleich zu antworten. Immer dichter wurden die dunklen Schleier, welche Strauchwerk, Bäume und Häuser umwanden. Hier und da blitzten am Bahnkörper gelblich blinzelnde Lichter auf. Vom Grunewald her kam es feucht herangekrochen. Schon kam man wieder in bewohnte Gegend.

      Da blieb Marietta stehen und schmiegte ihr Gesicht fest an den lieben, weißhaarigen Kopf der Großmama. »Heute hast du mir das Beste für mein Leben gegeben, Großmuttchen. Deine Worte sollen mir ein Wegweiser sein.«

      3. Kapitel

      Kinderhort

      Kleine Näschen drückten sich gegen die regenbespritzten Fensterscheiben. Sieben an der Zahl. Die dazu gehörenden Kleinen, Mädel und Jungen zwischen drei und sechs Jahren, standen auf Kinderstühlchen und Bänken und spähten angelegentlich hinaus. Da gab's eigentlich wenig zu sehen in dem grauen, verregneten Hofgarten. Ein entlaubter Kastanienbaum, der seine triefenden Zweige schüttelte, ein nasser Fliederbusch. Drüben am Gesims des roten Backsteingebäudes ein paar frierende Spatzen, zu einem nassen Federknäuel zusammengerollt.

      »Tante Jetta kommt noch immer nicht«, stellte ein kleines Mädchen mit einem gelben, in semmelblonde Zöpfchen eingeflochtenen Zigarrenbändchen seufzend fest.

      »Tante Jetta soll aber nu endlich kommen und mit uns spielen«, verlangte ein kleiner Hosenmatz energisch.

      »Nee, lieber wieder von'n Weihnachtsmann erzählen, das is viel scheener«, rief Paulchen mit dem ständigen Schmutznäschen.

      »Und zu Weihnachten wünsch' ich ma von'n Weihnachtsmann 'ne Puppe, so' ne jroße –«, rief das niedliche Käthchen. »Nee, lieber für Vatern 'n Paar neue Stiebel. Er hat jesagt, er kiekt schon mit de Hühneraugen aus seine alten raus.« Das war der etwas ältere, schon verständigere Bruder.

      »Weihnachten is nich – wir haben kein Jeld für sowas. Weihnachten is man bloß was für die reichen Leute, hat meine Mutter jesagt«, meinte Ingeborg mit dem spitzen, altklugen Gesicht. Sie war die Älteste der Abteilung, schon neun Jahre alt, und beteiligte sich nicht an dem Hinausspähen. Sie saß auf einer Bank und strickte an einem Strumpf wie eine Alte.

      »Haach – is ja gar nicht wahr. Tante Jetta hat uns erzählt, der Weihnachtsmann bringt allen Kindern was, wenn sie artig sind. Nicht bloß den reichen. Und meine Muttel sagt das auch«, rief Lenchen mit dem gelben Zigarrenzopfband.

      »Die wissen das ja gar nicht – – –«

      »Was – die Muttel und Tante Jetta wissen alles. Die Tante Jetta ist so klug und so gut ach, wenn sie doch bloß erst käme!« rief ihre eifrigste kleine Verehrerin.

      »Wenn sie doch bloß erst käme!« echote der Kinderchor sehnsüchtig hinterdrein und preßte aufs neue die Näschen gegen das Fensterglas, bis Tante Martha mit den Frühstücksbechern erschien.

      Die kleine Gesellschaft mußte heute noch recht lange auf die von allen besonders geliebte Tante Jetta warten.

      Die saß noch drüben in dem roten Backsteingebäude und bemühte sich eifrig, den sozialpädagogischen Ausführungen von Fräulein Dr. Engelhart zu folgen. Das waren Mariettas liebste Stunden bei der bedeutenden Leiterin der Anstalt. Es war nicht nur die geistvolle, anregende Art, mit der Fräulein Doktor auch das nüchternste Ding behandelte, es war vor allem die Wärme, die sie in alles zu legen wußte, das völlige Aufgehen in ihrem Vortrag. Das schaffte einen unsichtbaren Zusammenhang mit den Schülerinnen und riß selbst die gleichgültigeren mit fort. Oh, es war nicht immer so ganz einfach zu folgen. Es erforderte strenge Gedankenkonzentration, ernst logische Folgerung. Hatte man mal auch nur sekundenlang an etwas anderes gedacht – schon hatte man den Faden verloren und irrte wie in einem geistigen Labyrinth umher. Ebenso wie Fräulein Dr. Engelhart an sich selbst die höchsten Anforderungen stellte, so verlangte sie das gleiche auch von ihren Schülerinnen. Sie waren keine Schulkinder mehr, sie waren erwachsene Menschen, die wissen mußten, worauf es ankam. Sie mußten reif genug sein, um den Ernst der Arbeit zu erfassen. Bei den meisten traf das auch zu. Aber einige gab es doch darunter, denen entweder die Fähigkeit des scharfen logischen Denkens abging, oder andere, die es gar nicht wollten, denen es zu unbequem war. Es war fabelhaft, wie die Vortragende diese aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln verstand und zur Teilnahme heranzuziehen wußte. Der Faden der Sympathie, der sich gleich am ersten Tage von Fräulein Dr. Engelhart zu Marietta Tavares hingesponnen, hatte sich befestigt. Marietta war eine der Eifrigsten und Lernbegierigsten und verehrte die Vorsteherin ganz besonders. Und auch diese hatte die strebsame Schülerin von allen am meisten in ihr Herz geschlossen. Die großen, schwarzen Augen, die so sprechend jede Empfindung ihrer Besitzerin wiedergaben, Mariettas zarter Liebreiz, verbunden mit ihrer Bescheidenheit, hatten es Fräulein Dr. Engelhart angetan. Heute winkte sie ihr nach Beendigung der Unterrichtsstunde.

      »Fräulein Tavares, bitte, noch einen Augenblick.« Und als Marietta nach vorn getreten war, fuhr sie fort: »Sie sind jetzt sechs Wochen drüben im Kinderhort praktisch tätig. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit dort?«

      »Oh, sehr gut«, kam es aus vollem Herzen.

      »Man ist auch dort recht zufrieden mit Ihnen. Nur meinte die Hortleiterin« – Mariettas schwarze Augen wurden ein wenig bange –, »daß Sie dort nicht mehr viel zu lernen haben. Sie beherrschen die Horttätigkeit besser als die jungen Damen, die schon länger dort arbeiten.«

      »Ich bin früher schon in verschiedenen Krippen, Horten und Kinderheimen tätig gewesen«, wehrte Marietta bescheiden das Lob, obgleich es ihr große Freude bereitete, ab.

      »Dann haben Sie gewiß den Wunsch, an einer anderen Stelle praktisch zu lernen. Ich dachte mir, vielleicht in der Waisen- oder in der Schulpflege. Auch in einer Jugendlesehalle könnten Sie sich betätigen. Ich komme dabei gern Ihren persönlichen Wünschen entgegen.«

      Mariettas Gesicht, von dem zarten Ton der Teerose, ward rosig überhaucht. Ein Zeichen dafür, daß sie erregt war.

      »Dürfte ich nicht noch einige Zeit drüben im Hort bleiben?« bat sie, allen Mut zusammenraffend. »Ich habe meine Arbeit und vor allem meine kleinen Schutzbefohlenen dort lieb gewonnen. Es würde mir schwer werden, sie so schnell zu verlassen. Die Kinder freuen sich schon darauf, mit mir Weihnachten zu feiern, und ich möchte sie nicht enttäuschen.«

      Fräulein Doktor schüttelte ihr herzlich die Hand. »Brav, Fräulein Tavares. So soll es sein, daß man seine Arbeit lieb gewinnt und sich schwer davon trennt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie noch einige Zeit drüben bleiben wollen. Freilich müssen wir auch daran denken, daß Ihre weitere Ausbildung nicht darunter leidet.« Damit war die Unterredung beendet. Es erfüllte Marietta mit freudiger Genugtuung, daß Fräulein Dr. Engelhart mit ihr zufrieden war.

      Ja, ihre kleinen Freunde drüben mußten sich heute noch recht lange gedulden, bis Tante Marietta kam. Für die gab's noch eine Stunde Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik. Das waren ziemlich fremde, schwierige