Adrian Plitzco

Der harte Engel


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      Eric war nicht an einer Konversation interessiert und betrachtete stattdessen die Wolkenkratzer, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des karamelfarbenen Yarra-Flusses erhoben. Obwohl seine Augen nur milchige Silhouetten wahrnahmen, erkannte er die einzelnen Gebäude mühelos: den Rialto-Tower, das Melbourne-Central, das wie eine Nadelspitze in den Himmel stach, die beiden Regent-Türme sowie die unzähligen anderen, namenlosen Wolkenkratzer, die dicht gedrängt in schwindelnde Höhen schossen. Umgeben von den einstöckigen Wohnhäusern, die sich endlos in alle Richtungen über die weite Ebene ausbreiteten, erinnerte das Zentrum von Melbourne aus der Ferne an ein gigantisches Spukschloss, verziert mit Hunderten von Zinnen. Soweit Eric es beurteilen konnte, sah die Stadt noch genauso aus wie vor zwei Jahren. Nichts hatte sich geändert.

      „Was sind sie von Beruf?“, fragte der Taxifahrer.

      Eric zögerte. Über seinen Beruf hatte er in den letzten Jahren nicht nachgedacht, und er beabsichtigte auch nicht, es jetzt zu tun.

      „Schriftsteller“, log er.

      „Krimis?“

      „So ungefähr.“

      Der Taxifahrer lächelte. „Dann sind sie bestimmt ständig auf der Suche nach spannendem Material.“

      Eric merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte, und fragte sich, warum ihm keine langweiligere Lüge eingefallen war, wie Gabelstaplerfahrer oder Bibliothekar. Zu spät, der Taxifahrer hatte schon wieder zu einem Monolog angesetzt.

      „Ich habe Sachen erlebt“, prahlte er, „einen Bestseller nach dem andern könnte man damit schreiben. Heißer Stoff. Huren, Drogensüchtige, Verbrecher. Ich kenne mich aus mit diesem Pack.“

      Am Kings Way blieb der Verkehr stehen und die Hitze im Taxi wurde unerträglich. Autos, so weit das Auge reichte.

      Plötzlich senkte der Taxifahrer warnend die Stimme: „Eins müssen Sie wissen, dieses Pack ist ganz schön hart. Und gefährlich.“ Er ließ das Steuerrad los und drehte sich zu Eric um. „Schauen Sie sich meinen Ring an.“

      Seine Hand war groß und kräftig. Eine Hand, die viel Schaden anrichten würde, wenn sie zuschlug. Und um jeden seiner dicken Finger klebte ein Ring. Eric wusste nicht, welchen von ihnen der Taxifahrer ihm zeigen wollte, er sah nur, wie sich die Ringe tief ins dicke Fleisch gegraben hatten.

      „Ich war mit ein paar Freunden einen trinken. In der Kings Street, im Titts Galore, Melbournes bestes Striplokal. Da kommt plötzlich dieser Riese auf mich zu, und ohne was zu sagen, packt er meine Hand und reißt an dem Silberring. Will ihn mir einfach von der Hand reißen, dieser Bastard, und bricht mir dabei den Finger.“ Er hielt inne und starrte Eric an, als wäre ein gebrochener Finger das größte Unglück, das einem Menschen widerfahren konnte.

      „Wir gingen raus auf die Straße. Meine Freunde, der Riese und ein Haufen seiner Kollegen. Plötzlich zog einer eine Pistole. Und in seiner Dummheit schoss er sich selber in den großen Zeh.“ Der Taxifahrer lachte laut auf. „In die Hosen geschissen haben sie sich, die Feiglinge, und sind abgehauen.“

      Jetzt rutschte Eric doch näher zu dem Taxifahrer hin. Er bat ihn, sich den Ring noch mal anschauen zu dürfen. Es war aber nicht der Ring, der ihn interessierte, sondern die Hände, die er nun eingehender betrachtete.

      Der Taxifahrer sprach auf einmal leiser, als wollte er Eric in ein Geheimnis einweihen. „Nächste Woche sehen wir sie wieder. Dann wird abgerechnet.“ Er formte die fleischige Hand zu einem Pistolenlauf, zielte zum Seitenfenster hinaus und jagte einem nebenan wartenden Autofahrer eine imaginäre Kugel ins Ohr. Eric rutschte in den Sitz zurück.

      „Könnten Sie einen Menschen umbringen?“, unterbrach er den Taxifahrer, bevor dieser wieder loslegte.

      Der Verkehr rollte langsam an. Die Autos, die hinter dem Taxi warteten, hupten. Der Taxifahrer drehte sich verblüfft nach Eric um. Dann fluchte er über die ungeduldigen Autofahrer, und setzte seinen Wagen ebenfalls in Bewegung. Endlich hielt er den Mund, so lange, bis sie vor Erics Wohnung angelangt waren. Dort nahm er lächelnd das Fahrgeld entgegen und hielt Erics Hand mit seiner Riesenpranke fest.

      „Wenn jemand verdient hat zu sterben“, sagte er betont gelassen, „muss ihm dazu verholfen werden.“ Dann setzte er ein steinernes Gesicht auf und fuhr davon.

      Kapitel 2: Reviving Venus

      Die Wohnung war aufgeräumt, sauber und gelüftet. Auf dem Esstisch stand ein frischer Blumenstrauß. Ein Willkommensgruß des Reinigungsservices, der während Erics Abwesenheit die Wohnung in Schuss gehalten hatte. Die Wohnung war alt, die ausgetretenen Holzböden fielen im Wohnzimmer und im Flur derart schräg ab, dass die Möbel, damit sie nicht umkippten, mit Holzkeilen ausbalanciert waren. Alle Zimmer waren hoch, geräumig und die Decken mit üppigen Stuckaturen verziert. Von den hohen Schiebefenstern blätterte die Farbe ab, und wenn draußen der Wind wehte, klapperten sie in ihren Schienen. In der ganzen Wohnung gab es keine einzige Tür, die sich problemlos öffnen ließ. Eine musste kräftig angehoben, die andere fest niedergedrückt oder getreten werden, damit sie sich in der Angel drehte. Doch diese Unvollkommenheiten verliehen der Wohnung ihren besonderen Charme. Maryanne war von Anfang an in sie verliebt gewesen und hatte nie erlaubt, irgendetwas an ihr zu verändern. Auf der düsteren Südseite lagen das Schlafzimmer, ein Gästezimmer und Erics Arbeitszimmer, vollgestopft mit Schachteln und allerlei Gerümpel. Die Nordseite hingegen war von Licht durchflutet. Hier befanden sich Wohnzimmer, Badezimmer, die Küche und Maryannes Schreibzimmer. Das Wohnzimmer war weiß gestrichen, auch der Fußboden und sogar die Möbel waren weiß. Eric konnte sich in diesem Teil der Wohnung nur aufhalten, wenn er eine Sonnenbrille trug, die seine Augen vor dem grellen Licht schützten. Aber weil Maryanne weiße Zimmer über alles liebte, hatte er sich damit abgefunden.

      An sonnigen Tagen, wenn das Licht die Nordseite der Wohnung erfüllte, passierte es durchaus, dass Eric mit seinem weißen Haar, der schneeweißen Haut und in weißen Kleidern praktisch unsichtbar war. Er verschwand, das grelle Licht verschluckte ihn einfach. Maryanne war jedes Mal fürchterlich erschrocken, wenn sie nichts ahnend an dem weißen Ledersessel unter dem Fenster vorbeiging und von unsichtbarer Hand in den Hintern gezwickt wurde.

      Maryannes Schreibzimmer war immer noch in dem Zustand, in dem sie es verlassen hatte. Es war vergleichsweise klein, bot aber genügend Platz für ein Büchergestell, ein Schreibpult und eine Couch vor dem Fenster. Maryanne hatte die Möbel von ihrem Großvater geerbt, der Professor für Philosophie an der Melbourner Universität gewesen war und über ein halbes Jahrhundert zwischen diesen antiken Möbeln gelebt und gearbeitet hatte. Sechs Bände über Leben und Werk englischer Philosophen hatte er an diesem Pult geschrieben, nun stand ein Computer darauf und daneben lag Maryannes erster und einziger Roman.

      „reviving venus“ stand in weißen, kleingedruckten Buchstaben auf dem stahlblau glänzenden Umschlag. Auf der unteren Hälfte war eine Variation von Botticellis berühmtesten Gemälde abgebildet: die Geburt der Venus, dargestellt als grinsendes Baby, das in die Muschel pinkelte. Eric mochte den Roman nicht. Er war ihm zu anstößig, für seinen Geschmack zu grob geschrieben und männerfeindlich obendrein. Er war davon überzeugt, dass Maryanne dem Trend der neunziger Jahre verfallen war und sich im Stil der Dirty Realists versucht hatte, die in ihren Büchern schonungslos mit der angeblich verdorbenen Welt abrechneten. In brutaler, hemmungsloser Sprache erzählte sie die Geschichte zweier Frauen, die in einer neu gefundenen Sexualität die Dominanz ihrer Männer zu Fall bringen. Eric fragte sich heute noch, wo Maryanne die raue Fantasie hergenommen hatte, mit der sie die pikanten Abenteuer ihrer Hauptfiguren beschrieb. Er konnte darin keine Parallelen mit ihrem wirklichen Leben finden, denn in seinen Augen war sie zärtlich, zerbrechlich gewesen. Furchtlos, ja, aber deswegen noch lange nicht draufgängerisch. Bevor sie sich auf etwas Unbekanntes eingelassen hatte, hatte sie lange und genau überlegt. Und vor allem hatte sie ein Faible für Romantik gehabt. Nichts davon war in dem Roman vorhanden. Jedes Mal, wenn sie ihm neu geschriebene Passagen zeigte, hatte er Unbehagen empfunden. Er fürchtete, neue, unfreundliche Seiten ihrer Persönlichkeit zu entdecken. Maryanne amüsierte sich über seine Verwirrung.

      „Du glaubst