Adrian Plitzco

Der harte Engel


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sie die Stirn und wechselte das Thema. „Sie dürfen heute Nacht auf keinen Fall eingreifen oder dazwischengehen. Sie müssen es geschehen lassen, so, wie es damals geschah.“

      Eric stellte verblüfft die Tasse ab. „Woher wissen Sie --?“

      Frau Oldenburg zuckte mit den Schultern. „Ist doch unwichtig, oder? Wenn Sie wollen, werde ich Sie gerne in den Botanischen Garten begleiten.“

      „Weshalb?“

      „Betrachten Sie es als eine gute Tat meinerseits. Hilf einmal am Tag einem Blinden über die Straße und der Eintritt in Himmel sei dir gewährt.“

      „Ich bin nicht blind.“

      „Draußen herrscht finstere Nacht.“

      „Danke, ich finde meinen Weg alleine. Ich sehe genug.“

      In der Tat sah er nachts ausgezeichnet, doch davon wusste Frau Oldenburg nichts. Eric hatte diese Fähigkeit erst vor kurzem entdeckt und niemandem etwas davon erzählt. Was seine lichtempfindlichen und äußerst kurzsichtigen Augen bei Tageslicht nicht wahrnehmen konnten, sahen sie des Nachts mit hervorragender Deutlichkeit.

      Auf dem einsamen Landsitz auf Mount Buller hatte er sich einmal bei einem Spaziergang durch den Busch verirrt und war von der Dunkelheit überrascht worden. Fernab vom ewig schimmernden Licht der Großstadt waren dort, vor allem bei Neumond, die Nächte so pechschwarz, dass man die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Zu Erics Erstaunen aber offenbarte sich ihm die Dunkelheit als eine Vielfalt von Grau- und Schwarztönen. Jeder Baum, jeder Stein, ein ausgetrampelter Weg, der lockere Erdboden oder ein Bach, ja selbst die Luft erstrahlte im eigenen Schwarz und Grau. Eric fand seinen Weg zum Haus mit Leichtigkeit zurück. Nachts war er frei, nicht auf seinen Blindenstock angewiesen, er konnte in die Ferne sehen und die Dinge betrachten. Eric sah zum ersten Mal Tiere, die er sonst nur aus Büchern kannte: Spinnen, Schlangen, Hasen, Opossums, Füchse, Wallabies und Kängurus. Nachts war der Busch voller Leben. Eine neue Welt hatte sich ihm eröffnet.

      „Seien Sie vorsichtig im Botanischen Garten“, warnte Frau Oldenburg erneut, „mit Geistern muss man behutsam umgehen.“

      „Was für Geister? Wovon sprechen Sie?“, wehrte Eric ab.

      Frau Oldenburg überhörte seinen Einwand. „In ihrem Fall handelt es sich nicht um wahre Geister, denn der Mörder lebt ja noch. Zumindest können wir das annehmen.“ Sie blickte zur Küchendecke hoch, schlürfte an der Tasse und fragte: „Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen?“

      „Welche Idee? Woher wissen Sie überhaupt, was ich vorhabe?“

      „Ich spüre es, wenn sich jemand in Gefahr begibt.“

      „Geister sind nicht gefährlich.“

      „Aha, also doch Geister“, sagte Frau Oldenburg und schmunzelte triumphierend. „Mir können Sie die verrückteste Geschichte auf den Tisch legen. Ich bin vielleicht die Einzige, die sie versteht.“

      Sie hatte Recht, überlegte Eric, jeder nüchtern denkende Mensch würde ihn auslachen. Also begann er zu erzählen.

      „Seit drei Jahren sehe ich immer nur das eine Bild, wenn ich die Augen schließe. Ich sehe, wie der Mörder auf Maryanne zugeht. Immer wieder sehe ich es, es ist immer das gleiche Bild, sobald ich die Augen schließe.“

      „Und jetzt glauben Sie, dass ihr Kopf nicht der einzige Ort sein kann, an dem sich diese schreckliche Szene abspielt, sondern auch dort, wo sich der Mord tatsächlich ereignete“, unterbrach ihn Frau Oldenburg.

      „Soll ich weitererzählen?“

      „Ja bitte“, sagte Frau Oldenburg schnell und hielt sich die Hand vor den Mund.

      „Mein Haus am Mount Buller ist von Pferdeweiden umgeben. Als ich eines Nachts auf der Terrasse saß, sah ich ein Känguru über den Zaun springen. Es hüpfte zu den grasenden Pferden und blieb zwischen ihnen stehen. Es zeigte keine Angst und auch die Pferde ließen sich nicht von ihm einschüchtern. Sie grasten weiter. Doch plötzlich schlug eines der Pferde aus. Sein Hinterhuf traf das ahnungslose Känguru am Kopf und schleuderte es in hohem Bogen zum Zaun zurück. Das bedauernswerte Tier war sofort tot.“

      „Aha“, sagte Frau Oldenburg erwartungsvoll und streckte ihm ihre leere Kaffeetasse entgegen. Eric schüttete den kalten Rest aus der Espressomaschine nach.

      „In der darauf folgenden Nacht wiederholte sich das Ereignis. Dieselben Umstände, dasselbe Känguru, dasselbe Pferd, das ausschlug, und dieselbe Stelle, an der das Känguru liegen blieb. Ich rannte sofort hin.“

      „Rannte?“, unterbrach Frau Oldenburg erneut.

      Eric wurde rot.

      „Schon gut. Erzählen Sie weiter.“

      „An der Stelle lag das Känguru von der Nacht zuvor. Sein Körper war aufgebläht und roch bereits. Ich nahm also an, dass das zweite Känguru den Tritt überlebt hatte und davongehüpft war. In der nächsten Nacht aber geschah es wieder, exakt zur gleichen Zeit. Sonderbar war, dass sich alles an der gleichen Stelle abspielte, obwohl die Pferde diesmal hinter dem Haus grasten. Ich konnte auch kein anderes totes Känguru finden außer dem vom ersten Mal, das inzwischen von Ameisen und Fliegen angefressen wurde. So ging das jede Nacht, bis die Bilder immer undeutlicher wurden. Bezeichnenderweise fand der Spuk dann ein Ende, als vom Kadaver nur noch Knochen und Fell übrig geblieben waren.“

      „Ein Echo“, sagte Frau Oldenburg. Sie blickte zur Küchendecke und dachte laut nach. „Nicht ein akustisches Eche, sondern ein visuelles, bildliches Echo. Ein Eche der Bewegung. Ein Echo hervorgerufen durch eine emotional geprägte Handlung. Ein Emotionsecho.“ Aufgeregt klatschte sie die flache Hand auf den Tisch, ihre Augen flackerten vor Wonne. „Ja, das gefällt mir. Emotionsecho. Nun denken Sie, den Mörder finden zu können, ihn sehen können, weil seine Tat als Emotionsecho nachhallt. Hab ich Recht?“

      Eric nickte.

      „Viel Zeit bleibt nicht mehr übrig“, sagte Frau Oldenburg.

      „Warum?“

      „Ein Echo hält nicht ewig an. Egal, ob es aus der Kehle eines jodelnden Schweizers stammt oder von einem Mord im Botanischen Garten, irgendwann wird es verklingen.“

      Sie schluckte den kalten Kaffee hinunter und lachte über ihren Vergleich. Dann stand sie auf und ging zur Tür.

      „Ich will Sie nicht länger aufhalten, Herr Winter. Ich sehe schon, Sie brennen darauf, in den Botanischen Garten zu gehen. Seien Sie auf der Hut. Geister führen uns Menschen gerne an der Nase rum. Sie lieben es, falsche Fährten zu legen. Die haben es faustdick hinter den Ohren. Vergessen Sie nicht, morgen Ihre Post bei mir abzuholen. Ich gebe Ihnen dann auch eine gute Suppe mit, die ich heute gekocht habe, mit frischen Zucchinis vom Markt, Reis und klein geschnittenem Hühnerfleisch.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu und Eric konnte sie auf dem Hausflur noch immer lachen hören.

      Er blieb in der Küche sitzen und überlegte. Emotionsecho, was für eine verrückte Vorstellung, genauso verrückt wie Frau Oldenburg. Dennoch war sie der einzige Mensch, dem er sein Erlebnis anvertrauen konnte. Er hatte die Kängurus gesehen, daran gab es nichts zu rütteln. Und ob man es nun Emotionsecho, Sonst-ein-Echo oder schlicht Einbildung nannte, war ihm egal. Vielleicht besaß er die Gabe, in die Vergangenheit zu sehen, genauso, wie andere in die Zukunft sahen. Tatsache war, dass die Polizei mit der herkömmlichen Methode versagt hatte und der Mörder bis heute nicht gefasst war. Eric glaubte nicht mehr daran, dass die Polizei den Fall noch lösen würde, dafür war schon zu viel Zeit verstrichen. Drei Jahre lang hatte er seine Rachsucht unterdrückt. Jetzt musste etwas geschehen. Und wenn er jeden Menschen in Melbourne einzeln ausquetschen musste, er wollte nichts unversucht lassen. Die Möglichkeit, die er heute Abend mit Frau Oldenburg besprochen hatte, war ein Strohhalm, an den er sich klammerte.

      Kapitel 4: Dogs Bar

      Heute vor drei Jahren war sie ermordert worden. Erstochen, gegen Mitternacht im Botanischen Garten von St. Kilda. Maryanne war seine