bekam, bedeutete für deutsche Begriffe eine recht beträchtliche Summe. Die persönlichen Bedürfnisse des einst so eleganten Tropenprinzesschens waren in Deutschland in dem bürgerlich-bescheidenen Heim der Großeltern ebenfalls bescheidener geworden. Trotzdem Marietta nur gewöhnt war, das Beste zu kaufen und sich vornehm elegant kleidete, entsprach Schlichtheit dem Grundzuge ihres Wesens. Den Hauptteil des väterlichen Schecks verwandte sie dazu, um anderen eine Freude zu machen. Ihre kleinen Schützlinge im Kinderhort und in der Krippe waren ihre besten Abnehmer. Sie hatte es auch angeregt, daß Lottchen in ein Lyzeum umgeschult wurde. Der Großvater stimmte nicht dafür. »Unsere Volksschulen sind so vortrefflich, daß sie eine solide, ausreichende Grundlage für den späteren Beruf geben. Wozu soll das Kind über seinen Stand hinaus? Es braucht nicht französisch und englisch zu lernen.« Aber Marietta mit ihren sozialen Grundsätzen hatte ihm auseinandergesetzt, daß jedem Menschen mit guter Veranlagung die Gelegenheit geboten werden müsse, so viel wie möglich zu lernen. Der Großpapa dachte doch sonst so human – alt und jung verstanden sich darin nicht. Die Großmama mußte wieder mal vermitteln. Sie schlug sich auf Mariettas Seite. Warum sollte man dem Kinde, wenn die dazu erforderlichen Geldmittel da waren, nicht die Möglichkeit geben, sich durch gute Bildung in eine höhere Lebenssphäre hinaufzuarbeiten? Es war ganz ausgeschlossen, daß sich Lottchens Anverwandte, nach denen man jahrelang Nachforschungen angestellt, noch melden würden. Lottchen war ein liebes, bescheidenes Kind, das seinen Pflegeeltern auch dankbar bleiben würde, wenn ihr Lebensweg sie in gebildete Kreise führte. So war Lotte Lyzeumsschülerin geworden und gehörte dort zu den besten. Freilich, Marietta setzte auch ihre Ehre darein, das Kind in jeder Weise zu fördern, daß sie ihrer Fürsprache keine Schande machte.
Heute war die junge Lehrerin nicht so bei der Sache wie sonst. Und diese Gedankenabwesenheit übertrug sich auf die Schülerin. Denn ein Kind merkt es sofort, ob der Lehrende sich ganz einsetzt, oder ob seine Gedanken woanders weilen.
»To say – said – said, to forgot – forget – forgetten – – – stimmt das, Fräulein Marietta? Ach, Sie haben ja gar nicht aufgepaßt. Hier steht's ›ich habe vergessen‹ heißt › I have forgotten‹«, beschwerte sich die Schülerin über die Lehrerin, das Pauken der unregelmäßigen englischen Verben unterbrechend.
Marietta fuhr beschämt hoch. »Wirklich, Lottchen, ich habe eben nicht aufgepaßt«, gab sie ehrlich zu. »Fange noch mal von vorn an.« Und sie gab sich redlich Mühe, ihre Gedanken fest auf die unregelmäßigen Verben zu richten. Aber das Herunterleiern derselben war eintönig und langweilig. Lottchen konnte sie wie am Schnürchen. Während Marietta die Blicke auf das blühende Kindergesicht richtete, mußte sie unwillkürlich daran denken, wie elend und bleich, wie mager und abgezehrt das Kind gewesen, als sie es in den Tropen in ihr Haus genommen. Freilich, daran waren die ungesunden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter in Brasilien schuld. Lottchens Eltern, die als deutsche Auswanderer dort drüben ihr Glück zu finden glaubten, hatten das Tropenklima und die unhygienischen Wasserverhältnisse das Leben gekostet. Sie waren einem typhösen Fieber erlegen. Wieder sah Marietta die fensterlose Lehmhütte in dem Plantagendorfe der Orlandos, einer der reichsten Familien drüben, vor sich, zu der ihr kleiner Findling sie einst geführt. Damals war zuerst der Wunsch in dem vierzehnjährigen Mädchen erwacht, soziale Hilfe zu leisten, den Armen, Bedrückten zu helfen.
»To know – knew – knewed – nein, knowd wie heißt denn ›gewußt‹, Fräulein Marietta?« Lottchen blickte ganz verwundert auf ihre sonst so pflichteifrige Lehrerin, die schon wieder nicht aufmerksam zu sein schien.
»Known muß es heißen, Lottchen – to know – knew – known«, beeilte sich Marietta ihren Fehler wieder gutzumachen. Ihre Gedanken kehrten endgültig von den Kaffeeplantagen zu Lottchens unregelmäßigen Verben zurück. Die Stunde nahm nun ohne Störung ihren Fortgang, bis Frau Trudchen unten mit den Kaffeetassen klapperte.
Die Nachmittagskaffeestunde liebte Frau Annemarie jetzt ganz besonders. Sie war ihr die gemütlichste am Tage, da dieselbe ihre Lieben um sie vereinte. Sonst fehlte meistens einer bei den Mahlzeiten oder hetzte, um fortzukommen. Seitdem der Geheimrat nur noch vormittags in der Klinik seine Sprechstunde abhielt, war er nachmittags frei, wenn nicht gerade ausnahmsweise noch ärztliche Besuche vorlagen, oder sich ein kühner Patient erdreistete, den Nachmittagsfrieden der alten Herrschaften durch unerwünschtes Klingeln zu unterbrechen. Das heißt unerwünscht nur bei Frau Annemarie. Sie wollte, daß ihr Mann sich allmählich zur Ruhe setzen sollte, daß er mit seinen Kräften haushielt. Er hatte lange genug, Tag und Nacht bei Wind und Wetter seine Pflicht getan. Aber der alte Herr knurrte, daß man ihn jetzt zum alten Eisen warf. Er war überhaupt in seiner Stimmung nicht mehr so gleichmäßig wie früher. Es war für Frau Annemarie oft gar nicht leicht, heiter und geduldig zu bleiben. Wenn Marietta daheim war, hob sich sein Stimmungsbarometer erstaunlich. »Ich werde auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden«, drohte die Großmama oft.
Heute war Großpapa guter Laune. Sein Nachmittagsschläfchen hatte ihn erfrischt, das Kind, sein »Mariele«, wie er Marietta auf gut deutsch nannte, schenkte ihm den Kaffee ein, und derselbe war so heiß, daß man sich den Mund daran verbrannte und ihn beim besten Willen Frau Trudchen nicht zurückschicken konnte, weil er nicht heiß genug sei.
»Echt Tavaressches Gewächs – ja, ja, ein Familienprodukt mundet doch ganz anders. Das hat halt unser Ursele mit besonderer Liebe drüben geerntet.« Der Geheimrat pflegte diesen Witz seit einundzwanzig Jahren zu machen, seitdem seine Jüngste Milton Tavares, dem Kaffeekönig von Santos, übers Meer gefolgt war. Seitdem die großen überseeischen Sendungen regelmäßig eintrafen. Man trank in Lichterfelde gar keinen anderen Kaffee. Aber Frau Annemarie tat ihrem Manne den Gefallen, seinen Witz, wie stets, pflichtgemäß zu belachen.
»Nun erzähl' halt, Kind, wie's in deiner neuen Zwangsanstalt gewesen ist«, begann der alte Herr, sich gemütlich in die Sofaecke zurücklehnend, nachdem die Enkelin ihm die übliche Nachmittagszigarre, Aschbecher und Streichhölzer hingesetzt hatte. Er ließ sich gar zu gern von Marietta verwöhnen.
»Ja, da ist noch nicht viel zu berichten, Großpapa. Die Leiterin der sozialen Frauenschule, Fräulein Dr. Engelhart – – –«
»Fräulein Dr. Engelhart, wahrscheinlich mehr hart als Engel. Ein arg verschrobenes, bebrilltes Frauenzimmer, gelt?«
»Das ist Fräulein Doktor Engelhart ganz und gar nicht, Großpapa. Sehr gescheit und lieb ist sie. Aber freilich große Anforderungen scheint sie an uns zu stellen.« Marietta sah ein wenig sorgenvoll drein.
»Bist wohl noch nit blassschnäbelig genug – ich hätt' meine Einwilligung nimmer zu dem Unfug geben sollen«, knurrte der alte Herr.
»Unfug – wenn man seinen notleidenden Mitmenschen helfen will«, verteidigte das junge Mädchen eifrig seine sozialberuflichen Pläne. »Du hast den Unfug doch fünfzig Jahre mitgemacht, Großpapa. Der Arzt – und noch dazu einer, der seinen Beruf so auffaßt wie du – ist doch genau solch ein sozialer Arbeiter.«
»Hm – na ja – gegen die praktische Arbeit habe ich auch nix einzuwenden.« Marietta hatte den Großpapa schon wieder besänftigt.
»Ja, hast du denn nicht zum Examen studieren müssen? Denke nur, was wir alles wissen sollen: Hygiene und Psychologie, Sozialethik und Sozialpädagogik, Volkswirtschaftslehre und – – –«
»Hör' auf, hör' auf, Seelchen, mir wird ganz schwindlig dabei.« Die Großmama blickte von der bunten Häkelarbeit – einer Schlummerrolle, mit der sie den Großpapa zum Geburtstag zu überraschen gedachte – ganz erschreckt hoch.
»Du hast recht, Großmuttchen, mir ist auch etwas schwül zumute geworden. Für Gerda ist das natürlich nur alles Kinderspiel.«
Aha – die Großmama machte sich einen Knoten in ihr Gedächtnis. Da mußte sie einhaken. Da lag sicher der Grund zu Mariettas Verstimmung heute mittag.
»Und wenn du all das Zeug in deinen Kopf 'neingetrichtert hast, was kannst dann werden, Mädle? Städtischer Nachtwächter oder gar Frau Wirtin im Asyl für Obdachlose?« zog sie der alte Herr gutgelaunt auf.
»Unsere Jetta bleibt bei ihrer kleinen Garde, die wird ihren Hort- und Krippenkindern nicht untreu«, kam Großmama ihrem Liebling zu Hilfe.
»Das