BAUMANN

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bei den Olympischen Spielen beinahe zu spielerisch den Missbrauch von unerlaubten Mitteln im Sport. Weit zäher war die Realität im staatlich verordneten Förderprogramm der Deutschen Demokratischen Republik für Minderjährige. Zwischen 1961 und 1990 sah und nutzte die DDR die Möglichkeit, auf dem Gebiet des Sports internationales Ansehen zu gewinnen. Natürlich mit allen Mitteln. Noch jetzt leiden ehemalige Sportler körperlich und seelisch unter den Spätfolgen eines Systems, das perfekt und systematisch organisiert war, um junge Menschen über Jahrzehnte wie eine überreife Zitrone auszupressen.

      Wer jedoch glaubt, dass mit dem Fall innerdeutschen Mauer die Zeiten des planvollen Dopings längst Geschichte sind, glaubt falsch. Die Balco-Berichte in den USA erschütterten im Jahre 2003 die gesamte Sportwelt bis ins Mark. Die Doping- und Korruptionsgeschichten der russischen Leichtathletik bewiesen 2015, dass der Sport die Schatten des Dopings der Norm entsprechen. Oder im Jahre 2013, als die nationale Kommission zur Verbrechensbekämpfung flächendeckendes Doping durch sämtliche Sportverbände Australiens aufdeckte. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hob man vergiftete Dopinggeschwüre aus. Im Zentrum der staatlichen Ermittlungen stand immer wieder die Universitätsklinik Freiburg im beschaulichen Breisgau. Da hatte man über Jahre nicht nur für Radsportler, sondern auch für Schwimmer, Turner, Fußballer, Leicht- und Schwerathleten ausgeklügelte Dopingprogramme verschrieben und somit sichergestellt, dass Deutschland auch nach dem Wegfall der DDR zu einer der erfolgreichsten olympischen Nationen aufstieg.

      Gedopt wird auf vielen Leistungsstufen und gedopt wird schon immer. Mal raffinierter, mal weniger. Doping macht zwar aus einem Kartoffelsack keinen Weltmeister, aber es verleiht einem guten Athleten das Quäntchen mehr, was es zum Siegen braucht. (3) Und Doping ist vor allem eines: Betrug. Betrug an sich selbst. Betrug an seinen Mitstreitern. Betrug an den eigenen Fans, an Vater und Mutter. Doch steckt hinter dem „Schneller- höher-weiter-Prinzip“ weit mehr als nur der sportliche Wettkampf?

      Kann es sein, dass der Spitzensport heutzutage von Geld, Macht und Politik gesteuert wird und die Athleten zu Marionetten verkommen? Stellen für Sportärzte und Mediziner, Funktionäre oder Chemiefirmen die aktive Leistungsoptimierung alternative sowie lukrative Geldquellen dar? Fördern gar Nationen ganze Dopingkulturen und Systeme?

      Mit der Auflösung der DDR schien das staatlich verordnete Doping von der Bildfläche verschwunden. Frankreich, Italien, Finnland und andere europäische Länder zogen um die Jahrtausendwende konsequent einen Schlussstrich und passten die jeweiligen nationalen Verfassungen an, um den Handel sowie den Missbrauch von unerlaubten Mitteln im Sport für strafbar zu erklären. Das Ergebnis: Athleten dieser Länder verschwanden für eine gewisse Zeit von den oberen Teilen der Ranglisten. Doch welcher Staat möchte bitteschön über längere Zeit für sportliche Erfolglosigkeit stehen und den Medaillenspiegel der Olympischen Spiele von unten anführen? Kein Staat will das. Frankreich ist spätestens mit der Sarkozy-Regierung nach einem dopingfreien Jahrzehnt längst wieder zum alten Motto „Brot und Spiele“ zurückgekehrt und gesellt sich wieder zu den großen Sportnationen. Italiens organisierte Dopingrazzien sind rar geworden und es gibt nun seit Jahren keinen neuen Fall wie jenen des Radstars Marco Pantani zu vermelden. Das einzige europäische Land, in dem die gesamte Bevölkerung geschlossen gegen die Dopingmachenschaften seiner Elitesportler protestiert, war und ist Finnland. Da haben die Menschen gelernt, sinnvoll mit dem Misserfolg umzugehen. Die einst dominierenden Langläufer vom Polarkreis sind seit 2001 und dem damaligen Skandal lückenlos von der Bildfläche der Topnationen verschwunden.

      Als Gegenentwurf schnappen wir uns die spanischen Wettkämpfer, die sich im Namen von „El Rey“, König Juan Carlos, in allen wichtigen Sportarten mit glänzenden Resultaten hervortun. Egal, ob beim Fußball, im Tennis, Handball, in der Leichtathletik oder beim Radfahren: Spanische Sportler glänzen durch Athletik und Ausdauer. Das ist kein Beweis für Doping – aber es erhärtet den Verdacht, dass mit unlauteren Mitteln nachgeholfen wird. Zumal es der spanische Staat mit den Kontrollsystemen sowie der Dopingfahndung nicht so genau nimmt. Gleiches gilt übrigens auch für die Sportorganisationen in Kenia, Eritrea oder Jamaika, wo Wunderathleten regelmäßig durch verblüffende Leistungen erstaunen. Die Frage, ob die gesamte Sportwelt von unlauteren Manipulationen betroffen ist, lässt sich sehr einfach mit einer überaus kernigen Aussage etikettieren: „Wer nicht das Beste aus sich herausholt, wird auf Kurz oder Lange stillstehen und im Kampf mit jenen Gegnern den Kürzeren ziehen, welchen alle Mittel und Konsequenzen recht sind.“(4) Das „Schneller, Höher und Weiter“ wurde schon vor Jahrhunderten in den Sportarenen des alten Roms gefördert und gelebt. Auch damals mit allen Mitteln. So ist es heute und so ist jetzt. Und so wird es aus auch in Zukunft sein.

      Der Urknall

      Wie eine Ladung Dynamit schnellt, nein, explodiert Ben Johnson förmlich aus dem Startblock. Muskelbepackt pulverisiert er am 24. September 1988 mit 9.79 Sekunden im 100-Meter-Olympiafinale von Seoul den bis dahin gültigen Weltrekord und holt sich kolossal den lang ersehnten Olympiasieg. Ein vermeintlicher Rekord für die Ewigkeit, denn zwei Tage später platzt die Bombe: Im Urin der Proben Johnsons findet man Substanzen des Anabolikums Stanozolol. Mit diesem Befund verliert der Sport an diesem Tag seine gesamte Unschuld. Johnson gibt die Goldmedaille umgehend zurück und verlässt Seoul fluchtartig. Mann bezeichnet den Fall Ben Johnson auch heute noch als den Urknall der Dopinggeschichte im internationalen Sport.

      Benjamin Sinclair Johnson. Geboren am 30. Dezember 1961 in Falmouth im Norden der Karibikinsel Jamaika: „Ich bin nicht schuldiger als all die anderen auch. Die haben das auch gemacht“(1), erklärt Johnson in einer eindrücklichen Dokumentation des Norddeutschen Rundfunks. „Auch jetzt, fünfundzwanzig Jahre später machen sie doch immer noch das gleiche [...] - und ja es tut mir leid, was ich damals als junger Kerl getan habe.“ Bei diesen Worten wirkt Ben beschämt, reumütig und mild und man glaubt ihm, wenn er wie selbstverständlich erklärt, dass jeder junge Sportler in seiner Situation das Gleiche getan hätte. Auf den Straßen von Falmouth entdeckt Ben Johnson als Kind das Laufen. Der kleine Ben rennt eigentlich immer: Er rennt in die Schule. Er rennt, wenn ihn seine Mutter zum Einkaufen schickt und er läuft praktisch jede freie Minute am weißen Sandstrand in der tropischen Palmenbucht mit seinen Freunden. Manchmal um die Wette. Und er ist immer der Schnellste. Viel schneller als alle Kinder in der gesamten Nachbarschaft und dabei war es total egal, ob sie jünger oder älter waren. Noch jetzt beschreibt Johnson das Sprinten als eine göttliche Kunst, nein, als eine Lebenseinstellung, die man, wie er erklärt, nur mit der Rasta-Bewegung Jamaikas vergleichen kann. Und wie der Reggaemusiker Bob Marley wird Ben Johnson später, zwar nicht durch nasales Singen im Zweiviertel-Takt, sondern durch den Sport zum Vorbild und Hoffnungsträger vieler junger afroamerikanischer Männer. Jamaikas Kurzstreckenläufer dominieren noch heute die Weltspitze der Sprint-Leichtathletik. Viele sind tief greifend inspiriert von Johnsons Geschichte.

      Bens unbeschwerte Kindheit auf Jamaika ändert sich im Herbst 1975 jedoch schlagartig: Die siebenköpfige Familie wandert aus und Toronto in Kanada wird zur neuen Heimat der Johnsons. Dies, um einem Leben unter ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen. Man hofft auf eine bessere Zukunft und auf echte Perspektiven für die Kinder. Statt der Wärme und des leichtherzigen Lebens am Karibischen Meer wurden nun Kälte sowie der Klang einer nordamerikanischen Metropole am Ontario-See die neue Realität für die Familie. Ein Kulturschock und zusätzlich erschwerend die Tatsache, dass Vater Ben Senior keine Arbeit findet. Er verlässt die Familie nach kurzer Zeit und reist zurück in die Karibik. Mutter Gloria entscheidet sich trotz der widrigen Umstände, mit den fünf Kindern zu bleiben. Der erste Winter ist eisig kalt und der kleine Ben sieht mit dreizehn erstmals im Leben Schnee und friert dabei fürchterlich. Auch die ersten Lektionen in der neuen Schule sind hart. Ben stottert und hat Probleme, dem Schulunterricht zu folgen. Die Mitschüler schikanieren ihn und lachen ihn aus, denn er gilt als stammelnder, dunkelfarbiger Außenseiter, der mit seiner Familie aus der Karibik geflohen ist. Niemand in der Schule interessiert sich wirklich für Ben. Bis der schmächtige Junge eines Tages dem Anführer der Schüler ein Wettrennen über einhundert Meter im Sprint anbietet: „Wenn ich schneller bin, lässt Du mich in Ruhe“(3), war sein mutiger Vorschlag. Bens Plan war, dass er nicht mehr gehänselt wird. Sein Kontrahent willigt ein, lacht Ben aber aus wie immer und gibt ihm zu verstehen, dass ein kleines, schwarzes Würstchen wie er eh keine Chance hat und haushoch verlieren würde. Doch wie man Ben Johnson