Jörg Jennrich

Böse Bürde


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Die Frage danach wäre mir schon recht peinlich gewesen. Zum Glück blieb mir dieses Problem erspart. Wie so häufig waren die anderen Familienmitglieder mit sich selbst beschäftigt. Keiner nahm Notiz von meiner Heimkehr und so brauchte ich mich auch nicht zu erklären. Obwohl ich zu gerne meinen größeren Brüdern von dem Erlebnis, Uwe Seeler live beim Fußballspielen zu sehen, erzählt hätte, zumal sie auch noch in erster Linie Sympathie zum Berliner Fußballclub Hertha BSC hatten. Das ging aber leider nicht, sonst hätte ich in den folgenden Zeiten mit Sicherheit nicht mehr die Möglichkeit gehabt, mich hin und wieder unbemerkt von der Familie abzusetzen, um alleine zu den Spielen meines HSV am Rothenbaum zu fahren.

      In unserem Garten, im Pfirsichweg, stand tatsächlich ein Pfirsichbaum. Er war wohl schon recht alt und beschenkte uns kaum noch mit leckeren, süßen Früchten. Dieser Baum stand von seiner Art her alleine in mitten von Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschbäumen, die sich darin übertrumpften in der Erntezeit uns mit vielen wohlschmeckenden, saftigen Früchten zu erfreuen. Dieser ziemlich große, aber schon gebrechliche Pfirsichbaum mit spröden Ästen, erschien mir als Kind, war einsam unter den anderen Bäumen in unserem Garten. Genauso erging es mir, dem Hamburger in der Berliner Familie. Es gab für mich niemanden, dem ich meine Sorgen, Nöte oder Wünsche anvertrauen konnte. Meinen Eltern und Geschwistern fehlten die Fähigkeiten mir, dem Kleinsten, zuzuhören um mich gegebenenfalls mit Ratschlägen zu versorgen oder auch einmal Mitgefühl an meinen Problemen zu zeigen. Ich hatte einfach die Klappe zu halten und musste mich immer hinten anstellen. Andere Vertrauenspersonen waren für mich nicht vorhanden. So teilte ich mir meine Gefühle mit dem Pfirsichbaum und erzählte ihm auch, dass ich heute heimlich beim HSV am Rothenbaum war. Ich berichtete ihm, wie ich ganz alleine mit der Straßenbahn zum Fußballstadion gefahren bin. Wie ich mich durch die Zuschauer gedrängelt habe, um das Geschehen auf dem Fußballfeld sehen zu können. Voller Begeisterung schwärmte ich dann noch einmal von den Spielern des HSV, wie sie gerannt und gekämpft haben und wie der Torwart unglaubliche Paraden gezeigt hatte, damit der Ball nicht in seinem Netz zappelte. Die alten Zweige des Baumes bewegten sich heftig im Wind, als ob er mir ein Lob und Anerkennung aussprechen wollte. Ich fühlte mich vom Pfirsichbaum sehr geehrt. Zur Belohnung kickte ich noch mit ihm eine Weile, denn sein dicker Stamm war ein verlässlicher Rückpassgeber und beim Daddeln stellten wir uns in meiner Fantasie immer wieder die für mich offenen Fragen: „Warum steht dieser Pfirsichbaum hier in unserem Garten und nicht irgendwo in China?“ „Und in was für eine Familie, die mit welchem Schicksal behaftet ist, bin ich eigentlich hinein geboren worden ?“

      Berlin

      Mit der Einigung zum kleindeutschen Nationalstaat durch den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, die am 18. Januar 1871 vollzogen wurde, wurde Berlin Hauptstadt des deutschen Nationalstaats. Am 02. September 1873 wurde dann feierlich die imposante 66,89 Meter hohe Siegessäule eingeweiht. Anlass dieses Bauwerkes waren Siege der Preußen im Deutsch-Dänischen Krieg 1864, dem Deutschen Krieg 1866 gegen Österreich sowie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Die Feierlichkeiten wurden zum dritten Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Sedan, wo die französischen Truppen kapitulierten und der französische Kaiser Napoleon III. gefangen wurde, abgehalten. Oben auf der Säule thront eine weibliche Figur, die krönende Viktoria, die in der griechischen Mythologie als Siegesgöttin bekannt ist. Im Berliner Volksmund wird die Figur als Goldesel bezeichnet. In dieser nationalen Hochstimmung entwickelte sich Berlin seit Mitte des 19. Jahrhundert zu einem industriellen Zentrum. Die Hauptstadt des Deutschen Reiches wurde zur viertgrößten Metropole der Welt. Dies steigerte erheblich die Nachfrage nach Arbeitskräften und bewirkte einen starken Zustrom von Menschen nach Berlin.

      So lockte die Aussicht auf allgemein verbesserte Lebensverhältnisse auch die Eltern meines Vaters und meiner Mutter zur Jahrhundertwende um 1900 aus den landwirtschaftlich geprägten Preußischen Provinzen zum Arbeiten nach Berlin.

      Die Vorfahren meines Großvaters lebten in Magdeburg. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Stadt im Jahr 805, von dort ging die Christianisierung der Slaven vom Erzbistum Magdeburg aus, das Otto I. im Jahr 968 begründete. Er war erster Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Mittelalter erlangte die Hansestadt große Bedeutung durch das gleichnamige Stadtrecht und war im Spätmittelalter eine der größten deutschen Städte. Nach der völligen Verwüstung im Dreißigjährigen Krieg wurde Magdeburg zur stärksten Festung des Königreich Preußen ausgebaut und 1882 mit über 100.000 Einwohnern zur Großstadt erklärt.

      Aber bessere Arbeitsbedingungen lockten auch meinen Opa Max, Sohn eines Chemikers, in die Millionenstadt Berlin. Hier lernte er dann seine Frau, meine Oma Luise kennen und lieben. Sie kam aus Breslau. Die Stadt gehörte im Geburtsjahr meiner Oma 1882 zum Deutschen Kaiserreich. Ihr Vater war gebürtig aus Kärnten in Österreich. Opa Max und Oma Luise gründeten eine Familie und bekamen fünf Kinder. Vier Mädchen und einen Jungen. Dieser Junge, mein Vater, war das älteste der Kinder und wurde 1902 in Rixdorf bei Berlin geboren.

      Auch die Eltern meiner Mutter, Opa Paul und Oma Pauline verliebten sich in Berlin und heirateten dort. Deren Vorfahren kamen aus der Oberlausitz, aus dem Oberspreewald, aus Thüringen und aus Sachsen, also aus preußischen Provinzen. Pauline und Paul bekamen zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter. Diese Tochter, meine Mutter, war ebenfalls die älteste der Kinder und wurde 1907 in Berlin geboren. Die Kindheit erlebte sie und ihr Bruder noch im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich im Königreich Preußen, das seit 1888 von Kaiser Wilhelm II. regiert wurde.

      Dann erschütterte das Attentat von Sarajevo die Welt. Am 28. Juni 1914 wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie, Herzogin von Hohenberg bei ihrem Besuch in Sarajevo von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna, ermordet. Das Attentat in der bosnischen Hauptstadt löste die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Welche katastrophalen Folgen das Attentat hatte, war dem bosnischen Serben, dessen Ziel Herzegowina von der österreichisch-ungarischen Besatzung zu befreien war und den Zusammenschluss der südslawischen Provinzen mit Serbien und Montenegro zur Bildung Jugoslawiens zu erreichen, wohl nie in den Sinn gekommen. Der Attentäter Princip war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Er wurde gefasst und zu zwanzig Jahren Isolationshaft verurteilt. Bis 1916 war er auf der kleinen Festung in Theresienstadt ständig angekettet. Infolge der Haftbedingungen verfiel Princip gesundheitlich. Mehrfach versuchte er sich umzubringen. Ein Arm musste ihm amputiert werden. Schließlich starb er am 28. April 1918 im Gefängnislazarett. Mit ihm starben in Folge des Attentates 17 Millionen Menschen im Ersten Weltkrieg. Dieser begann am 28. Juli 1914, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, weil Serbien, bestärkt durch Russlands Zusage militärischer Unterstützung im Konfliktfall, sich weigerte eine gerichtliche Untersuchung des Attentates unter Beteiligung von österreichischen, kaiserlichen und königlichen Organen durchführen zu lassen. Die Interessenlagen der Großmächte ließen den Lokalkrieg innerhalb weniger Tage zum Kontinentalkrieg eskalieren. Wesentliche Kriegsbeteiligte waren Deutschland, Österreich-Ungarn, das Ostmanische Reich und Bulgarien einerseits sowie Frankreich, Großbritannien, das britische Weltreich, Russland, Serbien, Italien, Rumänien, Japan und die USA anderseits. Der Krieg wurde von 1914 bis 1918 in Europa, dem Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren geführt.

      Schließlich beteiligten sich 40 Staaten an dem bis dahin umfassendsten Krieg der Geschichte. Insgesamt standen annähernd 70 Millionen Menschen unter Waffen. Nach vier Jahren Krieg informierte am 29. September 1918 die Oberste Heeresleitung den Deutschen Kaiser und die Regierung über die aussichtslose militärische Lage des Heeres und forderte ultimativ die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen. Am 4./5. Oktober 1918 ersuchte Reichskanzler Max von Baden die Alliierten um einen Waffenstillstand. Am 11. November 1918 trat der Waffenstillstand in Kraft. Die Vorstellungen der auf der Pariser Friedenskonferenz tagenden Entente-Staaten wurden im Mai 1919 bekannt und im Versailler Vertrag am 22. Juni 1919 im Deutschen Reichstag gebilligt und vom Außenminister Hermann Müller und dem Verkehrsminister Johannes Bell im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnet. Der Vertrag trat am 10. Januar 1920 in Kraft.

      Durch die Schmach der Franzosen über den gegen die Preußen von ihnen angezettelten und verlorenen Krieg 1870-71, schlugen sie nun mit voller Härte gnadenlos zurück. Die Kränkung der Franzosen muss riesig gewesen sein, als Wilhelm I. ausgerechnet