Else Ury

Nesthäkchen im weißen Haar


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und doch – die Begeisterung, die Marietta in den Stunden bei der Leiterin der Anstalt empfand, blieb dabei aus. Sie lernte aus Pflichtgefühl, und das erschwerte ihr die Arbeit.

      In diesen Stunden glänzte besonders Gerda Ebert. Sie hatte eine schärfere Auffassungsgabe als ihre Kusine Marietta, und war daran gewöhnt, sachlich klar zu denken. Wenn Marietta irgend etwas nicht verstanden hatte, Gerda wußte es ihr stets zu erklären.

      Heute gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Kusinen. Gerda war gar nicht damit einverstanden, daß Marietta noch im Kinderhort blieb, wo ihr die Möglichkeit geboten worden war, so schnell schon an eine andere Stelle versetzt zu werden. Das bedeutete eine Auszeichnung. Und vor allem galt es doch, immer weiter zu streben, immer Neues zu lernen. »Man muß seine Arbeit als Ganzes lieben, aber sich nicht an einzelne Teile derselben hängen. Sonst verliert man darüber das Ziel aus den Augen.« Das war Gerdas Auffassung.

      »Du magst recht haben, Gerda«, gab Marietta zu, als sie Arm in Arm mit ihr durch den nadelfeinen Regen dem Internat der gegenüberliegenden hauswirtschaftlichen Frauenschule zuschritt. Dort nahmen sie an den Tagen, an denen sie des Nachmittags praktisch tätig waren, das Mittagessen ein. »Recht hast du schon, aber – wir sind eben verschieden. Ich arbeite mehr mit dem Herzen, du mit dem Verstande.«

      »Mit dem Herzen allein wirst du viele Enttäuschungen erleben. Glaube mir, Kind,« – Gerda tat, als ob sie zehn Jahre älter wäre, – »auch auf sozialem Gebiete muß das Herz vom Verstand regiert werden.«

      »Puh!« – Marietta schüttelte ihr goldbraunes Kraushaar, an dem die Regentropfen wie lauter Brillanten blitzten. »Weißt du, Gerda, das Regenwetter hier draußen ist gerade nicht dazu geeignet, beim Promenieren tiefsinnige Dinge zu erörtern. Komm rasch«, sie schauerte zusammen, »wir sind ganz durchnäßt.«

      »Das macht nichts, ich bin in meinem Lodenmantel zweckmäßig gekleidet. Dein Gummimantel hält nicht so warm. Wenn wir später unsere Recherchen in den notleidenden Familien machen müssen, dürfen wir auch nicht nach dem Regen fragen. Das wird dir vielleicht manchmal recht schwer werden, Jetta, bei Wind und Wetter, von Straße zu Straße, treppauf, treppab. Du, Tropenkind, brauchst ja noch mal soviel Wärme und Sonne wie wir. Solchen Regen kennt man bei euch im Sonnenlande sicher nicht.«

      »Sage das nicht, Gerda. Wenn es mal bei uns in den Tropen regnet, dann gießt es Bäche vom Himmel herunter, wie man es hier gar nicht kennt. Dann gibt es große Überschwemmungen. Das Vieh auf den Weiden ertrinkt. Die Häuser stehen unter Wasser, und die Leute fahren mit Kähnen in den Straßen. Merkwürdigerweise ist der Himmel dabei oft ganz blau, es regnet aus blauem Himmel. Das könnt ihr euch kaum vorstellen, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie Anita und ich eines Tages in Sao Paulo mit der Miß shopping waren. Bei herrlichstem Wetter waren wir fortgefahren. Plötzlich strömender Regen, ihr nennt es einen Wolkenbruch. Das Wasser stand alsbald so hoch, daß unser Auto nicht einmal durchkam. In unseren leichten Kleidern mußten wir durch Bindfadenregen mit einem Boot heimfahren.«

      Gerda hatte interessiert zugehört. Sie liebte es, wenn Marietta aus dem Tropenlande berichtete. Die beiden jungen Mädchen waren inzwischen durch Gänge, Treppen und Korridore der hauswirtschaftlichen Frauenschule geschritten. Wie in einem Ameisenstaat kribbelte es dort von fleißigen Mädchen. Und weise, wie in einem wohlorganisierten Ameisenstaat, zog jedes die ihm vorgeschriebene Bahn. Mit großen Wirtschaftsschürzen angetan, erfüllte ein jedes seine Pflicht auf dem ihm angewiesenen Platze. Unten im Souterrain, in der weißgekachelten Waschküche, standen sie in kurzärmeligen Kleidern am dampfenden Waschfass und Spülzober und spritzten sich, trotz emsiger Arbeit, übermütig das Seifenwasser ins Gesicht. In dem Raum daneben wurde die schon getrocknete Wäsche sorgfältig von den jungen Hausgeistern gelegt und gemangelt. Wieder eine Abteilung weiter, da fuhren die blanken, elektrisch geheizten Eisen geschickt und unbeholfen über weißes Leinen. Die große Küche mit dem Herd in der Mitte bildete den Haupttummelplatz der jungen Welt. Da wurde gequirlt und gerührt, gekocht, gebacken, gebraten und geschmort; Geschirr gespült, Töpfe gescheuert. Ein Stockwerk höher surrten Nähmaschinen; Scheuerbürsten dämmten Wasserfluten. Überall war emsiges Treiben.

      Für die junge Brasilianerin war diese planmäßige hauswirtschaftliche Ausbildung der deutschen Mädchen immer wieder eine Quelle der Bewunderung. Wie notwendig derartige praktische Kenntnisse waren, hatte Marietta inzwischen oft genug eingesehen. Ihr selbst hatte nach absolvierter Schulzeit das Studienjahr auf der allgemeinen Frauenschule nicht nur eine Vertiefung und Erweiterung auf wissenschaftlichem Gebiet gegeben. Sie hatte sich auch hauswirtschaftlich dort betätigt. Das Tropenprinzesschen mit den zarten Fingern hatte sich vor keiner Arbeit gescheut. Sie war tüchtig und umsichtig dabei geworden. Das kam ihr jetzt bei ihrer sozialen Hilfsarbeit sehr zustatten.

      Der geräumige Esssaal lag im obersten Stockwerk. Gerda und Marietta entledigten sich draußen ihrer nassen Überkleider und betraten den hell getünchten Raum, dem selbst der graue Regentag, der griesgrämlich durch die Fenster hereinschaute, nichts von seiner anheimelnden Freundlichkeit nehmen konnte. An langen Tafeln mit blendend weißem Tischzeug, von Zöglingen zierlich gedeckt, saßen bereits etwa fünfzig junge Mädchen, die meisten zwischen sechzehn und zwanzig Jahren. Die Schülerinnen der sozialen Frauenschule gehörten schon zu den älteren und hatten daher Vorzugsplätze an dem Lehrerinnentisch. Der größere Teil der jungen Mädchen wohnte im Internat. Aber auch die Schülerinnen der verschiedenen Abteilungen der Frauenschule und der angegliederten Horte, deren Heimweg für die Mittagspause zu weit war, erhielten hier eine wohlschmeckende Mahlzeit. Marietta und Gerda nahmen grüßend an dem Tische, dem die Leiterin des Internats vorstand, Platz. Verschiedene Schülerinnen von der sozialen Schule waren bereits anwesend. Die beiden Kusinen wurden mit freudigen Zurufen empfangen. Sie waren beide recht beliebt bei den Kolleginnen. Die eine wegen ihres klugen, ernsten Könnens, die andere wegen ihres lieben Wesens. Muntere Gespräche waren im Gange, junges Lachen erklang hier und da. Es ging ungezwungen bei dem gemeinsamen Mittagstisch zu. Junge Zöglinge mit zierlichen Servierschürzen boten die Schüsseln an, wechselten geräuschlos die Teller. Man hätte die Empfindung gehabt, zu einer Festlichkeit geladen zu sein, wenn nicht hin und wieder mal ein mahnendes »Fräulein Lotte, nicht die Fleischplatte von rechts reichen, da kann sich kein Mensch bedienen«, oder auch »aber Fräulein Hilde, ein herabgefallener Löffel wird zur Seite gelegt, nicht auf die Schüssel zurück«, erklungen wäre.

      Mit dem letzten Bissen schwirrte alles wieder auseinander, ein jedes zu seiner Pflicht. Auch die Wege der beiden Kusinen trennten sich. Gerda Ebert arbeitete in einem unweit gelegenen Säuglingsheim, um dort die Säuglingshygiene zu studieren. Marietta eilte nun endlich in das gegenüberliegende Gebäude zu ihren Hortkindern.

      Die hatten die Hoffnung auf Tante Jettas Kommen schon aufgegeben. Kindern geht ja jeder Zeitbegriff ab. Tante Martha, eine erst siebzehnjährige Hortlerin, die noch das Abc der Kinderfürsorge erlernte, wußte nicht viel mit ihnen anzufangen. Sie hatte jedem etwas zu spielen gegeben und verlangte nun, daß sich die kleinen Jungen und Mädchen möglichst leise mit ihrem Baukasten, Püppchen oder Hottepferdchen beschäftigen sollten, um die großen, schulpflichtigen Kinder, die am Nachmittag hier ihre Schularbeiten machten, nicht zu stören. Im Grunde aber wollte sie selbst nicht gestört sein. Sie hatte eine Weihnachtsarbeit, eine bunte Wollhäkelei, bei der man zählen mußte, vorgenommen. Jede Frage der ihr anvertrauten Küken kam ihr störend in die Quere und wurde dementsprechend nicht gerade freundlich beantwortet. Die Kinder, des sich Alleinbeschäftigens überdrüssig, suchten daher ihr Vergnügen auf eigene Faust. Paulchen nahm dem Zeter schreienden Käthchen die Puppe fort und sprang damit johlend im Zimmer umher. Gustel warf dafür Paulchens schön gebauten Turm mit lautem Krach um, so daß sich jetzt eine lebhafte Prügelei zwischen dem kleinen Puppenräuber und dem Turmzerstörer ergab. Lenchen, mit dem gelben Zigarrenzopfband, wollte den Frieden vermitteln, geriet aber dabei mit in den Tumult hinein. Und die übrigen beteiligten sich aus Freude am Lärmen, und weil sie sonst auch nicht gerade Besseres zu tun hatten, ebenfalls an dem Radau. Tante Martha, die ihre Zählerei nun doch aufgeben mußte, rief vergebens dazwischen: »Kinder, wollt ihr wohl gleich ruhig sein!« Eher kann man einem Wasserfall befehlen, innezuhalten, als einer losgelassenen Kinderschar. Die Großen wurden natürlich auch nicht länger von ihren Schularbeiten gefesselt, sondern nahmen ebenfalls Partei und rauften lustig mit. Ein ohrenzerreißender Lärm empfing die gerade in diesem Moment eintretende