Adrian Plitzco

Der harte Engel


Скачать книгу

stellte Eric fest. Wo vor drei Jahren noch weiche Formen es beinahe puppenhaft hatten erscheinen lassen, zeichneten sich nun strenge Linien ab. Die hohen Wangen waren eingefallen. Die tiefgrünen Augen unter den schweren Lidern verliehen dem Gesicht einen leicht überheblichen Ausdruck. Ihre Ungezwungenheit, die Tatsache, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm, verstärkten diese Wirkung noch. Sie war in der Tat arrogant, und wer es nicht wahrhaben wollte, bekam es früher oder später zu spüren. Überdies besaß sie ein ungezügeltes Temperament. Wer Elizabeths wahres Wesen nicht kannte, wie die vielen Männer, die sich auf jeder Party um sie scharten, glaubte, eine geheimnisvolle Diva, die Marlene Dietrich der Oper sozusagen, vor sich zu haben, die es unbedingt zu erobern galt. Ihre Verehrer merkten nicht, dass Elizabeth mit ihnen spielte. Elizabeth genoss es, umschwärmt zu werden. Wer naiv genug war zu glauben, Elizabeth eines Tages besitzen zu dürfen, unterlag einem verhängnisvollen Irrtum. Ohne sich dessen gewahr zu sein, wurde er schamlos ausgenützt. So ermöglichte sie sich ihren aufwändigen Lebensstil und hatte immer jemanden an ihrer Seite, wenn es sie danach verlangte. Diese Respektlosigkeit missfiel Eric und deshalb mochte er Elizabeth nicht besonders. Aber sie war Maryannes beste Freundin gewesen. Er hatte sich im Laufe der Jahre an ihre seltsame Freundschaft gewöhnt.

      Elizabeth beugte sich über seinen Fuß. „Wenn das Blut einmal weggewaschen ist, sieht die Wunde harmlos aus“, sagte sie. Das dicke schwarze Haar fiel ihr in Wellen über den braun gebrannten Nacken. Eine Strähne klebte auf ihrer schweißnassen Haut und schimmerte im Neonlicht des Behandlungszimmers wie Seide. Das enge anthrazitfarbene Trägerkleid verhüllte die großzügigen Formen ihres tadellosen Körpers kaum.

      Elizabeths Verehrer waren sich im Urteil über ihre üppige Figur einig. „Gut im Fleisch“, begeisterten sie sich, „die essentielle Voraussetzung für ein Klasseweib.“ Eric teilte ihre Meinung, was Elizabeths Körper anging.

      Jetzt roch er den unaufdringlich frischen Parfümduft, der von ihrem breiten Rücken aufstieg. Als sie sich plötzlich aufrichtete, berührten sich ihre Körper und die Hitze ihrer Haut glühte auf seiner. Unvermittelt wich er zurück. Es war lange her, dass er eine Frau in den Armen gehalten hatte. Drei Jahre. Er hüstelte verlegen.

      Elizabeth lächelte.

      „Wird schon wieder, mein Armer“, sagte sie, holte ihre Handtasche vom Stuhl und legte sie neben ihm aufs Bett.

      „Passt du auf sie auf? Ich muss mal aufs Klo.“

      Außer den vielen Stühlen war das Behandlungszimmer spärlich eingerichtet. Neben Erics Bett stand ein Tisch und Glasschrank, der mit Verbandsstoffen, Spritzen und Medikamenten vollgestopft war. An der hinteren Wand waren in drei übereinander liegenden Reihen Haken angebracht, an schwarzen Plastikbügeln, die man normalerweise benutzt, um Hosen aufzuhängen, baumelten beigefarbene Latexhandschuhe. Eric dachte an das gerichtsmedizinische Institut, in dem er Maryanne identifiziert hatte. Dort waren die Handschuhe aus dickem rotem Gummi gewesen. Sie waren das Erste gewesen, was ihm ins Auge sprang, als er den kühlen Raum betrat. Die Leiche, die zugedeckt unter einem hellblauen Tuch auf einer flachen Chromstahlwanne lag, hatte ihn vorerst nicht interessiert. Erst auf die Frage des Kommissars, ob es sich bei der Toten um seine Frau handele, sah er genauer hin.

      „Ist das Ihre Frau?“, fragte der Kommissar ein zweites Mal.

      Eric antwortete nicht und wandte sich wieder den roten Gummihandschuhen zu.

      Der zweite Kommissar zog Eric sanft vor die Chromstahlwanne.

      „Ja, das ist meine Frau“, sagte Eric endlich. Im selben Moment dachte er, dass es nicht die Maryanne war, die er kannte und liebte. Vor ihm lag lediglich eine Leiche, ein toter Körper. Eric wunderte sich, dass sich in ihm keinerlei Gefühle regten. Wäre es die Leiche eines anderen Menschen oder der Kadaver irgendeines Tieres gewesen, hätte er vielleicht Mitleid empfinden können. Mitleid mit dem Wesen, das seine letzten Atemzüge in dieser schäbigen Hülle verbrachte. Maryannes Körper aber ließ ihn kalt, so kalt wie ihre Wange, als seine Finger sie zaghaft berührten.

      Der erste Kommissar tippte Eric auf die Schulter. Er ließ sich widerstandslos zur Türe führen. Der zweite Beamte hatte sich jedoch derart ungeschickt unter den Türrahmen gezwängt, dass er den Durchgang blockierte. Als Eric und sein Begleiter gleichzeitig vorbeigehen wollten, blieben sie stecken. Ein kurzes Geschiebe und Gerangel entstand, und Eric musste lachen. So laut und heftig, dass er fürchtete, ersticken zu müssen. Die Kommissare sahen hilflos zu, wie er am Boden kauerte. Sein Lachen klang hohl, Tränen rannen über seine Wangen und er schämte sich. Doch je mehr er das schmerzhafte Lachen unterdrücken wollte, desto heftiger platzte es aus ihm heraus.

      Er hatte nie über ihren Tod geweint. Die Wut auf den Mörder war größer als die Trauer. Der Mörder hatte ihr mit großer Wucht ein Messer in die Brust gerammt. Vom unteren Ende des Brustbeins her drang die ungefähr zwei Handbreit lange Klinge ins Herz, stach mehrere Male hinein und zerfetzte das benachbarte Gewebe. Ein Kampf hatte anscheinend nicht stattgefunden, Maryanne war von hinten überrascht worden. Das konnte die Polizei anhand der Spuren auf dem Kiesweg rekonstruieren. Am linken Oberarm hatte sie einen blauen Fleck, so groß wie ein Fünfcentstück, dessen Herkunft man sich damit erklärte, dass der Mörder Maryanne unters Gebüsch geschleift und sich an ihrem toten Körper vergangen hatte. In ihrer Scheide fand man jedoch kein Sperma oder fremdes Blut, sondern lediglich ihr eigenes und - Spuren von Baumrinde. Der fingerdicke Ast, den der Mörder für seine Tat benutzt hatte, lag in einem Blumenbeet neben dem tropischen Gewächshaus. Maryannes Brieftasche wurde neben dem Südausgang des Botanischen Gartens gefunden. Kreditkarten und Ausweispapiere waren noch da. Das Bargeld fehlte.

      Die ungewöhnliche Kombination von Indizien, die nicht zueinander passen wollten, lähmte die polizeilichen Ermittlungen. Der Fall war einzigartig. So etwas hatte es noch nie gegeben: dass das Opfer zuerst getötet wurde, dann mit einem Stück Holz vergewaltigt und danach ausgeraubt. Der Mörder konnte nur verrückt sein. Auch die umfangreiche Suche nach dem dunklen Unbekannten, der Maryanne von der Tram bis zur Haustür begleitet haben soll, blieb ohne Erfolg. Die Polizei stellte die Ermittlungen ein. Früher oder später würde sich der bestialische Mörder an einem neuen Opfer vergehen und dann hoffentlich brauchbarere Spuren hinterlassen. Als Eric von dieser Entscheidung erfuhr, hätte er am liebsten das Polizeihauptquartier in die Luft gesprengt. Er wusste nicht, wohin mit seiner Wut, und stürzte sich in Gedanken immer wieder auf den Mörder. Wie ein ausgehungerter Löwe zerfetzte er ihn dann. Er zerrte so lange an dem zerfledderten Körper herum, bis er die Seele fand, sie auch in Stücke riss, bis nichts, absolut nichts mehr von ihr vorhanden war.

      Inzwischen war Eric besonnener. Er würde sich zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Auch wenn er sich über den heutigen Fehlschlag ärgerte. Er würde warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war.

      Elizabeth kam nach einer Weile zusammen mit einer Ärztin zurück ins Behandlungszimmer. Beide waren ins Gespräch vertieft und schenkten Eric keine Beachtung.

      „Ich will sehen, ob ich welche in meiner Handtasche habe“, sagte Elizabeth. „Da bitte“, sie zog eine Autogrammkarte hervor. Mit schneller, großzügiger Schrift schrieb sie eine Widmung und überreichte der Ärztin die Karte.

      „Herzlichen Dank“, sagte diese, „da wird mein Mann sich bestimmt freuen.“ Sie steckte die Karte in ihre Kitteltasche und schüttelte Elizabeth die Hand. „Es war schön, Sie kennen zu lernen. Jetzt will ich mich besser beeilen und drüben nach Ihrem Freund sehen. Wie war noch mal sein Name?“

      „Eric Winter“, sagte Elizabeth und deutete auf das Bett. „Er liegt hier.“

      Die Ärztin zuckte zusammen, als sie begriff, dass sich auf dem weißen Laken die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichneten, vielmehr, dass tatsächlich ein Mensch da lag. Als sie die Fassung wiedergefunden hatte, entschuldigte sie sich, dass sie ihn nicht gesehen hatte.

      „Manchmal ist man einfach blind“, meinte sie und begann endlich, sich um Erics Wunde zu kümmern. Sie zog ihm vorsichtig die Hose aus, löste den Druckverband, diagnostizierte eine harmlose Bisswunde, desinfizierte sie und spritzte ein Medikament, das die Schwellung abklingen lassen würde. Nach einer letzten Entschuldigung verließ sie das Behandlungszimmer.

      „Kennst