Jörg Jennrich

Böse Bürde


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alleine ins Stadion zu fahren, würde mir nie und nimmer erlaubt werden. Da brauchte ich meine Eltern gar nicht erst zu fragen. Dass ein älterer Bruder oder mein Vater mich, den Hamburger Nachzügler, dahin begleiten würden, war genauso undenkbar. Ich wusste schon, welche Antwort ich bekommen hätte. “Du bist viel zu jung, hast eh keine Ahnung vom Fußball, schade um das teure Eintrittsgeld“. Ich musste das also alleine durchziehen. In der Enge, in der wir wohnten, war es allerdings schwer Geheimnisse zu verbergen. Not macht erfinderisch, es war mir tatsächlich gelungen meine Vorbereitungen zum Stadionbesuch, der Familie geschickt zu verheimlichen. Der Erwerb einer Eintrittskarte war für mich als Mittelloser eine teure Angelegenheit. Ich bekam ja kein Taschengeld. Wer bekam damals schon Taschengeld? Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Als Lösung kam für mich Schrottsammeln in Betracht. Wochenlang habe ich dann täglich nach Altmetall gesucht. Bis ich genug ergattert hatte, wurde das kostbare Gut sorgsam von mir in einem Versteck gebunkert. Den Schrotthöker kannte ich von früheren Sammelaktionen mit meinen älteren Brüdern. Als ich annahm endlich genug gesammelt zu haben, konnte ich das Zeug dann dort verkaufen. Bei der Abgabe meiner kostbaren Fracht wurde ich mit Sicherheit von dem Schrottganoven übers Ohr gehauen, aber der Erlös reichte trotzdem. Gerade noch rechtzeitig zum letzten Heimspiel in der Oberligasaison 1954/55 am Sonntag, den 24. April 1955, konnte ich mir von dem verdienten Geld die ersehnte Eintrittskarte kaufen. Mein HSV war schon Meister und musste im letzten Heimspiel gegen die Elf von Göttingen 05 antreten. Dann war er da, mein großer, ersehnter Tag. Mein erster Besuch beim HSV stand an. Ich war sehr angespannt. Ich hatte ja keinen blassen Schimmer, was mich im Stadion am Rothenbaum so erwartet. Denn mein Wissen lag bei null. Im Frühjahr 1955 hatten wir natürlich auch noch keinen Fernseher. Meine Kenntnisse über den Oberligafußball holte ich mir Sonntagabends aus dem Radio. Dann hockte ich immer vor unserem Volksempfänger. Denn nach den 19.00 Uhr-Nachrichten auf NWDR und dem Aufruf an die Hafenarbeiter sich am nächsten Morgen in der Admiralitätstraße zu melden, weil soundso viel Arbeiter benötigt wurden, folgten dann die Sportmeldungen; meist zuerst aus Köln und dann aus Hamburg. Voller Spannung hörte ich mir dann die Spielergebnisse an und freute mich, wenn mein Verein gewonnen hatte. Es war ein Sonntag, ich verabschiedete mich von meiner Mutter mit der Notlüge, dass ich, wie häufiger am Sonntag, zum Bramfelder Sportplatz ginge, um mir ein Fußballspiel anzusehen. Hier in der Ersten Herren spielten Kuddl Dedecke als Mittelstürmer und Harry Kakutsch im Tor. Sie waren für uns Kinder auch schon Idole, zumal Harry uns häufig geholfen hat auch ohne zu bezahlen am Kassenhäuschen vorbei auf den Sportplatz am Diekstücken zu kommen. Aber die richtigen Fußballgrößen waren natürlich die Spieler vom Hamburger Sportverein. Von Bromfeld geiht de Strootenbohn. Diese Aussage hörte ich häufiger von den plattdeutsch sprechenden Alt- Bramfeldern. Ich dachte dann immer, sie meinten, wenn du die Welt kennenlernen möchtest, dann setz dich in die Straßenbahn und fahr los. Das habe ich dann auch gemacht, obwohl mir doch ganz schön mulmig zu Mute war, als ich zum ersten Mal alleine in der Straßenbahn der Linie 9 saß und in Richtung Hamburger Innenstadt fuhr. Das Abenteuer, zum Stadion zu fahren, musste ich jetzt durchziehen. Es war in mir eine Mischung aus Neugier, Vorfreude und schlechtem Gewissen. Nach einiger Zeit erreichten wir mit dem Rhabarber Express. So nannte man liebevoll unsere Linie 9, weil sie in Bramfeld an vielen Rhabarberfeldern vorbei fuhr, den Bereich der Hamburger Straße. Dort lagen noch bis 1953 große, hässliche Trümmerberge, der von den Alliierten Bombern im Zweiten Weltkrieg zerbombten Wohnblöcke. Immer wenn ich mit meiner Mutter mit der Straßenbahn dort vorbei kam, erzeugte der Anblick dieser Ruinen in mir Angstzustände und es lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Hier hatten die Alliierten 1943 mit der Operation Gomorrha beim dritten Großangriff einen verheerenden Bombenabwurf durchgeführt. Viele tausend Menschenopfer waren zu beklagen. Insgesamt sollen fast 37.000 Opfer, darunter viele Kinder, Frauen, alte Menschen, durch das Bombardement vom 24. Juli bis zum 03. August 1943 in Hamburg ums Leben gekommen sein. Die Perversion der Alliierten die Bombardierung durch eine Mischung von Luftminen, Spreng-, Phosphor- und Stabbrandbomben durchzuführen galt allein dem Ziel zur Vernichtung der Zivilbevölkerung. Denn deutsche Fabriken zu zerbomben, machte in britischen Kriegsüberlegungen keinen Sinn, weil diese vom Gegner einfach wieder aufgebaut würden. Tote Arbeiter könnten so schnell nicht ersetzt werden. Wenn dabei auch noch Frauen und Kinder krepierten, umso eher, dachten die Alliierten, wäre der Kriegswillen der deutschen Naziherrschaft und deren Volk gebrochen. Die restlichen, zertrümmerten Mauerreste, die dort auf dem freien Gelände noch viele Jahre lagen, erinnerten mich auch gleichzeitig immer an Berlin. Dort war ich nach dem Ende der Berliner Blockade zwischenzeitig häufiger zu Besuch bei meiner Oma Pauline, der Mutter meiner Mutter, im Westteil der Stadt. Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus, wobei die eine Hälfte des Hauses nur noch eine unbewohnbare, zerbombte Ruine war. Hier in Berlin waren noch viel, viel mehr Trümmer an den Straßenzügen als Relikt des Zweiten Weltkrieges zu sehen. Diese grausamen Ruinenbilder werde ich wohl zeitlebens nie vergessen. Schon damals als Kind war mir klar, in den Trümmern starben sehr, sehr viele Menschen und der Krieg ist grausam und kann nur von Wahnsinnigen gewollt sein. Die Bahn juckelte derweil weiter, an Mundsburg entlang, quälte sich durch die enge Straße Lange Reihe in Richtung Innenstadt zum Hauptbahnhof. Bimmelte sich durch die Mönckebergstraße, bevor sie den großen Platz am Rathaus überquerte. Sie fuhr dann weiter über den Jungfernstieg am Alsterhaus vorbei. Nachdem sie dann den Gänsemarkt passierte, erreichte sie den kaiserlichen Dammtorbahnhof. Weiter durch den Mittelweg rumpelte die Straßenbahn über Winterhude dann ihrem Endziel, dem Hamburger Flughafen, entgegen. Ich bin dann allerdings schon am Mittelweg, in Höhe der Hallerstraße, ausgestiegen. Hier konnte man schon den Rummel und das Drum und Dran der Fußballveranstaltung spüren. Meine Stimmung hellte sich auf. Voller Erwartungen machte ich mich auf den Fußweg ins Stadion am Rothenbaum. Auf diesem Sportplatz spielte mein HSV in dieser Zeit seine Heimspiele aus. Von weitem war die Arena schon sichtbar. Ein für mich imposantes, großes Etwas, eben ein Stadion mit Tribünen, Kassenhäuschen, Wurst- und Bierständen, wehenden Fahnen und einer Lautsprecheranlage, deren Durchsagen man bis weit nach außerhalb hörte. Als ich endlich am Eingang zum Stadion beim Kartenabreißer angekommen war, merkte ich, dass das Spiel schon angepfiffen war. Schnell bin ich über die Treppe zur Plattform der Stehplätze hochgestiegen. Doch was sah ich dann, kein Spielfeld und keine Spieler. Meine Enttäuschung war riesengroß, denn eine nicht endende, undurchdringbare Menschenwand baute sich vor mir auf. Erwachsene Männer, alle mit Hut und breiten Schultern standen dort grölend und beobachteten das Spiel von meinem HSV. Nur ich konnte nichts sehen. Nun stand ich als kleiner Steppke traurig dahinter. „Bin einfach zu spät angekommen. So ein Mist“, dachte ich. Es schien aussichtslos zu hoffen, dass irgendwer auf die Idee käme, Erbarmen mit mir zu haben, um mich durch diese Menschenmauer nach unten durchzulassen. Eine Lösung musste her. Vorerst blieb mir nur vorbehalten, die Zuschauer zu beobachten. Ich schaute mir das Geschehen sozusagen von hinten an und beobachtete die Männer, wie sie mit dem Spiel und ihren Spielern miteiferten, sie beklatschten und die gegnerischen Spieler ausbuhten. Dabei tranken viele Bier und im Laufe der Zeit merkte ich, dass die Menschenmauer brüchig wurde. Die Leute hatten wohl doch schon das eine oder andere Bier intus und mussten nun pinkeln gehen. Das Bollwerk der Menschenmasse wurde durchlässig. Das war meine Chance, so konnte ich mich durch die Massen drängeln, musste mir dabei allerhand blöder Sprüche anhören, wie: „Na Mittagsschlaf zu Ende und hast du frische Windeln an, du Grünschnabel!“ Ich schaffte es, trotz aller Demütigungen, bis nach unten und stand nun hinter dem Tor mit voller Sicht auf das Spielfeld. Mein Traum wurde wahr. Ich hatte es geschafft, konnte nun mein Idol Uwe Seeler sehen. Leider wurde er gerade gefoult. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er am Boden. Die Zuschauer pfiffen den Gegner aus. Doch Uwe rappelte sich wieder auf und das Spiel ging weiter. Kurze Zeit später rächte sich ein robuster HSV-Abwehrspieler mit einer rüden Grätsche an dem fiesen, gegnerischen Rubber, der dann zu Fall kam und mit einem lauten Schrei den Rasen umpflügte. Das Stadion flippte vor hämischer Freude aus. Zum Spielschluss jubelten die Zuschauer begeistert. Sieg, Sieg, Sieg. Mein HSV gewann natürlich das Spiel sicher und gekonnt mit 4:0. Das war es, hautnah dabei, beim Oberligafußball, nahe meinem Idol. Welch ein schönes Gefühl. Ich genoss den Augenblick in vollen Zügen. Mein erträumtes Abenteuer ging gerade in Erfüllung. Davon hätte ich gerne mehr erlebt. Im Übrigen verlor der HSV sein letztes Punktspiel dieser Oberliga Nord Saison 1954/55 ausgerechnet gegen den Stadtrivalen Altona 93 mit 3:2. In dieser Mannschaft spielte zu der Zeit Uwes älterer Bruder Dieter. Als Tabellenerster schloss der HSV die Saison souverän mit 47:13 Punkten und 108:41 Toren vor der Elf von Bremerhaven 93, Altona 93 und Werder