nehmen. Dank dieser setzten sich die Lamellen dann wie von Zauberhand in Bewegung und die so entstandenen Öffnungen gewährten mir für einen Moment Einlass, bevor sie sich erneut automatisch schlossen.
Leisen Schrittes trat ich in das Haus ein und schlich vorsichtig immer tiefer in den Berg. Nur noch wenige Meter vom Ziel entfernt vermeinte ich, wieder Stimmen zu vernehmen.
„Patrick, Jonah?”, rief ich wieder, die Tür zum Brunnenzimmer öffnend.
Zu spät. Es gelang mir leider nur zu spät, die Anwesenden zu erkennen. Nebeneinander, mit dem Gesicht zur Wand knieten mein Onkel und mein Cousin auf dem unebenen, kalten Steinboden. Die auf dem Rücken gefesselten Hände schränkten ihre Mobilität ein. Die ebenfalls gefesselten Füße beraubten sie schließlich jeglicher Bewegungsfreiheit. Ihre Köpfe waren unter schweren Stoffsäcken begraben, wie bei einer Hinrichtung. Kein Laut entkam ihren Lippen. Keine körperliche Regung zeigte mir, dass sie meine Stimme erkannt hatten.
Zu beiden Seiten standen bewaffnete Wachen, die entsicherten Waffen im Anschlag. Ihre Gesichter waren vermummt und sie agierten untereinander nur mit Zeichen. Ausschließlich in schwarze Kleidung gehüllt, ließen sie kein Stückchen Haut sehen. Mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung nickte mich Patricks Bewacher herein. Da ich keine andere Wahl hatte, kam ich der Aufforderung nach.
Stille, Gefahr und Angst vergifteten den Raum.
Ich begann zu schwitzen, obgleich mir kalt war. Meine flache Atmung ging schnell. Ich tat mich schwer, meine Angst unter Kontrolle zu halten.
Das Brunnenzimmer war durch einen unterirdischen Gang mit dem Bootshaus am Steg verbunden, einem Geheimgang. Patrick hatte ihn rein zufällig ausgemacht, konnte aber nie klären, wozu er dem Besitzer der Ziegelei gedient hatte. Jonah und ich gaben uns wild romantischen und abenteuerlichen Spekulationen hin. Wer weiß, vielleicht hätten wir sogar Recht bekommen. Wie dem auch sei, „geheim“ bedeutete in jedem Fall, dass niemand davon wusste. Deshalb konnte ich mir auch absolut nicht erklären, wie die Eindringlinge ihn so einfach hatten ausfindig machen können. Nach deren Verhalten zu urteilen, verfolgten sie eine präzise Mission und in ihren Augen stand kein Bedauern.
Nach meinem Eintreten gelangte der dritte Mann in mein Blickfeld. Er saß als Einziger auf einem Stuhl. Seine Haltung war aufrecht, schon fast steif und seine helle Kleidung herrschaftlich, wie aus vergangenen Zeiten. Langsam wandte er sich mir zu. Ich hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment, die Möglichkeit sein altes Gesicht zu betrachten. Irgendwie kam er mir bekannt vor, irgendwo hatte ich dieses Gesicht schon gesehen. Aber etwas stimmte mit seinem Gesichtsausdruck nicht, sein Blick war so starr, so kalt.
Für einen kurzen Moment abgelenkt, sah ich den Schlag nicht kommen. Der Hieb traf mich unverhofft, die Ohnmacht tief und die Zeit verging.
Nichts. Ich konnte nichts hören, es war nichts zu hören. Schon die geringste Veränderung meiner Position brachte ihn dazu, sich in mir aufzubäumen und löste ein unwiderrufliches Gefühl von Unwohlsein hervor. Der Schmerz. Er schien immer intensiver zu werden, um dann im Moment der Unerträglichkeit wieder abzuflauen. Ich musste mich wieder und wieder übergeben, was mir jeweils nur kurz Erleichterung verschaffte.
Es bereitete mir große Mühe, meine Umgebung zu fokussieren. Die Augen geschlossen zu halten, verminderte die Anstrengung. Ich war einfach noch nicht soweit, ich musste noch weiter im Nichts ruhen.
Die Zeit hatte keine Bedeutung für mich. Das Schweben in einer ungewissen Ebene ist frei von solchen Zwängen. Es ist, als ob sich der Körper nicht für die zu gehende Richtung entscheiden kann und lieber in der Anonymität verbleibt. Schlaf- und Wachzustände wechselten einander ab, wie ein kontinuierlicher Programmwechsel.
Allmählich erholten sich meine Sinne und mein Kopf begann zu wollen. Erste Laute drangen wieder in mein Ohr und ich öffnete die Augen, um zu sehen. Das Licht war diffus, warme Abendluft strömte durch das leicht geöffnete Fenster und undefinierbare Gespräche schwangen im Zimmer. Jonah saß neben meinem Bett auf einem Sessel und schlief fest. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, die gefalteten Hände stützend unter dem Kinn und die Beine leicht angewinkelt. Das stets nach hinten gekämmte, dunkle Haar fiel unordentlich in sein Gesicht.
Ich war in meinem Zimmer am See. Hatte mein neues Projekt gefallen? Der Versuch mich des Vergangenen zu entsinnen, brachte nichts Ungewöhnliches hervor. Nach der Fahrt muss ich mich kurz hingelegt haben und jetzt schliefen wohl alle.
Meine Lippen formten seinen Namen. JONAH. Ich rief nach ihm, aber keine Stimme verließ meinen Hals, nur ein erbärmlich leises Stöhnen. Der Schlaf holte mich wieder ein.
Der Sessel war leer, die Tür geschlossen. Es war wieder Tag und die Sonne schien direkt, durch das immer noch leicht geöffnete Fenster, auf mein Bett. Ich schlug die Decke zurück und versuchte mich aufzusetzen. Ein leichtes Brummen war im Kopf verblieben und ich hatte großen Durst. Eine ungeöffnete Flasche Mineralwasser stand auf dem Tisch vor dem Fenster. Behutsam stand ich auf und ging zum Fenster, öffnete es ganz und atmete die frische Morgenluft ein. Während ich aus dem Fenster blickte, schenkte ich mir ein Glas Wasser ein.
Der See schimmerte aufgeregt und ich konnte gerade noch Patricks Segelboot unter Motor auslaufen sehen. Instinktiv rief ich ihm Worte zu, welche die Entfernung nie hätten überbrücken können. Freude durchfloss meinen ganzen Körper und ich nahm mir vor, so schnell wie möglich zum Steg zu gelangen.
Nach dem Öffnen der Tür stieg mir der Geruch von frischem Kaffee in die Nase und ich sog ihn gierig ein. Rasch die Treppe runter, dem Duft nach. In der leeren Küche angelangt, erwarteten mich ein gedeckter Frühstückstisch und eine Nachricht. Da meine Energiereserven bereits wieder erschöpft waren, setzte ich mich und begann zu lesen.
„Emma. Schön, dass du wach bist“ unterbrach mich Jonah, in den Raum eintretend. Er fasste genießerisch in mein Haar und küsste mich fest auf die Wange. Das hatte er schon als Kind immer so gemacht, er liebte mein lockiges, kupferbraun leuchtendes Haar. Sean legte sich, wie gewöhnlich, auf meine Füße und stellte sich schlafend.
„Du hast gestern in meinem Sessel geschlafen, was war eigentlich los? Ich fühle mich auch jetzt noch nicht richtig wohl.“
„Lass uns erst gemeinsam Kaffee trinken und dann reden wir.“
Stark, süß und mit viel Milch, aber vor allen Dingen musste er heiß sein, mein Kaffee.
Es war schön mit Jonah zusammen zu sein. Für ihn war ich die kleine Schwester, die er nie haben durfte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich besonders gelöst. Er verfügte über die angeborene Gabe, Menschen unmittelbar in einen angenehmen Wohlfühl-Zustand zu versetzen und konnte so den vielfältigen Lebenssituationen entspannt gegenübertreten.
„Auf Augenhöhe“ war sein Limit - nicht darüber und nicht darunter. Seinem Gegenüber kam selten der Zweifel, ob er in Wirklichkeit nicht doch anders dachte. Diese einnehmende Eigenschaft brachte ihm die Sympathien von Menschen ein, die zumeist nur dies gemeinsam hatten.
Eigentlich war alles wie immer. Der Hund lag unter dem Tisch, er saß frisch geduscht mit nassen Haaren neben mir und dennoch wurde die Idylle durch etwas getrübt. Ich verspürte so ein leicht ungutes Gefühl, was sich dann von meiner Mitte aus strebsam weiter ausbreitete. Heute Morgen konnte ich einfach keinen Frieden finden und begann nochmals, über den Ablauf des gestrigen Tages nachzudenken. Ich hatte wieder diesen Traum gehabt und war dann mit dem Auto hier hergefahren.
„Wo ist eigentlich dein Vater?”, fragte ich.
„Er ist mit einem Freund zu einer Tagestour aufgebrochen.“
„… einem Freund? Was für ein Freund? Ich habe hier noch nie einen Freund gesehen. Weder von dir noch von deinem Vater. Also werde ich später das Vergnügen haben? Und dann noch eine Tagestour? Entschuldige Jonah, aber wir hatten uns doch ausdrücklich für dieses Wochenende verabredet.“
Die Gewissheit traf mich wie Blitz.