Helmut H. Schulz

Dame in Weiß


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Weltbild von technischem Fortschritt künftig ausmachen sollte, und es geschah 1946, dass uns der erste, in einer Mathematikstunde umständlich enthüllte und gekaute Gum, die erste in Gemeinschaft gerauchte Camel ein Gefühl von Unabhängigkeit und Überlegenheit vermittelten.

      »Ich erkläre es mir so«, schloss Verena, »sie hatte hier nichts mehr verloren. Sie war mit all ihren kommunistischen Wachträumen gescheitert, gab ihr schönes Atelier am Kurfürstendamm auf, verkaufte, was sie besaß, und ging, ohne uns um Erlaubnis zu bitten und ohne Abschied zu nehmen, in dieses andere Land.«

      Ich schob den Fensterflügel auf, und sofort schlug der Lärm der einst so stillen Straße wie eine Brandung über uns zusammen, eine Wolke von Dunst und Abgasen stieg zu uns herauf.

      Vor dieser rauen, brutalen Wirklichkeit, vor der Welt der Tatsachen, erloschen die Bilder.

      »Ich komme mir vor wie ausgeliefert«, sagte Verena müde, »ich hätte die große Wohnung auch längst aufgegeben, wüsste ich, dass es woanders besser ist. Man hat die Städte unbewohnbar gemacht, im Namen des Fortschritts. So werde ich hier wohl sterben.«

      Allen ging es gut; heute erscheinen mir diese Tage wie ein ferner leichter Kindertraum.

      Ich war ein sauberes Kind.

      »Solange ich 'auf dich achtgab«, sagte Verena, »man kleidete die Kinder damals gern in helle Stoffe. Man schnitt ihnen die Haare kurz und zog ihnen glänzend schwarze oder braune Schuhe an, aus Boxcalf, von Leiser oder von Salamander.«

      Wer Kinderschuhe in einem Salamandergeschäft kaufte, bekam eine Zeitung dazu mit einer Bildergeschichte in Fortsetzungen, eine Art Comicstrip. Ein aufrecht gehender Salamander, von der Fabrik beschuht, erlebte die überraschendsten Abenteuer und bestand sie dank der Güte seiner Stiefel.

      Ich war ein nachdenkliches Kind.

      Verena widersprach nicht. »Einen Träumer will ich dich trotzdem nicht nennen. Du besaßest die hartnäckige Fähigkeit, dich in Vorstellungen hineinzusteigern. Ich meine, über das normale kindliche Vermögen hinaus, sich als Trapper oder Indianer, als Räuber oder Gendarm zu fühlen. Mich

      ängstigte manchmal die Intensität, mit der du deine Wünsche durchzusetzen suchtest. Ich erinnere mich an einen Fall. Du verlangtest heftig eine Feuerwehr. Aus irgendwelchem Grunde wurde diese nicht sofort gekauft, oder wir wollten sie dir überhaupt nicht kaufen. Du wurdest geradezu hysterisch. Als du die Feuerwehr dann hattest, warfst du sie in die Ecke, um sie nie wieder anzusehen. Deswegen sprach dein Vater eine Woche lang nicht mit dir.«

      Obwohl diese Episode sehr weit in meine Kinderzeit zurückreichte, entsann ich mich bei Verenas Darstellung daran; nicht an die Feuerwehr, sondern an die Aufregung, in die mich die Nebenumstände versetzt hatten. Auch jetzt überkam mich ein Gefühl der Leere, des Verdrusses und Betrogenseins, wie damals, als ich die Feuerwehr in der Hand hielt und nichts mehr damit anzufangen wusste,

      »Es ist das Problem deines Lebens geblieben, in Besitz zu nehmen und wieder aufzugeben, zu wünschen, zu verzichten und neu zu wünschen«, sagtet Verena. »Ich würde dich introvertiert nennen.«

      »Schokolade, Schlagsahne und Bonbons soll ich nicht gemocht haben, aber Äpfel und Brot?«

      »Das Brot bekamen wir damals vom Lande, es war steinhart, und so dicht gebacken, dass, ein Messer darin knirschte. Es könnte monatelang liegen, ohne zu schimmeln oder ungenießbar zu werden. Nur härter wurde es. Der alte Stadel sorgte für solche Kost, Dich verwöhnte er auf seine Weise.«

      Mattias Stadel, mein Großvater - ich lernte ihn in vielen Verkleidungen kennen, die häufigste war die eines Häuserverwalters und Maklers. In seinem Arbeitszimmer versammelten, sich täglich alle möglichen Leute. Mieter und Spekulanten, Handwerker und Hausbesitzer. Auf den muskulösen Unterarmen des ehemaligen Schmiedes, Husaren; Seemanns und Skagerrak-Helden ringelten sich in Blau und Rot tätowierte Schlangen um Anker und Herzen. In Wendisch-Rietz besaß er ein kleines bäuerliches Anwesen, das er selbst bewirtschaftete. Aus den Erträgen versorgte er uns und andere Familienmitglieder. Wir bezogen Obst und Fleisch, Brot und Hülsenfrüchte von Mattias. Ich ritt auf einem Gaul, der Lotte hieß, eine mächtige, kluge Rappstute, die geduldig stehen blieb, wenn ich über eine Leiter oder einen Tritt auf ihren Rücken kletterte. Aus dem Fell der Stute stieg feuchter, tiergesättigter Geruch, den ich gierig einsog. Auf der Kruppe sitzend, kniend, hockend, kam ich mir geschützt vor wie auf einem Turm, während Mattias die Stute durch Zurufe lenkte ...

      Das Pferd ist für mich die liebenswürdigste und leibhaftigste Form, des Tieres geworden; weshalb ertragen Tiere die Quälereien durch Kinder mit solchem Gleichmut?

      »Sonst bist du ein ziemlich verfressenes Kind gewesen«, bemerkte Verena, »du hattest in manchen Zeiten einen richtigen Bauch.«

      »War ich tapfer?«

      Sie schüttelte den Kopf »Nicht im Sinne von aggressiv. Gewehrt hast du dich allerdings manchmal so nachdrücklich, dass wir dir Vorwürfe machen mussten. Einmal schlugst du einem Kameraden mit einem Steinguttopf ein Loch in den Kopf, und das Ohr musste genäht werden.«

      Und das ist eine der Geschichten meiner. Kindheit, an die ich mich nicht erinnere, die nur durch wiederholtes Erzählen am Leben erhalten wurde. Heute weiß ich, dass meine Familie höchsten Wert auf streitbare Kinder legte. Wenn meine Mutter jetzt so tat, als ob ihr der Zwischenfall, mochte er sich nun abgespielt haben, wie er wollte, unangenehm gewesen wäre, so gibt es für mich genügend Gründe, dieser Haltung Verenas zu misstrauen. Sie wünschte das Löwenjunge; den Krieger, der nicht nach Zweck und Ziel eines Kampfes fragt, wünschte die voraussetzungslose Tapferkeit, die sich bedingungslos schlug. Einen Sohn, der sich nicht gewehrt haben würde - und sei es mit einem Topf -, hätte Verena als weichlich, als unmännlich empfunden.

      »Man muss Knaben wagen lassen, wenn man Männer haben will, lehrt ein englisches Sprichwort, wobei ich gern einräume, dass ein geistreicher Draufgänger vielleicht ein Widerspruch ist. Ohne aufbrausendes Gefühl und ohne Spontaneität bei fehlender Verstandeskontrolle gibt es keine Handgreiflichkeiten. Und es gibt auch immer nur lachende Sieger und niemals lachende Verlierer ...«

      Hinter diesem Gerede steckte ein Erziehungsideal, das zum Helden führte. Das dauernde Anstacheln, sich zu wehren, musste die Bereitschaft wecken und wachhalten, ein Held zu werden.

      »Aber das gilt dann doch wohl für alle Zeiten«, wandte sie ein. »Immer wenn sich ein Moment von öffentlichem Interesse an der Erzeugung von Helden beimischt, gibt es die Achillesse und die Hagens. Zweifellos gehört der Kampf zum menschlichen Leben.«

      »Ich bin nicht dagegen, sich zu wehren, sondern gegen das Training zum Heldentum, Mama. Wird einem kleinen Jungen Beifall gespendet, weil er einem anderen kleinen Jungen mit einem Topf auf den Kopf schlägt, so wird der schlagende Junge sicherlich großes Vergnügen empfinden, zumindest so lange, wie ihm nicht selbst Schmerz zugefügt wird. Dann verdoppelt der Schmerz vielleicht seine Wut, oder umgekehrt, er dämpft sie. Ein lächerlich primitiver Vorgang.«

      Dass, diese Episoden im kindlichen Alter eine notwendige Vorbereitung auf das Leben sind, wusste ich so gut wie sie.

      Mala guerra.

      »Hirngespinste«, damit tat sie alles ab, »es war keine Kleinigkeit, dich neunzehnhundertdreißig zu empfangen. Dein Vater war arbeitslos, erst während ich mit dir ging, entschloss er sich zu einem Berufswechsel. Ich bleibe dabei, so schlecht sind die Jahre vor dem Krieg nicht gewesen.«

      »Es kam unser bestes Jahr«, sagte Verena, »als dein Vater vom Bau des Westwalls zurückkehrte, mit einer Urkunde und einem bronzenen Orden.«

      Bei ihren Erzählungen sprachen ihre Augen mit; meine Mutter drückte sich stets durch Zeichen aus. Ihre Gestik ist manchmal bedeutsamer gewesen als ihre Worte.

      »Wann war das?«

      »Es muss neunzehnhundertsiebenunddreißig gewesen sein.« Es fiel mir nicht schwer, mich in diese Zeit zurückzuversetzen. Ich verbrachte Wochen bei dem alten Stadel und hielt mich ebenso viele Wochen bei Friedrich Wilhelm Arzt auf. Wenigstens er trug einen Namen in den Farben seiner Zeit, Farben, die schon etwas verblichen wirkten. Mit der