Gerhard Grollitsch

Margarethe


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ich am Hof wohnen. Die Kleine kann ich mitnehmen.“

      „Klar. Zieh nur hinauf, ich komm schon zurecht, jetzt wo ich Arbeit hab.“

      Radenthein im April 1945. Der Krieg lag in der Endphase. Auf einer abschüssigen, mit Sonnenlicht überstrahlten Wiese weideten ein paar Ziegen.

      Margarethe, Gretl gerufen, war an dem Vormittag mit ihrem Freund Herbert am Waldrand und hütete die Tiere. Von Ferne war nur das Scharren des Pfluges und das gelegentliche Schnauben des Zugtieres vernehmbar. Am Feld unter der Wiese war ein Bauer mit Ackerarbeit beschäftigt.

      „Hü, - vadåmmter Gaul, kånnst net in der Spur bleiben“, schimpfte der Bauer. Ein unwilliges Wiehern des Pferdes und Klirren des Geschirrs drang bis zu ihnen hinauf.

      Steil fiel das ganze Gelände zur Landstrasse ab, die sich wie ein Band durch das enge Tal schlängelte. Der junge Tag war auch erfüllt vom Gesumm der Bienen, unbeeindruckt von den Sorgen der Zeit. Unten auf der Fahrbahn kam ein kleiner LKW angezuckelt, auf dessen Ladefläche zwei Frauen hockten. Das Motorengeräusch drang nur sehr leise bis zu ihnen, aber plötzlich schreckten die Kinder auf, als ein Donnern vom Westen kommend, alles zu übertönen begann. Sie konnten kaum glauben, was sie da sahen: Unter ihnen blitzten zwei Flugkörper auf, die sich in rasender Geschwindigkeit dem LKW näherten. Gretl schienen sie zum Greifen nahe, sie konnte die Piloten in den Kanzeln und die weißen Sterne auf den Flügeln sehen.Ein helles Knattern durchschnitt das Getöse.

      Herbert riss sie aus ihrer Erstarrung und zog sie hinter die nahen Büsche. Als sie wieder den Mut fasten, hinunterzublicken, stand der LKW am Straßenrand. Rauch und Feuer hüllte die Fahrerkabine ein. Die Frauen lagen reglos auf der Ladefläche.

      Dann näherte sich das Motorengeräusch erneut und die Flugzeuge donnerten zurück. Die Kinder drückten sich vor Angst wieder tiefer in die Büsche. Gretl hielt sich die Augen zu, während Herbert das Geschehen fassungslos verfolgte.

      Ein Flieger zog knapp über den LKW und belegte ihn nochmals mit einer Garbe, während der andere direkt zu ihnen hochzog, so dass Herbert glaubte, er hätte sie entdeckt und sie wären Ziel des Angriffs. Tatsächlich knatterten wieder Schüsse, aber sie galten nicht ihm. Der Bauer, der stehen geblieben war und das Schauspiel verfolgt hatte, stürzte wie umgemäht zu Boden. Erst als sich das Donnern der Motoren in der Ferne verlor, traute sich Gretl wieder die Augen zu öffnen. Sie sah den Knecht im Feld liegen. Den Pflug hatte das durchgehende Pferd an den Ackerrand geworfen wo er sich verhakte.

      Gretl stieß den sprachlos erstarrten Herbert an: „Komm, wir müssen zum Mathias hinunter. Der liegt da und rührt sich nicht.“

      Nun schien Herbert die Wirklichkeit zu erfassen und sprang auf. Sie rutschten und hüpften den Hang hinunter. Da lag er in seinem Blut.

      „Wir müssen Hilfe holen“, rief er und zog Gretl weg.

      Wie von Furien gehetzt, sausten die Kinder los.

      ZWISCHEN MÄRCHEN UND WIRKLICHKEIT

      Heute ist Radenthein ein Industrieort mitten im Drautal.

      Das Magnesitwerk schmiegt sich an den Sonnenhang und mit ihm die Blocks der Arbeiterwohnungen, sowie etliche kleinere Häuschen mit Garten, die meist von den Facharbeitern des Werkes gebaut wurden und von ihren Familien bewohnt werden. Aber auch die bodenständigen Siedler, zumeist kleine Bauern, auch solche, die als Nebenerwerbsbauern tagsüber in der Fabrik beschäftigt werden und die Land- oder Viehwirtschaft mit Unterstützung ihrer Frauen in der Freizeit betreiben, mischen sich darunter.

      Ebenfalls am Sonnenhang eingebettet, liegt der Friedhof.

      Hier manifestiert sich die Geschichte des Ortes.

      Schicksale, meist von Armut geprägt, werden offenbar, wenn man sich Zeit nimmt, zwischen den Grabsteinen umher zu wandern und ihre Inschriften zu lesen. Vor einem dieser Grabsteine stand Gretl, zu einem jungen, sehr schlanken, für ihre Größe von einem Meter siebzig fast mager wirkenden, dunkelhaarigen Mädchen herangewachsen, und versuchte ihrer Tränen Herr zu werden. In der Hand hielt sie einen selbst gepflückten, liebevoll zusammengestellten Blumenstrauß aus Feldblumen. Sie suchte nach einem Behältnis. Von Allerheiligen waren vertrocknete Blumen in einer Blechbüchse am Wegrand vergessen worden.

      Sie nahm die Dose und entfernte die vertrockneten Stängel. Dann füllte sie diese beim nahe gelegenen Wasseranschluss und stellte ihren Strauß hinein, den sie vor dem Grabstein platzierte. Sie stand nun davor und leicht bewegten sich ihre Lippen im Gebet.

      Schließlich setzte sie sich auf den Rasenfleck vor dem Grab und hielt mit ihrem Großvater Zwiesprache. Das macht sie immer, wenn sie alle zwei bis drei Wochen von Klagenfurt nach Radenthein kommt  nicht wegen ihrer Mutter, da würden die heiligen Zeiten für einen Besuch schon reichen , nur dem Großvater konnte sie ihr Herz ausschütten, ihre Freuden und Leiden erzählen, so wie sie es zu seinen Lebzeiten immer getan hatte.

      Damals gab es oft genug Anlass zu ihm zu flüchten und sich von ihm trösten zu lassen. Ihre Gedanken verloren sich in diese Zeit und sie sah sich als kleines vaterloses Mädchen in die Volksschule gehen. Der Vater hatte, wie sie später erfuhr, ihre Mutter mit dem Kind sitzen lassen und so musste sich diese mit ihrer Tochter durch Aushilfsarbeiten bei den Bauern ernähren. Der Großvater aber war das Zuhause. Er gab ihr Wärme und sie holte sich bei ihm Trost und Rat. Trost brauchte sie in übergroßem Maß, denn es mangelte ihr an Mutterliebe.

      Die Mutter war hart und hatte sie schon als kleines Kind zur Mithilfe gezwungen. Wenn sie etwas nicht nach dem Willen der Mutter machte oder Dinge, die sie zu erledigen hätte, nicht gleich sah, wurde sie von ihr an den Haaren zur Arbeit gezogen. Das führte dazu, dass sie sich oft vor ihr in den nahe gelegenen Stall des Bauern flüchtete. Dieser hatte Ziegen und Katzen, die ihre liebsten Spielkameraden wurden. Sie führte die Ziegen auf die Weide. Dort konnte sie ihnen erzählen, wie ihr ums Herz war und da drückte sie die Tiere an sich, um ihnen ihre Liebe zu zeigen. Das spürten diese auch und folgten ihr auf Schritt und Tritt. Aber nichts und niemand konnte den Großvater ersetzen. Von ihm hörte sie Geschichten über Prinzessinnen, Elfen und Berggeister, die sie ihren Tieren weitererzählte. Manche waren auch gruselig. Die durfte sie ihnen natürlich nicht zumuten.

      Aber die Geschichte vom verwunschenen Wald war ihre Lieblingsgeschichte, die der Großvater unzählige Male hervorholen musste. Sie setzte sich auf einen Schemel zu seinen Füßen und bat: „Bitte erzähl mir die Geschichte vom verwunschenen Wald.“

      Wenn er dann mit den Worten „Es war einmal ein kleines Mädchen …“ begann, versank für sie die Wirklichkeit. Zwar fing die Geschichte immer mit diesen Worten an, aber sie war voll von Abenteuer und Begebenheiten, von denen die Kleine nicht genug bekommen konnte, denn immer wieder erlebte das Mädchen etwas Neues und Gretl lebte mit dem Mädchen so mit, als wäre sie selbst jenes Kind, das der Phantasie des Großvaters entsprang. Natürlich war sie es, denn wen sollte er sonst meinen als sie?

      Sie geht also in den Zauberwald und hört, wie ein Baum zu ihr spricht. Zuerst glaubt sie, sich verhört zu haben, aber dann setzt sie sich auf einen Baumstumpf um die Geräusche besser verstehen zu können. Wieder hört sie den Baum sprechen. „Ein böser Hexenmeister hat unser Volk in Bäume verwandelt. Wir waren Bergleute und haben nach Erz gegraben, viele Generationen lang. So hat sich ein Vermögen angesammelt, das unser aller Besitz war und das wir schützen mussten. Aber der Zauberer wollte uns den Schatz nehmen. Wir haben ihn im Berg gut versteckt. Aus Wut darüber hat er uns in Bäume verwandelt und dieser Fluch wird so lange dauern, bis jemand kommt, der ihn hebt und seinen Wert zu schätzen weiß. Such doch nach ihm. Er liegt in einem Bergstollen. Wenn du ihn aufspürst, bewahre ihn gut, denn der Zauberer wird alles tun, um ihn dir wegzunehmen. Deshalb verlier ihn nicht, bis der böse Fluch an Kraft verliert und unser Volk erlöst wird. Du musst fest an dein Glück glauben, denn wenn du es gefunden hast, dann wird der Bann gebrochen.“

      Der Großvater fand immer wieder neue Wendungen für diese Geschichte, aber jetzt, da er tot ist, muss sie sich wohl selbst auf die Suche nach dem Glück begeben und hoffnungsvoll