Yuriko Yushimata

Virus Mutant


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hatte sie den besagten Karton gefunden. Zeitungsartikel fielen ihr entgegen. Alles Texte über Viren. Sie las nur die Titel.

      'Sie kommen aus einer anderen Dimension.'

      'Gefahr aus dem Inneren.'

      'Die geheimen Herrscher der Welt.'

      'Der verlorene Krieg.'

      Darunter lag eine kopierte Dissertation aus den 70er-Jahren – 'Virencluster als autopoietische Systeme. Systemtheoretische Überlegungen zur Mensch-Virus-Beziehung' – noch mit Schreibmaschine geschrieben. Die Typografie entlockte ihr ein Lächeln.

      Sie überflog die Zusammenfassung. Die Autorin warf dort in einer Nebenbemerkung die Frage auf, ob Virencluster Intelligenz entwickeln könnten. Sie argumentierte offensichtlich mit der biologischen Systemtheorie von Maturana dafür.

      Die Bemerkung war fett unterstrichen.

      Unter der Dissertation lagen einige kürzere Texte über Computerviren und Künstliche Intelligenz. Ein Text über Cluster von Computerviren, genetische Algorithmen und die Fähigkeit künstlichen Lebens, Intelligenz zu entwickeln, war mit Dutzenden von kaum lesbaren Kommentaren versehen.

      Unter allen Texten lag eine Mappe aus schwarzer Pappe, in der krakeligen Schrift Alberts stand auf der Außenseite mit Bleistift kaum lesbar geschrieben 'Der Tag, an dem wir zurückschlagen'.

      Vorsichtig nahm sie die Mappe aus dem Karton und öffnete sie. Aber da war nichts, nichts, nur leere Seiten.

      Sie schüttelte den Kopf und musste ein Weinen unterdrücken.

      Noch einmal ging sie durch die Wohnung, überall lagen Desinfektionsmittel, viele waren umgekippt und ausgelaufen, als hätte ein Kampf mit einem unsichtbaren Gegner stattgefunden. Im Bad lag überall Seife. Und an der Wand hing ein riesiges Poster über die richtige Art, sich die Hände zu waschen, vom Bundesgesundheitsministerium.

      Dann sah sie den Spiegel und die rote Schrift – 'Sie kommen. Sie greifen an' –.

      Langsam sah sie selbst überall unsichtbare Gegner. Fluchtartig verließ sie die Wohnung.

      Nachts hatte sie einen Alptraum. Ein fetter lachender Virus wälzte sich auf ihren Bauch und drohte sie zu zerquetschen. Schweißgebadet wachte sie auf. Vielleicht hatte Albert doch Recht gehabt. Sie konnte nicht mehr schlafen und kochte sich Kaffee.

      Woran war Albert eigentlich gestorben?

      Am Morgen rief die Polizei an. Die Untersuchungen waren abgeschlossen. Die Todesursache stand nun fest.

      Sie schluckte trocken. "Was?"

       "Herr Albert Barnim ist auf einem Stück Seife ausgerutscht und hat sich dabei am Badewannenrand das Genick gebrochen."

      Sie fing an zu lachen, erst leise, dann immer lauter. Der Beamte am Telefon musste denken, sie sei verrückt geworden. Aber ihr war so leicht zumute. Keine Viren, die Seife war schuld.

      Noch am selben Tag ließ sie sich in einem kleinen Laden um die Ecke ein etwa 15 mal 10 Zentimeter großes Schild anfertigen – 'SEIFE ist gefährlich!' – und hängte es über ihrem Waschbecken auf.

       FIN

       Das Mädchen mit dem Springseil

      Die ersten Aufkleber mit dem Aufruf - 'Freiheit für A/H1N5' - hatte Nina für einen schlechten Scherz gehalten. Wer konnte Freiheit für einen gefährlichen Grippevirus fordern?

      Doch dann hatten die Medien angefangen zu berichten. Die Virusbefreiungsbewegung hatte zwei Hochsicherheitslabore gestürmt, um den Viren ihre Freiheit zurückzugeben. Im Internet wurde ein Video verbreitet, in dem ein maskierte Frau sich als Sprecherin der Täter bezeichnete.

      Sie verlas ein Bekennerschreiben. Ihre Augen erschienen dabei zwischendurch in Großaufnahme, sie waren gleichzeitig voll Angst und Hass. "Viren sind der Anfang allen Lebens. Was sind wir dagegen? Die Menschen bilden sich ein, die Krone der Schöpfung zu sein und sind dabei das zerstörerischste Lebewesen auf der Erde. Menschen sind eine Krankheit und virale Mutationen sind die Antwort der Natur."

      Nina versuchte dies auszublenden und nicht an früher zu denken, an das kleine Kind, das Seil hüpfte. Ihr Springseil war noch irgendwo.

      Aber das lag 20 Jahre zurück, A/H1N5, die Deutsche Grippe, die Toten. Aber immer wieder sah sie sich als Mädchen mit dem Springseil. Das Mädchen mit dem Springseil.

      Es war Dienstag. Am Abend schrien die Medien ihre Botschaft aus allen Löchern, auf den TV-Schirmen in der S-Bahn, auf ihrem Handy, im Supermarkt, überall die Berichte über die Virusbefreiungsfront.

      Auf dem Rückweg nach Hause musste sie am Robert-Karl-Institut für Mikrobiologie vorbei.

      Die Zeitungen hatten groß berichtet, dass hier in den Hochsicherheitslaboren die wirklich gefährlichen Erreger verwahrt wurden. Als wollten sie, dass ein Anschlag stattfindet.

      Überall stand Polizei, die Straße war für Autos gesperrt. Ihr Ausweis wurde kontrolliert, aber ein anderer Weg hätte für sie einen 15 Minuten längeren Fußweg bedeutet.

      Als sie den Haupteingang erreichte, ging alles ganz schnell.

      Zwei Polizisten zogen Schnellfeuergewehre und schossen wahllos auf ihre Kollegen. Sie war wie gelähmt. Dann griff sie einer der Schießenden und zog sie als Schutzschild mit sich.

      Aus dem Institut waren Explosionen zu hören, Rauch drang aus zersplitternden Fenstern, dann liefen ein Mann und eine Frau, beide als Ärzte gekleidet, die Treppen vom Haupteingang hinunter und schlossen sich ihnen an.

      Bevor die Polizei die Situation überblickte, waren die Vier mit ihr bereits in dem Teil des Hafens, der in der Nähe des Instituts lag. Handlungsunfähig ließ sie alles über sich ergehen.

      Die als Ärztin verkleidete Frau wurde angeschossen. Einer der als Polizisten verkleideten Männer warf Rauchgranaten und schoss wahllos um sich. Dann nahm er eine am Boden kauernde Frau als weitere Geisel.

      Im Hafenbecken lag ein Schnellboot. Irgendwer drückte ihr einen Lappen auf das Gesicht. Es roch nach ...

      Als sie wieder zu sich kam, sah sie die beiden Männer, die als Polizisten verkleidet gewesen waren, an einem Holztisch sitzen und essen. Nun trugen sie unauffällige Alltagskleidung. Sie hörte ein Wimmern. Die andere Geisel saß mit Handschellen an Händen und Füßen auf dem Boden in einer Ecke. Das Zimmer wirkte wie ein Teil eines Ferienhauses, draußen sah sie im Dunkel nur Bäume und Schnee.

      Aus einem anderen Teil des Hauses hörte sie Schmerzensschreie, das musste die angeschossene Frau sein. Der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war, war auch nirgends zu sehen.

      Nina merkte, wie sie wieder wegsackte, dann verschwand die Welt.

      Als sie wieder aufwachte, war von den beiden Männern nichts mehr zu sehen. Auch die zweite Geisel war verschwunden. Am Fenster saß der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war. Als sie sich bewegte, sah er zu ihr herüber. Nur ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt. Er wies mit dem Kopf nach draußen.

      Aus dem Fenster war nur Schnee und Wald zu sehen. "Der Schnee liegt inzwischen zwei Meter hoch, die Temperatur liegt bei 17 Grad minus, der nächste Ort ist 60 Kilometer entfernt. Versuchen Sie gar nicht erst zu fliehen."

      Nina sah ihn an: "Wo sind wir?"

       "Das ist nicht wichtig."

       "Wieso tun Sie das?"

      Der Mann schien einen Augenblick an ihr vorbeizuschauen: "Haben Sie sich schon mal überlegt, wie es kommt, dass diese Gesellschaft immer korrupter und egoistischer wird? Die Menschen denken nur noch an das nächste große Auto, PC-Spiele, Sex und alles käuflich. Wir zerstören die Lebensgrundlage für kommende Generationen. Die Abwehrsysteme der Natur funktionieren nicht mehr. Wir helfen nur, damit alles wieder