Else Ury

Nesthäkchen im weißen Haar


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Mauern mit farbenschreienden Reklamen sausten vorüber, Neubauten, herbstlich buntgefärbte Laubenkolonien. Das junge Mädchen nahm den unterbrochenen Faden seiner Gedanken wieder auf.

      War es Feigheit, daß sie sich in dieser für ihre Zukunft ausschlaggebenden Frage nicht von der Großmama raten lassen wollte? Fürchtete sie, die Großmama könnte in ihrer Selbstlosigkeit Verzicht leisten, um sie nicht größeren Lebensaufgaben zu entziehen? Hatte sie doch schon öfters geäußert, ob es auch recht von ihr sei, die junge Enkelin so ganz an sich zu ketten, sie ihren Eltern und Geschwistern zu nehmen. Nein, es war nicht nur Feigheit vor dem stets ehrlich-geraden Urteil der Großmama. Sie dachte mehr dabei an die liebe alte Frau, als an sich selbst. Sie durfte sie nicht vor einen Entschluss stellen, der sie Herzblut kosten würde. Gerda Ebert hatte recht – allein mußte sie damit fertig werden.

      Beinahe wäre Marietta über ihr Ziel hinausgefahren. Sie war so in ihre Überlegungen vertieft, daß sie erst im letzten Augenblick ans Aussteigen dachte. Nun schritt sie langsam die mit samtroten Blutbuchen bestandene Villenstraße entlang. In den Gärten trug Baum und Busch metallflimmerndes Herbstkleid. Oh, diese Farben! Vom zartesten Goldton bis zum leuchtendsten Kupfer. Ganz besonders liebte Marietta den deutschen Herbst mit seinem letzten Aufglühen der Natur, bevor Winterstille sie umfing. Unter Silberwolken schossen im Bogenflug blaue Schwalben. Sie sammelten sich zur Reise in ferne Sonnenländer.

      Und sie selbst zog es nicht heim, in das Sonnenland ihrer Kindheit? Wo die Palmen ihre Blätterdächer vor sengendem Strahl schützend wölbten. Wo die Blumen und Früchte in ganz anderer Schönheit, Größe und Farbenpracht glühten. In das schlossartige Marmorhaus mit den schwarzen Dienern und Dienerinnen, mit all seinem Luxus, all seinem Reichtum?

      Nein – Marietta schüttelte den Kopf, als habe sie irgend jemand Antwort auf die stumme Frage zu geben. Nein, das hatte sie niemals hier in Deutschland, in der schlicht bürgerlichen Häuslichkeit der Großeltern entbehrt. Die einfachen Lebensbedingungen hier entsprachen viel mehr ihrer bescheidenen Sinnesart. Freilich, nach den Eltern, vor allem nach der Mutter, war ihr im Anfang recht bange gewesen. Und Anita, ihre Zwillingsschwester, fehlte ihr auf Schritt und Tritt. Auch nach Klein-Juan erwachte öfters die Sehnsucht, besonders an den Sonntagnachmittagen, wenn sich die kleinen Vettern in Lichterfelde bei den Großeltern einfanden. Aber solche Stimmungen waren nur selten. Die wußte die Großmama stets feinfühlend durch Lektüre eines guten Buches, durch irgendeinen gemeinsamen Kunstgenuss oder auch nur durch ein liebes Wort zu zerstreuen. Nein, Marietta hatte es niemals bereut, daß sie als fünfzehnjähriges Backfischchen den Entschluss gefaßt hatte, die Eltern und Geschwister allein über das große Wasser zurückgehen zu lassen, bei den Großeltern in Deutschland zu bleiben. Das Beste in ihr hatten diese Jahre ihr gegeben, das Streben, sich innerliche Werte zu eigen zu machen. Das war ihr besonders bewußt geworden, als Anita als Siebzehnjährige zum zweiten Male nach Europa herüberkam, um ihre Violinstudien zu vervollkommnen und vor allem, wie sie lachend sagte, ihren treulosen Zwilling heimzuholen. Da hatte sie es täglich, fast stündlich, empfunden, daß sie sich bei all ihrer Liebe zu der Schwester mit dieser ganz auseinandergelebt hatte. Anita war inzwischen eine fertige junge Dame geworden, die sich ihrer Schönheit und ihrer gesellschaftlichen Stellung durchaus bewußt war. Kaum, daß sie ihre Musikstudien ernst nahm. Sie war nur darauf bedacht, Vergnügungen zu genießen und durch ihre Toilettenpracht, durch ihre sprühende Lebhaftigkeit ihre Umgebung zu blenden. Was Marietta Freude machte, ihre guten Bücher, von denen jedes ihr ein Freund war, die Berliner Galerien und Museen mit ihren Kunstschätzen, ihre armen Kinder im Hort und in der Kleinkinderkrippe, für die sie nach absolvierter Schulzeit mütterlich sorgte, das alles tat Anita mit einem geringschätzigen Achselzucken ab. »Spießbürgerlich« hatte sie das alles genannt, Mariettas einfachen, aber geschmackvollen Anzug »unmöglich«. »Es wird höchste Zeit, daß du wieder nach Sao Paulo zurückkehrst, Jetta«, so hatte sie sich geäußert. »Ich muß dich wieder ganz ummodeln. Sonst halten dich unsere Bekannten am Ende noch für Juans deutsche Erzieherin.« Es sollte scherzhaft klingen, aber der Blick, der Mariettas schlichtes Äußere musterte, war mißbilligend. Und als Marietta ihr antwortete, daß sie besseres zu tun habe, als sich den ganzen Tag mit bunten Seidenfahnen zu behängen und in den Spiegel zu schauen, da verstand Anita sie gar nicht. Was konnte es denn besseres geben, als sich so hübsch wie möglich zu machen. Sie hatte Anita für ihre kleinen Schützlinge zu interessieren gesucht, sie mitgenommen in den Kinderhort, ihr erzählt, welch ein Segen diese Einrichtung für die arbeitenden Mütter bedeutete, wenn sie ihre Kleinen inzwischen gut versorgt wußten. Naserümpfend hatte Anita zugesehen, wie die ärmlich gekleideten Kinder freudestrahlend auf die Schwester zuliefen, sie mit zärtlichen Ärmchen zu umfangen. Sie hatte ihre eleganten Sachen zusammengerafft, daß sie nur nicht in Berührung mit den Armen kämen. Aber als Marietta all die Händchen vor dem Essen wusch und das Kleinste gar selbst auf den Schoß nahm, um es zu füttern, wurde es Anita doch zu stark. »Das ist keine Arbeit für eine Tavares! Wie kannst du deine Familie nur derart erniedrigen, Jetta. Nimm dir eine Dienerin, die derartige Arbeit macht.« Als wäre es heute, hörte Marietta sich darauf antworten: »Arbeit erniedrigt nicht, Nita, noch dazu eine Arbeit im Dienste der Menschenliebe. Aber eine Gesinnung, die voll Hochmut nur sich selbst kennt, nur für Äußerliches Interesse hat, die erniedrigt. Fühlst du denn nicht, was für eine innere Befriedigung mir daraus erwächst, wenn ich diesen armen, kleinen Wesen die Mutter ersetzen kann?« Anita hatte den Kopf geschüttelt, dann aber doch etwas beschämt in die Tasche gegriffen: »Hier ist Geld. Kaufe den armen Kindern hübsche Kleider.« – »Sie brauchen Notwendigeres, Nita, Wäsche und Schuhe.« Aber sie hatte das Geld nicht zurückgewiesen, um die Schwester nicht zu kränken. »Anita ist nicht schlecht, nur grenzenlos verwöhnt und von ihrer eigenen Person vollständig ausgefüllt. Wir sind nicht mehr auf denselben Ton gestimmt. Unsere Interessen gehen ganz und gar auseinander.« Es war eine bittere Stunde, in der Marietta diese sie schmerzende Wahrheit zum ersten Male empfunden, daß sie sich von der Genossin ihrer Kinderzeit auch innerlich weit entfernt hatte. Und mit dieser Erkenntnis kam die daraus erwachsende ihr zum Bewusstsein: Ebensowenig wie sie zu Anita paßte, war sie noch für Brasilien geeignet. Sie würde sich dort nicht mehr wohlfühlen, trotzdem es ihr Vaterland war. Das glühende Tropenklima, das die Schaffenskraft lähmte, die damit Hand in Hand gehende Verwöhnung der Frauen, der Luxus und die auf Äußerlichkeiten gestellte Geselligkeit würden sie nicht mehr befriedigen. Die Mutter hatte dort ihren Mann und ihre Kinder, sie hatte ihre Musik, die sie ausfüllte. Aber sie? – »Du hättest deine soziale Arbeit, du könntest dort für die Arbeiter eintreten und ihre menschenunwürdige Lage verbessern.« Wie oft hatte sie sich das gesagt. Den Arbeitern des großen Kaffeehauses Tavares ging es nicht schlecht, dafür hatte sich ihre Mutter schon eingesetzt. Die hatten gesunde Wohnungen und ihr Auskommen. Aber auf den anderen Plantagen sah es bös aus. Durfte sie sich den Mut, die Kraft zutrauen, Fremde für ihre sozialen Bestrebungen zu gewinnen? Man kannte drüben nur das Geld. Wenn es gegen die materiellen Interessen der Besitzenden ging, war der Kampf ziemlich aussichtslos. Nein, Marietta hatte sich bisher noch nicht reif und stark genug gefühlt, um ein derartiges Werk zu unternehmen. Sie hatte die Eltern gebeten, sie weiter in Deutschland zu lassen, um später die soziale Frauenschule zu besuchen. Vielleicht erwuchsen ihr daraus ungeahnte Kräfte. Gern war ihr die Zustimmung der Eltern nicht zuteil geworden. Der kluge Vater erkannte, daß sich die Tochter amerikanischem Wesen und heimischen Sitten entfremdete, daß sie in Deutschland Wurzel schlug. Und die Mutter? Nun, eine Mutter leidet stets, wenn sie eins ihrer Kinder entbehren muß. Trotzdem war sie es, die als Fürsprecherin für die Tochter eingetreten. Marietta war im Kern ihres Wesens deutsch, das wußte sie am besten.

      An dem Gitter des großväterlichen Gartens war Marietta stehengeblieben. Dort lag das liebe Rosenhaus, jetzt seines schönsten Schmuckes entkleidet. Die Kletterrosen, die es umrankten, hatten abgeblüht. Nur hier und da auf dem großen Rasenrondell, das von Großpapas Edelrosen umsäumt wurde, hatte der warme Oktobersonnenschein noch eine Spätrose hervorgelockt. Aber die Astern und Georginen blühten dafür in übermütigster Buntheit, als wüßten sie es nicht, daß sie die letzten Grüße des scheidenden Sommers bedeuteten. In flimmerndem Goldkleid stand die Linde da – Marietta mußte an das Bäumlein denken, das andere Blätter hat gewollt. Die Großmama hatte ihr und Anita vor Jahren das Gedicht vorgelesen, damals, als sie aus Brasilien herübergekommen. Die ganze Poesie der deutschen Märchen hatte die Großmama über die aufhorchenden Kinder ausgeschüttet. Was hatte sie ihr nicht gegeben, die liebe Großmama?