Pia Schenk

Tief Verborgen


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Fotos bereits gesehen zu haben.

      „Bitte lies doch kurz die Nachricht zu Ende, Emma, sie ist von Vater.“

      Er schrieb mir, dass es ihm leidtäte, dass wir unser Gespräch verschieben müssten, da er sich um einen alten Geschäftsfreund zu kümmern hatte.

      Jonah ließ sich Zeit, frühstückte genüsslich. Er wusste, dass ich mich über kurz oder lang wieder erinnern würde.

      Warum waren wir alle im Brunnenzimmer gewesen, wer waren diese Männer und weshalb all diese Waffen und Bedrohung? Die Erinnerungen begannen sich zusammenzusetzen und das Geschehene spulte sich wieder vor meinem inneren Auge ab. Mit einem Ruck stand ich auf und lenkte meine Schritte zum Wohnzimmer. Eine der Wände war von der Decke bis zum Boden ausgefüllt mit Büchern, Bildbänden und Zeitschriften. Vielleicht würde ich wirklich in einem von Sarahs zahlreichen Fotoalben einen Hinweis finden? Eine andere Chance gab es nicht.

      Die Fotosammlung, die Arbeiten Sarahs waren in den ganz oben liegenden Fächern, der imposanten Bücherwand im Wohnbereich, eingeordnet. Nun mehr als zwanzig Jahre alt wurden sie, außer von mir, nur selten betrachtet. Eine seitlich bewegliche Leiter auf Rollen diente der relativ bequemen Büchersuche, fast wie in einer richtigen Bibliothek. Ich musste weit hochsteigen, da die erste Regalfläche in etwa fünf Meter Höhe lag. Da ich nicht genau wusste, in welchem Band ich fündig werden würde, begann ich einfach, einen nach dem anderen nach unten zu tragen. Aber es waren einfach zu viele Bücher, Alben, gebundene Sammlungen, Collagen und zu viele Stufen, hoch und runter. Schließlich blieb ich einfach oben stehen und begann, das in der Nähe stehende Sofa zu bewerfen. Jonah war mir gefolgt und schien ungehalten.

      „Emma, was soll das, was willst du mit Mutters Arbeiten?“

      „Ich habe den Mann schon einmal gesehen, den alten Herrn auf dem Stuhl. Und ich denke, ihn auf einem Foto gesehen zu haben.“

      „Emma, jetzt komme erst mal runter und beruhige dich!“ Ich folgte seiner Aufforderung und wurde mit einer warmen Umarmung belohnt.

      „Am besten wir machen das jetzt so, ich steige nach oben, reiche dir, was du brauchst und du legst alles auf den Tisch.“

      Nach und nach, Buch für Buch leerten wir den oberen Bereich. Und dann, nur einen belanglos winzigen Augenblick lang verspürte ich Misstrauen. Ein kaltes, stechendes Gefühl, welches direkt zum Herzen führt. Aus dem Augenwinkel heraus meinte ich gesehen zu haben, dass Jonah, anstatt mir ein bestimmtes Buch zu reichen, es in Richtung Wand hatte verschwinden lassen. Ich ließ mir nichts anmerken. Ich war vorsichtig, setzte mich an den Tisch und begann, die Kreationen meiner Tante zu durchkämmen.

      „Emma, der Mann aus deinen Albträumen sitzt auf einem Stuhl? Das wusste ich nicht.“

      „Nein, nicht der. Ich meine den Mann von gestern, im Brunnenzimmer.“

      Sara war Fotografin gewesen und hatte mit ihrer Leica jeden Menschen, mit dem sie auf ihren Reisen auch nur ein Wort gewechselt hatte, festgehalten.

      „Kommunikationskontrolle“ nannte sie diese Manie, „Klick-Tick“ mein Onkel. Sie bereiste besonders gern und ausgiebig Afrika, wo sie, bei einem Aufenthalt in Kapstadt, dann den scheuen Patrick kennenlernte. Immer auf der Suche nach neuen Inspirationen, immer in Bewegung. Die Porträts aber waren nur eine persönliche Marotte gewesen, denn ihr Spezialgebiet war die Food-Fotografie. Gemeinsam mit einer Köchin hatte sie ungestört in ihrer „Studioküche“, hier im Haus, gearbeitet. Diesen Raum, rundum mit den Porträtaufnahmen der Reisen tapeziert, mit einem weiß-schwarzen Schachbrettboden ausgelegt, mit professionellen Edelstahlmöbeln ausgestattet und bereichert durch ein beachtliches Sammelsurium an Geschirr, kannte ich nur von Bildern.

      Da ich jetzt bei der Suche über keinen weiteren klaren Anhaltspunkt, außer meiner Intuition, verfügte und der sogenannte Glückstreffer sich nicht einstellte, beschloss ich methodisch vorzugehen. Zunächst sortierte ich alle professionellen Aufträge aus. Hiernach wollte ich mich den privaten Familienbänden, dann den Reisedokumentationen und zum Schluss der immens umfangreichen Porträt-Sammlung widmen. Als ich mir des Ausmaßes bewusst wurde, schien mir das alles auf einmal sinnlos.

      Und Jonah tat gerade so, als ob er mich nicht verstehen würde. Er behauptete, sie hätten mich im Garten gefunden, ausrechnet am Opferplatz. Da ich ohnmächtig gewesen wäre, hätten sie mich gemeinsam in mein Zimmer getragen und ins Bett gelegt. Dessen konnte ich mich beim besten Willen nicht entsinnen. Ich sah nur die absurde Szene im Brunnenzimmer, bevor alles dunkel wurde. Entfernte ich mich von der Realität? Sah ich Dinge, die nicht stattgefunden hatten und Menschen, die keiner kannte?

      Jonah war so ruhig und gelassen, beinahe entspannt. Konnte sich jemand so verstellen? Jemand, dem ich glaubte, jemand, dem ich vertraute und den ich brauchte.

      Ging die Fantasie ab und zu mit mir durch die Welt spazieren oder begann sie, ein wichtiger Teil meines Wesens zu werden? Ich wusste genau, dass ich von meinem Naturell her ein Realist, von der Vernunft gesteuert, also ein Kopfmensch war. Ganz offensichtlich aber stimmte etwas nicht, sie wollten etwas vor mir verbergen. Oder war es nur Jonah, der sich verstellte? Ich musste mich bis heute Abend gedulden und warten, bis mein Onkel wieder mit dem Boot einlief. Ablenkung war jetzt gefragt.

      „Jonah, herrlich diese Aufnahmen von Süditalien. Weißt du, den besten Kaffee trinkt man in Neapel. Ich habe jetzt richtig Hunger bekommen.“

      „Da bin ich aber erleichtert, Emma - ich habe dich kaum wiedererkannt. Lass uns in die Küche zurückgehen und das Frühstück vernichten.“ Er legte sanft seinen Arm um meine Schultern und ich konnte nichts dagegen tun, es war mir plötzlich unangenehm.

      Wie lange können nur Minuten sein, wenn man sie schon überlebt sieht. Die enorme Spannung in mir stand im Kontrast zum einträchtig, idyllischen Milchkaffeeszenarium in der Küche, welches sich verdächtig in die Länge zu ziehen drohte. In meinen Gedanken war ich schon wieder ganz oben, auf der obersten Stufe und doch hatte ich Angst in die Tiefe, bis hin zur Wand zu sehen. Ich konnte es kaum erwarten, endlich alleine zu sein. Denn dann würde ich erneut auf die Leiter steigen und suchen, was ich nicht hätte finden sollen.

      „Nur Kaffee? Iss doch wenigstens etwas Kuchen, du musst sicherlich sehr hungrig sein. Die halbe Nacht über hast du dich immer wieder übergeben.“

      „Lieb von dir. Aber ich fühle mich nicht wohl, bin erschöpft. Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich hoch in mein Zimmer. Übernimmst du die Runde mit Sean für mich?“

      „Kein Problem Emma. Schlaf noch ein wenig, ich komme später nach dir sehen.“

      Meinem Vorhaben war ich nicht unbedingt näher gekommen, aber ich hatte mich zumindest von seiner Gegenwart befreit. Keine Sekunde länger - hätte ich ihn ertragen können.

      Oben in meinem Zimmer angelangt, beschloss ich, die Tür leicht geöffnet zu lassen. Sollte Jonah zurück zur Bibliothek gehen, würde ich ihn hören können und versuchen, sein Vorhaben unbemerkt zu beobachten. Ging er nicht, dann würde ich selbst in der Bibliothek nachsehen, sobald er mit Sean das Haus verlassen hatte.

      Zu aufgeregt, um zu bedenken und zu müde, um abzuwägen, machte ich mich daran, alles Unwesentliche für einen Moment lang auszublenden. Nur auf Geräusche, Schritte, Laute achten. Nur nicht einschlafen. Aber außer einem zaghaften Geklirr war nichts zu vernehmen und eben diese sanfte Geräuschmonotonie raubte mir die Gegenwart, ließ mich in den Schlaf sinken.

      Ein wiederkehrendes Geräusch weckte mich.

      Das Haustelefon, es klingelte und klingelte und hörte nicht auf. In der Hoffnung, dass Jonah drangehen würde, setzte ich mich dennoch auf. Die folgende Pause war von nur kurzer Dauer, denn dann klingelte mein Handy.

      „Hallo.“

      „Patrick hier. Kannst du mich in Tutzing abholen kommen.“

      „Patrick? Ja … klar … wann und wohin soll ich kommen?“

      „Gleich, ins Seerestaurant.“

      „Ok.