Friedrich von Bonin

Rudolf Mittelbach hätte geschossen


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zu groß, wir gingen uns zwar nicht geradezu aus dem Weg, wir suchten aber auch nicht die Begegnung. Viele Dinge, die ich über ihn herausgefunden habe und hier niederschreibe, habe ich daher nicht selbst erlebt und erzähle sie als die Geschichte Heinrich Görgens, wie ich sie rekonstruiert habe.

      Der Weg

      Er ging seit dem frühen Morgen. Um ein halb sechs an diesem Augusttag war er aufgestanden, hatte seine Frau nicht geweckt, hatte nicht gefrühstückt, nur seinen Rucksack genommen, den er seit Wochen gepackt hatte, seinen Schlafsack daraufgeschnallt, und war losgegangen. Vierhundert Euro hatte er im Rucksack, das musste für den ganzen Weg reichen, er hatte sie sich über die Zeit vom Munde abgespart, in kleinen Beträgen, so dass es nicht auffiel. Nebel lag über Hamburg, als er aus der Wohnung trat, hinaus, um den Weg zu beginnen, den er seit Wochen geplant und endlich den Mut gefunden hatte, zu begehen. Immer hatte er sich des Abends vorgenommen, morgen geht es los, um dann am nächsten Morgen aufzuwachen und festzustellen, nein, es lohne doch nicht, sich im Bett umzudrehen, um weiter zu schlafen. Heute war es soweit, heute Morgen war der Mut, den er gestern Abend gefasst hatte, noch da, eher größer geworden und so wendete er sich vor der Haustür nach links und ging los, wie er es sich vorgenommen hatte. Noch unsicher war sein Schritt, als er sich Richtung Hafen wendete, ihn ängstigte der Hall seiner Schritte, der durch den Nebel verstärkt schien, aber bald verstetigte sich sein Gang, er fing an, die Bewegung des Gehens mechanisch auszuführen, Fuß vor Fuß zu setzen, im gleichmäßigen Rhythmus, wie er nach zwei Kilometern links abbog in die Straße, die zum Hafen und aus Hamburg hinaus nach Süden führte. Der um diese Zeit noch spärliche Verkehr störte ihn nicht. Er ging. Ging immer weiter, fühlte den Stakkato seiner Schritte, nicht schnell, aber energisch, ging nach Süden, immer weiter, auf sein Ziel zu, das er heute nicht erreichen würde, morgen nicht und auch übermorgen nicht. Ein Ziel, zu dem man nicht einfach mit dem Zug fahren konnte, sicher, er hatte das überlegt. Mit vierhundert Mark wäre das leicht gewesen. Aber der Weg war nicht leicht, sollte nicht leicht sein, ein archaischer Weg und ein ebensolches Ziel. Er war sich sicher, er würde es erreichen, und zwar mit eigener Kraft, zu Fuß.

      1990

      1.

      Leise Musik erklang aus den riesigen Lautsprechern des Festsaales der Deutschen Anlagenbank ganz oben, in der sechsunddreißigsten Etage ihres Hauptsitzes in Frankfurt, klassische Musik natürlich, wie sie der Chef des Hauses und seine auserlesenen Gäste schätzten, unaufdringlich, weil sie leise war, traditionell und klangvoll, wenn man sie hören wollte, Vivaldi, Telemann, Bach, jetzt gerade erklangen Vivaldis Flötenkonzerte, die mit dem leise im Saal dahinfließenden Gespräch konkurrieren mussten, manchmal übertönt durch ein brandendes Lachen, das irgendwo aufkam, manchmal hervorgehoben durch eine allgemeine Gesprächspause, die wohl zufällig im ganzen Saal eintreten konnte.

      An die zweihundert Menschen hatte der Chef der Bank für heute eingeladen, zu einem „ungezwungenen Zusammensein“, wie es in der Einladung stand, die hinsichtlich der Kleidung lediglich „leger“ vermerkt hatte. Und alle Gäste waren denn auch leger gekleidet, so leger, wie es eben möglich war, aber selbstverständlich trugen die Herren Krawatten unter den Anzügen, die Damen waren zwar nicht in lange Abendkleider, aber elegant gekleidet. Politiker waren hier versammelt, zwar nicht der Kanzler, aber immerhin hatte er seinen Kanzleramtsminister geschickt, der Finanzminister, zwei Staatssekretäre, Bankiers natürlich, Banker, wie sie selbst sich in diesem anglisierten neudeutsch nannten, Vorstände großer Unternehmen, von Industrieverbänden, eben alles, was in Deutschland wirtschaftlich irgend von Bedeutung war.

      Fünf Herren hatten sich in einer Nische zusammen gefunden: Zum einen Doktor der Rechte Hans Gerd Alpers, der Chef des Hauses und Gastgeber, ein kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren, körperlich fit, mit einem edlen schlanken Schädel, dessen vornehmer Eindruck noch durch die schmale Hornbrille verstärkt wurde, das schon fast weiße Haar ließ ihn noch eleganter erscheinen. Dr. Alpers hatte ein freundliches Lächeln, das er zur Schau trug, wenn er, wie jetzt, mit Vertrauten zusammen saß, aber auch, wenn er unangenehme Wahrheiten zu verkünden hatte, ein Lächeln, das um Vertrauen warb, aber nur den Mund betraf. Die blauen Augen blickten gleichmäßig kühl in die Welt, ob er lächelte oder Anweisungen erteilte. Dr. Alpers war gefürchtet bei seinen Untergebenen, er verzieh ihnen selten einmal Fehler, und bei Politikern galt er als harter Gegenspieler, wenn die Interessen seiner Bank berührt waren.

      Neben ihm saßen ausgesuchte Gäste, die er gebeten hatte, sich hier zu einem kurzen Gespräch zusammenzufinden. Es waren Dr. Thiel, der Vorstandsvorsitzende der Treuhand Versicherungsgruppe, Günter Hausmann, der Chef der „Bank des Nordens für Schiffe und Hypotheken“, wie sie sich umständlich nannte, von allen nur Nordlandbank genannt, der Finanzminister der Bundesrepublik und der Kanzleramtsminister.

      „Nun, meine Herren“, erhob nun der Gastgeber seine Stimme, so dass sie in der kleinen Runde verstanden wurde, aber nicht von Außenstehenden, „wir sind mit Wein, Wasser und Zigarren wohlversorgt. Ich bitte daher kurz um Ihre Aufmerksamkeit.

      Vor einigen Minuten haben wir auf die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in der großen Runde angestoßen, das Knallen der Sektkorken ist verhallt, nun beginnt die Arbeit. Unser Bundeskanzler hat das Wort geprägt, wir werden blühende Landschaften im Osten erleben. Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht Lügen gestraft wird.“

      „Wir?“, ließ sich die fette Stimme Thiels vernehmen, „zuerst einmal ja wohl die Politik, die das versprochen hat, also ist doch zuerst der Finanzminister am Zuge?“

      „Natürlich werden wir Politiker alles tun, um den Osten aufzubauen“, warf der Finanzminister eilfertig ein, „aber dazu ist zuerst einmal Geld nötig, sehr viel Geld. Meine Entwicklungsabteilung hat das durchgerechnet: Wir müssen aus den westlichen Ländern jährlich achtzig bis einhundertsechzig Milliarden DM aufbringen, um in halbwegs absehbarer Zeit dort eine Infrastruktur zu schaffen, die der unseren ähnelt.“

      „Natürlich ist es die Aufgabe der Banken und Versicherungen, der Bundesregierung die Summen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigt, um das Land aufzubauen und Sie können sicher sein, wir werden das Unsere dazu beitragen. Aber“, Alpers wendete sich direkt an die Politiker, „Sie müssen uns natürlich auch die Möglichkeit geben, unsere Aufgabe zu erfüllen. Wir brauchen niedrige Basiszinsen, und wir brauchen mehr Geld im Umlauf, als wir zurzeit haben. Das heißt, dass Sie Einfluss nehmen müssen auf den Chef der Bundeszentralbank, die Zinsen müssen gesenkt, die Geldmenge vermehrt werden.“

      „Der Bundeskanzler hat gestern mit dem Vorstand der Zentralbank gesprochen und seinen Einfluss geltend gemacht. Ich gehe davon aus, dass die Basiszinsen sehr schnell fallen werden.“ Der Kanzleramtsminister blickte in die Runde: „Ich kann mich doch wohl darauf verlassen, dass dieses Gespräch vertraulich bleibt?“ Die anderen nickten.

      „Gut“, begann wieder der Hausherr, „die Sterne stehen günstig für uns. Der Sozialismus als Staatsmodell hat versagt, ist besiegt. Wir müssen ab sofort keine Rücksicht mehr nehmen auf Propaganda aus den östlichen Ländern, wir seien Kapitalisten und beuteten Menschen aus. Ab sofort können wir daher wieder Geld verdienen, ohne dass sofort unser System in Frage gestellt wird. Das betrifft sowohl unsere Banken als auch uns persönlich. Mit unseren Banken werden wir den Aufbau Ost finanzieren und damit für die Institute viel Geld verdienen. Wir sollten uns das persönlich aber auch gut bezahlen lassen, ich habe bei der Deutsche Anlagenbank auf der letzten Aufsichtsratssitzung eine Bonusregelung für den Vorstand genehmigen lassen, der kräftige Vergütungen vorsieht, wenn wir Gewinne fahren. Ich hoffe, dass uns die Politik dabei unterstützt.“ Fragend sah er den Kanzleramtsminister an.

      „Seien Sie beruhigt“, die stille Stimme des Ministers wurde durch ein aufkommendes Gelächter in einer Gruppe in der Nähe übertönt, „seien Sie beruhigt, wir werden nicht in den Geldmarkt eingreifen, außer durch niedrige Zinsen, und schon gar nicht werden wir in die Marktwirtschaft eingreifen, wenn es um Managerbezüge geht. Das machen die Aktionäre mit ihren Managern aus.“

      „Haben Sie mit dem Kanzler auch über das amerikanische Rating gesprochen, das ich ihm vorgestellt habe?“, fragte Dr. Alpers.

      „Rating? Was wollen