Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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endlich begann man sich in der Stadt doch Sorgen zu machen. Dunkle Gestalten waren in unseren Mauern aufgetaucht, und niemand war da, der sie aus der Stadt hätte weisen können. Zwei der zurückgelassenen Wachen fand man eines Morgens mit durchschnittenen Kehlen, und ein Dritter wurde abgestochen, als er eine Rauferei schlichten wollte. Der Vierte ward nicht mehr gesehen, und man wusste nicht, ob auch er ermordet oder nur geflohen war. Im elterlichen Haus herrschte nun Trübsinn und Sorge. Vater war gereizt, und beim Essen wurde kaum noch ein Wort gesprochen. Schlimme Nächte begannen. Wilde Horden zogen nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen, warfen Fensterscheiben ein und verprügelten Bürger. Doch das genügte ihnen bald nicht mehr. Sie begannen, Türen aufzubrechen, schlugen die Menschen nieder und plünderten die Häuser. Und da war niemand, der ihnen hätte Einhalt gebieten können. Von Tag zu Tag wurden die Schurken zahlreicher, und das Leben in der Stadt unerträglicher. Bald konnte man sich auch am Tag nicht mehr auf die Straße wagen.

      Vater trug nun Waffen und hatte alle seine Knechte im Haus versammelt. Nachts wurden Wachen aufgestellt. Die reichen Kaufleute trafen sich bei uns und berieten, was zu tun sei, aber niemand wusste einen brauchbaren Rat. Man beschloss die Habe der Familien aus der Stadt zu schaffen und bereitete die Flucht vor. Doch die Kunde, die von außerhalb der Mauern kam, verhieß nichts Gutes. Dort wüteten die Banden noch schlimmer als in der Stadt. So wurde die Abreise immer wieder aufgeschoben. In dieser Zeit saß ich oft im Garten und versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich musste um meinen zukünftigen Gemahl trauern und empfand doch keine Trauer. Gleichzeitig aber sah ich mich als Witwe, die nun ohne einen Mann ins Grab würde gehen müssen. Wie bedauerte ich mich dafür, ich dummes törichtes Geschöpf!

      Lassen wir das! Ich verliere mich in Erinnerungen. Verzeiht einer alten Frau, wenn sie vom Faden der Geschichte ein wenig abschweift. Aber wenn man alt wird, dann gehen einem so manche Gedanken durch den Kopf. Was wollte ich überhaupt erzählen? Ach ja, warum ich so alt geworden bin. Mein Alter hat etwas mit dem Untergang von Olifo zu tun. Ich sehe Eure erstaunten Gesichter. Ja, mit dem Untergang dieser Stadt! Und da war dann noch der Blaue Alte.

      Aramar, du sollst nicht lächeln! Auch du spielst eine Rolle in meiner Geschichte. Ich glaube, du hast eine Zeitlang in allen Geschichten von Centratur eine Rolle gespielt! Aber ich werde müde. Berichte du nun, was du damals erlebt hast. Ich will dich dann ergänzen."

      Schwer atmend hatte sich die alte Frau auf einen Hocker am Feuer gesetzt, nachdem sie zuletzt erregt auf und abgegangen war. Aramar, der den Kopf in seinen beiden Händen geborgen hatte, richtete sich auf und sagte mit schwerer Stimme: „Man hatte mir von den Vorkommnissen in Paradland berichtet. Während die Könige ihre Streitkräfte zum letzten Aufgebot sammelten, verließ ich die Heere, um dort nach dem Rechten zu sehen. Eines Tages gegen Abend kam ich hier an. Mein Pferd musste sich seinen Weg durch eine grölende Menge bahnen, die sich in den engen Gassen drängte. Die Strolche trugen Truhen auf den Schultern und zogen kreischende Frauen mit sich. Berittene sprengten in die Stadt und aus der Stadt, deshalb fiel ich als einzelner Reiter nicht weiter auf. Als ich am Marktplatz angekommen war, sah ich rote Flammen am Himmel. Irgendein Wahnsinniger musste in seinem Übermut beim Plündern ein Haus angezündet haben.

      Hier gab es nichts mehr zu retten. Das Beste war, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Ich saß ab, nahm mein Pferd am Zügel und versuchte, mit dem Strom der Diebe aus der Stadt zu schwimmen. Da sah ich dieses Haus hier. Seine schweren Fensterläden waren eingeschlagen, Flammen schlugen aus den oberen Stockwerken und Schurken schleppten Teppiche, Vasen und Truhen aus dem Tor. Mitten in dem Chaos stand eine weiße Gestalt. Es war eine junge Frau, und sie machte ein so entrücktes Gesicht, als ginge sie dies alles nichts an. Sie schien einen unsichtbaren Schutzschild um sich zu haben, der die gierigen Hände der Mordbrenner von ihr abhielt. Scheu machten die wilden Gesellen um sie einen Bogen.

      Ich überlegte nicht lange, schwang mich in den Sattel, drängte mich durch die Horde und riss die Frau zu mir aufs Pferd. Dann gab ich dem Tier die Sporen und ritt wie der Teufel zum nächsten Stadttor. Ich muss wohl eine ganze Reihe Plünderer nieder geritten haben. Wir verließen unbehelligt die untergehende Stadt. Mein Pferd galoppierte, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihm her, und als ich mich schließlich umsah, stand ganz Olifo in Flammen. Irgendwann hielt ich an und wickelte das in seinem dünnen Kleid frierende Mädchen in meine Reisedecke. Dann jagten wir weiter durch die Nacht, und der Schein der brennenden Stadt begleitete uns noch lange. Wenn wir rasteten und zu schlafen versuchten, wärmte ich die junge Frau mit meinem Körper. Ich vermied die Südstraße, denn auf ihr waren streunende Banden unterwegs. Nach Tagen erreichten wir das Tal Rotamin. Dort stand Loron, der hohe Turm, den Sophil im Auftrag des Weißen Rates beherrschte. Endlich waren wir in Sicherheit.

      Ich half dem völlig erschöpften Mädchen die vielen Stufen hinauf und bettete es auf eine bequeme Liege im Salon des Turms. Die Frau hatte auf der ganzen Reise kein einziges Wort gesprochen. Sophils Diener brachten Getränke und leichte Speisen. Ich versuchte, ihr etwas heißen Wein mit kräftigen Gewürzen einzuflößen. Doch sie wehrte ab und lag nur starr da, den Blick auf die Decke des Zimmers gerichtet. Weil Sophil und ich uns nicht weiter zu helfen wussten, sprachen wir einen kräftigen Zauber, und das Mädchen fiel in einen tiefen, heilsamen Schlaf.

      Während die Kraft in den jungen Leib zurückkehrte, saßen wir zusammen und berieten die Veränderungen in der Welt. Mit dem Fall von Olifo und dem Untergang des Paradland fehlte ein wesentlicher Sicherheitspfeiler im Kampf gegen die Heere des Feindes. Im Herzen von Centratur war damit ein Eitergeschwür ausgebrochen, das alles zu vergiften drohte. Es war ein Fehler gewesen, den Schutz von Paradland aufzugeben. Ein Fehler, der nicht wieder gut zu machen war.

      Nachdem sie zwei Tage geschlafen hatte, erwachte die junge Frau mit einem großen Appetit. Sie aß, und ihre Augen blieben trocken. Endlich wandte sie sich an mich, und ich hörte die ersten Worte aus ihrem Mund: 'Werde ich nun nie mehr einen Mann und Kinder haben?' Und dann nach einer Weile: 'Was wisst ihr von meinen Eltern?'

      Ich tröstete sie, sagte, natürlich werde sie noch mit einem Mann glücklich werden und viele Kinder haben. Ihre Eltern hätten sich vielleicht retten können, und man solle die Hoffnung nie aufgeben. Alles werde wieder gut. Ich sprach all den Unsinn, den wir in solchen Situationen als Tröstung verstehen. Im Grunde sind es blinde Zusagen, von denen wir genau wissen, dass wir sie nicht halten können. Wir versuchen, einer schwarzen Welt einen rosa Überzug zu geben und glauben, dies wäre Hilfe in der Not.

      Axylia schwieg trotz meiner Bemühungen beharrlich. Da schaltete sich Sophil ein. Er machte ein großzügiges Angebot. Der Loron ist ein ganz besonderer Turm. Er ist an einem heiligen Ort gebaut, und bei seiner Errichtung wurden mächtige Zauberworte in die Steine gewoben. Deshalb ist er auch unzerstörbar. Es mag sein, dass dies an der besondere Lage in diesem Tal liegt, oder an der Beschaffenheit des Bodens und der Berge ringsum, vielleicht war auch an der besonderen Kunst derjenigen, die vor undenklichen Zeiten hier gelebt haben? In seiner Spitze wird gleichsam die Kraft des Alls gebündelt. Wie in einem Brennspiegel, der die Strahlen der Sonne vereint, konzentriert sich hier die Macht der Geisterwelt. Nun wenige Auserwählte dürfen diesen Ort betreten, dem die, die über den Sternen wohnen, so nah sind. Nur wenige aber können diesen direkten Kontakt auch aushalten. Die Mitglieder unseres Ordens wurden dafür geschult und haben sich in jahrelangen Exerzitien in unseren Klöstern mit Meditation und geistiger Arbeit darauf vorbereitet. Und selbst von uns Zauberern dürfen einige die Spitze des Turmes nicht betreten.

      Ich glaube, Sophil dauerte das Mädchen, und deshalb setzte er sich über die Vorschriften hinweg. Er war als der Hüter von Loron der einzige, der dies wagen durfte. Er machte also Axylia das Angebot, auf der Turmspitze ihre Zukunft zu erfahren."

      „Von hier an erinnere ich mich wieder“, schaltete sich Axylia ein. „Vor mir standen zwei alte Männer, die sich stritten. Der eine sagte: 'Das kannst du doch nicht zulassen. Du weißt genau, wie gefährlich es ist.'

      Und der andere erwiderte: 'Manchmal verlangt die Barmherzigkeit ein Risiko.'

      Ich verstand nicht recht, um was es ging, sondern hörte nur Bruchstücke wie 'das Gesetz' ... 'sie ist doch nicht vorbereitet' ... 'ich bin der Hüter' ... 'diese Verantwortung können wir nicht tragen'."

      „Meine Bedenken damals muss ich erklären“, unterbrach