Jean-Pierre Kermanchec

Blutspur in Locronan


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so war seine Aussage.“

      „Das heißt, es ging bei dem Disput ums Geschäft?“

      „Ja, genau darum ging es.“

      Für Ewen war die Aussage von Morgat eine Wendung in dem Fall. Damit hatte Kerelle ein Motiv. Langsam kam Bewegung hinein. Waren am Anfang noch die Überlegungen in Richtung Amtsverlust gegangen, was für Ewen nur ein sehr schwaches Motiv gewesen war, so kamen jetzt Umsatzverlust und damit verbundene Existenzängste in den Fokus seiner Überlegungen. Diese Möglichkeit erschien ihm plausibler als die vorherige.

      „Wie haben Sie zu den Neuerungen gestanden, die Kerduc einführen wollte, Monsieur Morgat?“

      „Wenn Sie meine Meinung hören wollen, kann ich nur sagen, dass ich eher gespalten bin. Einerseits habe ich die Überlegungen von Kerduc sehr gut verstehen können. Als Leiter des Tourismusbüros habe ich natürlich ein großes Interesse an einer Verbesserung des touristischen Angebotes. Andererseits stelle ich mir die Frage, ob die Touristen nicht genau wegen des jahrhundertealten Brauchtums hierher kommen und das Original sehen wollen und weniger Interesse an einer Wallfahrt haben, die auf Umsatz ausgerichtet ist. Mir ist es so vorgekommen, als ob aus unseren Pardons eine Art Disneyland gemacht werden sollte. Aber, Monsieur le Commissaire, ich bin da ganz offen.“

      Ewen hörte aus der letzten Bemerkung durchaus eine Ablehnung. Dieses „ich bin da ganz offen klang nicht unbedingt freudig. Monsieur Morgat gehörte damit für ihn auch zu den eher verdächtigen Personen.

      „Eine letzte Frage hätte ich gerne noch beantwortet. Wo sind Sie am Freitag zwischen 10 und 10 Uhr 30 gewesen, Monsieur Morgat?“

      „Habe ich mich jetzt verdächtig gemacht? Ich bin selbstverständlich hier gewesen. Mein Personal wird Ihnen das gerne bestätigen.“

      „Das wäre dann auch schon alles, Monsieur Morgat. Wir bedanken uns für das Gespräch. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, was uns weiterhelfen könnte, dann lassen Sie es mich wissen. Ich gebe Ihnen meine Karte.“ Ewen verabschiedete sich von Monsieur Morgat und verließ das kleine Büro.

      Die Anzahl der Besucher hatte inzwischen deutlich zugenommen, der kleine Raum war beinahe zu voll. Als Ewen an der jungen Frau vorbeikam, die ihn vor einigen Minuten zu Monsieur Morgat geführt hatte, blieb er stehen und wartete geduldig, bis sie das Gespräch mit einem Touristen beendet hatte.

      „Madame, ich bräuchte nur kurz eine Bestätigung von Ihnen. Monsieur Morgat hat uns gesagt, dass er am Freitag zwischen 10 und 10 Uhr 30 in seinem Büro gewesen ist. Können Sie uns das bestätigen?“

      Die Angesprochene schien nachzudenken.

      „Am Freitag? Am Freitag ist Monsieur Morgat den ganzen Tag im Haus gewesen. Das ist richtig…“

      Ewen wandte sich bereits zum Gehen, als die Frau dann noch hinzufügte:

      „…aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann er bei der Post gewesen ist. Monsieur Morgat hat für eine kurze Zeit sein Büro verlassen, um Geld von seinem Postkonto zu holen.“

      Ewen blieb stehen und drehte sich erneut zu ihr um.

      „Monsieur Morgat hat sein Büro für einige Minuten verlassen, sagen Sie?“

      „Ja, ich bin mir aber nicht sicher, um wie viel Uhr es genau gewesen ist. Es ist jedenfalls am Vormittag gewesen, da bin ich mir sicher. Ich erinnere mich noch, dass er mir gesagt hat, dass es etwas länger gedauert hat, weil er warten musste, bis vier andere Kunden vor ihm bedient worden sind.“

      „Haben Sie recht viel Dank, Madame“, sagte Ewen und verließ mit Paul das Gebäude.

      „Das Alibi hat aber jetzt einen gewaltigen Riss bekommen!“ Paul notierte das Gehörte sofort wieder in seinem Notizheft.

      „Da hast du Recht, Paul, als Alibi taugt sein angeblicher ganztägiger Aufenthalt im Büro nicht.“

      Inzwischen war es bereits Mittag und Ewen bekam ein laues Gefühl im Bauch. Er musste jetzt eine Kleinigkeit zu sich nehmen.

      „Was hältst du von einer Crêpes, Paul, mein Magen sagt mir, dass er schon lange nichts mehr bekommen hat.“

      „Gute Idee, Ewen. Wir sind vorhin doch an der Crêperie auf dem Place de l´Église vorbeigekommen. Dort habe ich die Crêperie Ty Coz gesehen, das dürfte bestimmt die sein, von der uns Kerelle erzählt hat. Bei der Gelegenheit können wir uns ja bestätigen lassen, ob Kerelle und Kerduc wirklich so oft dort gewesen sind, um einen Cidre zu trinken.“

      „Sehr gute Idee, Paul“, antwortete Ewen und ging auf den Place de l´Église zu. Sie überquerten den Platz und kamen an einem alten, steinernen Brunnen vorbei, neben dem eine Pferdekutsche stand. Der Kutscher wartete geduldig auf Gäste, die bereit waren, mit ihm eine Fahrt durch die Gassen von Locronan zu unternehmen. Selbstverständlich mit den entsprechenden Erklärungen zum Ort. Nur wenige Schritte vom Brunnen entfernt lag das schöne, alte Granithaus der Crêperie Ty Coz. Ewen und Paul setzten sich an einen Tisch auf der Terrasse vor dem Haus. Die zahlreichen Tische waren nur spärlich besetzt. Die Bedienung kam, ausgestattet mit zwei Menükarten, an ihren Tisch und reichte sie ihnen. Noch während sie ihnen die Karten reichte, fragte sie nach den Getränkewünschen, oder ob es auch ein Aperitif sein dürfe.

      „Wir sind im Dienst, ich nehme daher nur ein Eau plate“, sagte Ewen zu der jungen Frau.

      „Auch für mich ein Plancoët“, ergänzte Paul die Bestellung. Die Crêpes waren schnell ausgewählt, sodass die Dame die Bestellung sofort aufnehmen konnte, als sie das Stille Wasser für die beiden Kommissare brachte.

      Kapitel 6

      Das Wetter war wie aus dem Bilderbuch. Azilis Gwenn spazierte an der Chapelle ar Sonj vorbei und betrachtete das große, steinerne Kreuz mit dem Kreisbogen und die dahinter liegende Kapelle. Azilis liebte diesen Weg, auf dem sie immer wieder etwas Neues fand, dass sie genau betrachten konnte, um es für immer in ihrem Gedächtnis zu bewahren. Am meisten liebte sie aber den herrlichen Blick, den sie von der Kapelle aus auf das nahegelegene Meer werfen konnte. Die Aussicht ließ bei Azilis ein Gefühl von Weite, von Offenheit, von unerfüllter Sehnsucht nach Ferne aufkommen. Eine Ferne, die sie gerne erkundet hätte, für die sie aber weder die Mittel noch den Mut hatte.

      Azilis war eine einfache aber nicht ganz unkomplizierte Frau. Sie war einfach, was ihr Leben, ihre Kleidung, ihre Ausdrucksweise betraf. Aber im Umgang mit ihren Nachbarn, den Neuerungen im Ort oder Veränderungen im Ablauf des täglichen Lebens war sie alles andere, nur nicht einfach zu nennen. Vehement wehrte sie sich gegen alles und jeden, wenn es darum ging, Veränderungen herbeizuführen.

      Die da oben, wie sie zu sagen pflegte wenn sie vom Stadtrat sprach, wollen alles zerstören, was wir uns aufgebaut haben.

      Sie hatte heute ihr kleines Refugium, wie sie ihr Haus und den umfriedeten Garten nannte, verlassen, um sich abzulenken von den, in ihren Augen unsäglichen, ja ungeheuerlichen Ansinnen, die der Verein, der die Pardons organisierte, vorgebracht, und die die da oben abgesegnet hatten. Sie war keine Anhängerin der Pardons. Ganz im Gegenteil, sie ärgerte sich über die Maßen, dass sie den ganzen Trubel vor der Haustüre hatte wenn die Wallfahrt begann. Ihr kleines Refugium lag am Weg, den die Prozession nahm. Sie konnte sich mit der Eintägigen noch arrangieren, aber wenn alle sechs Jahre die große Troménie vorbeikam, hatte sie eine Woche lang den Lärm und die Menschen vor der Haustür. Alles nur wegen eines angeblich Heiligen, an den sie nicht recht glaubte. Alles Humbug, pflegte sie zu sagen, wenn man ihr versuchte, die Hintergründe zu erklären und sie um Verständnis bat. Jetzt hatte der Stadtrat auch noch den Änderungen des Organisationskomitees zugestimmt, und genau vor ihrem Eingang wollte man eine Bude für Getränke aufbauen. Damit hätte sie noch mehr Lärm und Unruhe.

      Ihr war der Gedanke gekommen, eine Bürgerinitiative gegen die große Troménie zu gründen. Spontan erhielt sie 20 Unterstützer, die sich auch gegen dieses Spektakel wenden wollten. Leider stammten die meisten nicht aus Locronan, sondern waren Besitzer von Zweitwohnungen, die ihren Urlaub genau in der Zeit der Wallfahrt in Locronan verbrachten.