BAUMANN

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angebliche Punktmutation im Gen für den Erythropoeting-Rezeptor, also einen Fehler in der Produktion von natürlichem EPO, vorweisen. Ein genetischer Makel. Beide hatten demzufolge von Geburt her mehr rote Blutkörperchen als andere Athleten. Durch diese Fehlbildung bekommen die Muskeln mehr Sauerstoff. Ein unbeschreiblich hoher Wettbewerbsvorteil, den sich andere Sportler nun auch verschaffen können. Und zwar dergestalt, dass man dieselben Fehler wie bei Filbrich und Mäntyranta kopieren und künstlich in die Gene einbaut. Mit einer derartigen Methode erreicht man, dass der Körper nach dieser Manipulation selbst den steigernden Stoff entwickelt. Im Falle von Ausdauersportlern könnte das EPO sein. Bei Kraftsportlern könnten es Testosteron oder Wachstumshormone sein, die sich nach einer Genbehandlung verselbstständigen.(4) Das Positive für die Doper: Nur über aufwändige Muskeluntersuchungen ließen sich solche Genmanipulationen nachweisen.

      Doch welche Funktionen übernehmen einzelne Gene? Das zu bestimmen, ist für alle Dopingexperten eine scheinbar unlösbare Arbeit. „Nehmen wir das Muskel-Gen Myostatin. Myostatin ist ein Eiweiß, das im menschlichen oder tierischen Körper gebildet wird. Es hemmt das Muskelwachstum, sodass die Muskeln nicht unkontrolliert wachsen. Follistatin wirkt hingegen antagonistisch, indem es sich an Myostatin bindet. Eine Inaktivierung der natürlichen Proteinfunktion von Myostatin führt zu überschießendem Muskelwachstum. Bei Mäusen, Rindern, Schafen und Hunden der Rasse Whippet sind Individuen bekannt, die aufgrund verschiedener Mutationen des Myostatin-Gens eine erheblich größere Muskelmasse als gesunde Tiere entwickeln.“(4)

      Im Jahre 2004 wurde bei einem deutschen Jungen eine Mutation des Myostatin-Gens festgestellt, welche die Bildung eines verkürzten und somit nicht voll funktionsfähigen Myostatin-Proteins zur Folge hat. Der Junge ist seit seiner Geburt ungewöhnlich muskulös und die Muskeln hören nicht auf zu wachsen – demzufolge schlummert in diesem Jungen ein echter Superathlet. Dass Gentherapien mit Myostatin das Wachstum der Muskulatur beschleunigt belegen Pharmastudien eindeutig.(5) Die „Schwarzenegger-Mäuse“ wurden mit Labortests bei der Produktion des Myostatins manipuliert. Die Muskelberge der Mäuse wuchsen unverhältnismäßig und die Leistungsbereitschaft erhöhte sich um ein Vielfaches im Vergleich zu normalen Mäusen.(6) Doch die Sache hat ein Problem: Die Lebensdauer der behandelten Mäuse reduzierte sich um die Hälfte. Das Herz der Mäuse war schlichtweg nicht mehr in der Lage, die stets wachsenden Muskelberge mit genügend Blut zu versorgen. Denn wer bei Genen manipuliert, muss sich bewusst sein, dass man das nicht mehr rückgängig machen kann. Die Muskeln wachsen und wachsen und wachsen – auch dann, wenn man nicht trainiert. Denn beim Gendoping spritzt man sich nicht wie bei den bisherigen Dopingpraktiken eine Substanz als Anreicherung der natürlichen Entwicklung, sondern man bringt die Erbanlage der Proteine in den Körper.(7)

      Dafür braucht man eine Zelle, welche die Erbinformationen in unserem Körper steuert. Es existieren viele verschiedene Zellen. Nehmen wir zum Beispiel Muskelzellen. Weiß man, wo diese Informationen liegen, kann man sie gezielt herausschneiden. Der gleiche Schnitt wird nun auf einem künstlichen Gen wiederholt. Dort setzt man den zuvor herausgeschnittenen Baustein ein. Das dadurch entstandene Gen wird nun genährt und durch Bakterien im Körper verteilt. Diese Mutation erweitert den Bauplan des Muskelaufbaus beliebig oft und die dabei entstehenden Genduplikate spritzen die Wissenschaftler zurück in den Körper.(8) Nur klar, dass die hungrigen Zellen die neu geschaffene Muskelnahrung gierig aufnehmen und im Falle des Myostatins die Muskeln bis um das Doppelte wachsen lassen. Ein ähnlicher Vorgang kann auch der Anreicherung von roten Blutkörperchen dienen und die Sauerstoffaufnahme eines Ausdauersportlers um ein Vielfaches verbessern. Aber wie bei der Genmanipulierung des Muskelhormons geschieht Folgendes: Die Produktion der roten Blutkörperchen kann nicht mehr gestoppt werden und das Blut wird dicker und zähflüssiger und das Herz wird nicht mehr die notwendige Kraft aufbringen, um dieses Blut mit einer Viskosität von Honig in die Blutbahnen zu pumpen. Die Folgen sind absehbar. Thrombosen, Herzversagen und Tod. Doping durch Genmanipulation ist hocheffizient und in nächster Zeit nicht nachweisbar(9), weder in Urin- noch in Bluttests. Nur Gewebeproben der Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA, könnten das. Forscher hoffen mithilfe von Gewebeproben Antikörper zu finden, um die Manipulationen künftig auch in Blut und Urin aufzuspüren. Diese Forschungsarbeit wird von der WADA unterstützt. In absehbarer Zeit, so hoffen die Forscher, ist Gendoping nachweisbar.(10)

      Patrick Diel von der Sporthochschule in Köln meint jedoch ernüchternd: „Gendoping kommt aktuell nur auf Grund von Denunzierung, Verrat oder durch Reden und indirekten Informationen an das Tageslicht. Durch Nachweisverfahren die existieren kann man es nicht nachweisen.“(11) Es ist somit sehr gut möglich, dass die Olympiasieger von Morgen mit den Genen manipulieren, es sei denn, ihnen ist wie Jens Filbrich und Eero Mäntyranta gleich bei der Geburt der heilige Gral der Gene in die Wiege gelegt worden.

      Der Tod

      Nirgends ist man in Südfrankreich dem Himmel näher als auf dem Gipfel des Mont Ventoux. Neben der außerordentlichen Pflanzen- und Vogelwelt bietet er dem Besucher eine unglaubliche Aussicht. Bei gutem Wetter kann man von ganz oben gleichzeitig das Mittelmeer, den höchsten Gipfel der Alpen sowie die Pyrenäen sehen. Drei Kilometer weiter unten ist die Stimmung jedoch beklemmend und in keiner Weise lebensfroh. Es liegt wohl an diesem Mahnmal aus Granit, das hier mitten in der Steinwüste steht.

      Ächzend und stöhnend nehmen die drei Spitzenfahrer die letzte Linkskurve des malerischen Provence-Dörfchen Saint-Estève und tauchen ein in den Pinienwald, der wenigstens ein bisschen Schutz vor der prallen Sonne bietet. Der Schweizer Ferdy Kübler streut immer wieder Tempointervalle in das Rennen. Ein mörderisches Unterfangen in Anbetracht der sengenden Hitze, welcher die Fahrer während dieser elften Etappe der Tour de France 1955 ausgesetzt sind. Küblers Begleiter, die beiden Franzosen Raphael Géminiani und Gilbert Scodeller, finden die forsche Herangehensweise des Schweizers in keiner Weise lustig. Im Gegenteil. Scodeller streckt schon nach wenigen hundert Metern die Waffen und wird abgehängt und Géminiani beklagt sich: „He Ferdy tu est fou!(1) – He Ferdy Du bist verrückt!“ Ferdy und Raphael sind Rivalen, aber gleichzeitig auch Freunde, und aus diesem Grund rät der Franzose dem Schweizer nach einer weiteren wütenden Attacke, sein Temperament zu drosseln: „Ferdy wirklich! [...] Der Mont Ventoux ist kein Berg wie die anderen. [...] Es ist gefährlich hier!“(2), japst Géminiani nach Atem ringend, nachdem er einmal mehr zu Kübler aufgefahren ist. Doch Kübler, Sieger der Gesamtwertung der Tour fünf Jahre zuvor, ignoriert den Rat und meint in der dritten Person: „Ferdy ist auch kein Fahrer wie die anderen“ und tritt wie vom Teufel besessen gleich wieder an. Das Spielchen geht noch ein wenig weiter, bis die beiden beim Chalet Reynard, etwa sechs Kilometer unter dem Gipfel, aus dem Pinienwald in eine kahle Mondlandschaft, in eine Geröllwüste ohne jeglichen Schatten hineinfahren. Nach der ersten Kurve sieht man erstmals den Gipfel. Wie eine Mondrakete ragt oben das weiß-rote Observatorium aus der Steinwüste heraus. Die Sonne brennt erbarmungslos und die Fahrer lechzen nach Wasser. Drei weitere Kilometer weiter tritt Ferdy Kübler plötzlich schwerer. Er mag nicht mehr und sieht sich mit Schrecken der Aussage Géminiani’s gegenüber. Kübler muss abreißen lassen. Meter um Meter verliert er auf Géminiani und kann froh sein, dass er den Gipfel heil erreicht. „Ferdy ist mit Dynamit geladen, Ferdy explodiert“(4), fabulierte Ferdy Kübler im Drogenwahn, als sein bestialischer Angriff am Mont Ventoux gescheitert war.

      Doch die jämmerliche Szene dieses Tages findet weiter unten statt: Etwa zehn Kilometer unterhalb der Bergwertung kollabiert der Bretone Jean Malléjac. Er bricht zusammen und liegt mit starrem Blick und Schaum vor dem Mund in einem kargen Steinbeet am Rand des Weges. Einen Fuß noch am Pedal fixiert, tritt er noch immer apathisch mit dem anderen Bein, wie von Geisterhand geführt, weiter und röchelt.(5) Tourarzt Dr. Pierre Dumas eilt herbei und erschrak ob des obskuren Schauspiels, das ihm sich da bot: Mallèjac, leblos und mittlerweile mit verdrehten Augen am Boden liegend, verzerrt seine Gesichtszüge. Seine Haut ist leichenblass. Es geht in diesem Moment um Leben und Tod. Gewaltsam und verzweifelt versucht Dumas, dem Todgeweihten die Kieferknochen auseinanderzudrücken, damit ihm Flüssigkeit eingeflößt werden kann. Eine Viertelstunde, nachdem man ihm Kampfer gespritzt und den Atembeutel angesetzt hatte, erwachte Mallèjac endlich aus seiner Ohnmacht. Als er mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde, war er immer noch nicht vollständig bei Sinnen. Er schlug wild um sich, fluchte, gestikulierte, verlangte nach seinem Rad und wollte gar aus dem Wagen aussteigen. Schließlich