BAUMANN

FANG MICH DOCH!


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Schema entfalten konnte und wettbewerbsfähig blieb, musste sie innerhalb kürzester Zeit über dreißig Kilo zunehmen. Oder jener Skandal einer blutjungen Turnerin, die während ihrer Zeit als Sportlerin vorerst künstlich klein gehalten wurde und nach ihrer Karriere mit derart ungeheuerlichen Ladungen mit Wachstumshormonen therapiert wurde, dass sie innerhalb eines Jahres um mehr als zehn Zentimeter wuchs. Es gibt Tausende solcher Geschichten aus der DDR-Sportförderung. Einige Athleten sind an den Folgen dieses medizinischen Größenwahns gestorben.(11) Andere leiden unter mentalen Problemen wie Psychosen, Depressionen oder erkranken an Bulimie und Magersucht. Viele Frauen leiden unter schweren gynäkologischen Schäden wie unter anderem durch Fehlgeburten, verkrüppelten Eileitern oder Gebärmutterbeschwerden und erlitten Fehlgeburten. Es gibt Tumore und beinahe alle Athleten sind an Schädigungen am Bewegungsapparat erkrankt.(12)

      So auch Dagmar Kersten: „Auch jetzt mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende meiner Karriere habe ich natürlich jeden Tag Schmerzen. Vor allem die Gelenke tun weh und ich kann kaum durchschlafen.“(13) Zu einem Arzt zu gehen kommt jedoch für die Mutter von zwei Kindern in keinem Fall infrage. Die negativen Erfahrungen von damals machen sie den Halbgöttern in Weiß gegenüber skeptisch.

      Im Jahre 1988, ein Jahr vor der Wende, hatte Dagmar Kersten genug vom Spitzensport. Sie war müde und hatte es satt, sich weiter zu quälen. Sie wollte aufhören und gab ihren Rücktritt bekannt. Doch das Regime war gegen diesen Entscheid und wollte, dass die Turnerin weitermachte. Sie war zu gut, um einfach so Schluss zu machen. Der Leistungsauftrag stand im Vordergrund. Kersten wehrt sich und drohte dem stellvertretenden Staatschef Egon Krenz schriftlich, dass sie auspacken und erzählen würde, wie es in den Sportkasernen zu- und hergeht, wie Trainer, Ärzte und Funktionäre mit Doping und Drill vorgehen. Erst da gab man klein bei und erlaubte Dagmar Kersten, offiziell Schluss zu machen: „Nachdem das alles vorbei war, ist eine riesige Last von mir gefallen. Ich fühlte mich wie befreit und endlich durfte ich wieder essen, was ich wollte, nachdem ich mit achtzehn ein Sollgewicht von 43 Kilogramm halten musste.“(14) Die junge Frau durfte sich endlich unabhängig bewegen und machen und tun, was sie wollte.(14)

      Die Gesamtverantwortung für das systematische Doping der DDR trug Manfred Ewald. Bis 1988 zog er über viele Jahre als Chef des Turn- und Sportbundes sowie als Präsident des Nationalen Olympischen Komitee die Fäden und bestimmte mit, wie der Sport in Ostdeutschland zu funktionieren hat. Ewald war das „DDR Sportwunder“ zu verdanken und deshalb galt er in seiner Zeit als ideologisches und omnipräsentes Sprachrohr. Er stand immer an vorderster Front und umgab sich regelmäßig mit den Stars der Leistungsspitze. Und wenn einmal der Erfolg ausblieb, geschah es häufig, dass er die fehlbaren Sportler aufs Übelste beschimpfte. Ihm zur Seite stand der Chefmediziner Manfred Höppner. Er war für die Umsetzung der wissenschaftlichen Methoden zuständig und zudem für die Menschenversuche mit Dopingmitteln verantwortlich. Im Gegensatz zu Ewald war Höppner während seiner aktiven Zeit ein Phantom. Man kannte weder sein Gesicht noch seinen Namen und er trat nie in der Öffentlichkeit auf. Erst viel später, während den Gerichtsverhandlungen, wurde seine Person bedeutungsvoll. Erst dann kam aus, dass Höppner unter dem Dach des Sportmedizinischen Dienstes Präparate an Verbandsärzte übermittelte. Von dort aus wurden die unterstützenden Mittel an Sektionsärzte und schließlich an die Trainer übergeben. Die Sektionsärzte bestimmten die Dosierung für den jeweiligen Sportler oder die jeweilige Sportlerin.

      Im Jahre 2000 wurden sowohl Ewald als auch Höppner zu Bewährungsstrafen von zweiundzwanzig beziehungsweise achtzehn Monaten verurteilt. Der Vorwurf: Beihilfe zur Körperverletzung.(15) Wenn man bedenkt, was die beiden Spitzenfunktionäre vielen Kindern und Jugendlichen angetan haben, sind sie mit den diesen Strafen beachtlich gut weggekommen. Es gab Beteiligte, die noch milder bestraft wurden. Einige Dopingärzte kamen mit Geldstrafen davon. Bei anderen wurden die Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Ihre Zulassung als Sportärzte haben die Mediziner jedoch nie verloren. Das Dopingwissen der DDR Doktoren war weltweit begehrt und sie bekamen gute Jobs in internationalen Sportsystemen. Noch heute arbeiten viele von damals mit jungen und hoffnungsvollen Sportlern zusammen.

      Doch standen alle, von Ewald über Höppner bis hin zu Ärzten, Funktionären und Trainern, unter dem Eid des Sekretärs der Abteilung Sport im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Und auch die beteiligten Einrichtungen standen angesichts des befohlenen Staatsplans Gewehr bei Fuß. Neben dem Forschungsinstitut für Körperkultur und dem Sportmedizinischen Dienst vervollständigten die Chemiefirmen Jenapharm und das Arzneimittelwerk Dresden als Hersteller der verwendeten Präparate das System. Hauptsächlich wurden in beiden Unternehmen Anabolika, Androstendion und Mestanolon hergestellt. Die Substanzen wurden exklusiv als Leistungsförderung für den Sport hergestellt und hatten nie einen medizinischen Zweck.(16)

      Die detaillierten Aufklärungen der Machenschaften der DDR nützen dem Gewichtsheber und einst stärksten Mann der Welt Gerd Bonk nichts mehr. Die letzten Jahre seines Lebens war er apathisch und an den Rollstuhl gebunden – gezeichnet von den Dopingmitteln, die er im Laufe seiner Sportkarriere zu sich nahm, nein, gezwungen war zu nehmen. Gerd Bonk bekam 12000 Milligramm Anabolika pro Jahr – so viel wie kein anderer DDR Athlet.(17)

      Doping, Training, Zwang und sicherlich viele Tränen. Niemand bekam von all dem etwas mit, weder Eltern noch Freunde. Leistungssport war aber nicht nur in der DDR eine geschlossene Gesellschaft.(18)

      Der Herkules

      Geschmeidig wie ein leichtfüßiger Fußballer tippt er die Kugel mit dem rechten Fuß an, bückt sich leicht nach vorne und ergreift mit seiner magnesiumbeschmierten Hand flink das rund acht Kilogramm schwere Ding. Scheinbar entschlossen schreitet er nun in Richtung Stoßring. Werner Günthör pustet kräftig durch und dabei scheint es, als wolle er den Wirbel, der in letzten Wochen um seine Person entstanden ist, einfach so wegblasen. Es ist sein letzter Versuch. Er dreht sich ab, die Kugel weit in den Himmel gestemmt und begibt sich in Position, um seinen Wurf so weit möglich ins Olympiastadion von Barcelona zu katapultieren.

      Werner Günthör. Am Ende seiner Karriere war er dreimal hintereinander Weltmeister und einmal Europameister im Kugelstoßen. Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul gewann er zudem die Bronzemedaille. Der zwei Meter große Modellathlet versuchte sich außerdem als Bremser im Bob-Team von Olympiasieger Ekkehart Fasser. Weil aber sein Rücken nicht mitmachte, beließ es Günthör bei ein paar Fahrten im Bobrun von St. Moritz. Der gelernte Sanitär-installateur absolvierte später ein Sportstudium und arbeitet heute zu 50 % beim BASPO – Bundesamt für Sport – in Magglingen in der Ausbildung. In der verbleibenden Zeit engagiert er sich als Selbstständig erwerbender bei Projekten zu Gunsten der Förderung von Sportlern, hält Seminare ab, berät Spitzensportler beim Training oder in der Laufbahnplanung. Günthör ist der erfolgreichste Leichtathlet der Schweizer Sportgeschichte.

      Noch im Alter von 47 Jahren hätte die Kugelstoßlegende im Jahr 2008 locker den Schweizer Meistertitel gewonnen – ohne Vorbereitung. In Magglingen, da, wo die Schweizerische Sportelite gezüchtet wird, warf er die Kugel bei einem Test im ersten Versuch auf eine Weite von 15,80 Meter. Diese Weite hätte in jenem Jahr zum Schweizer Titel gereicht. Aus dem Stand, in Jeans und Hemd und ohne jegliches Training. Und das alles, nachdem er 15 Jahre keine Kugel mehr in den Händen hielt.(1) Doch auf seinem vermeintlichen Karrierehöhepunkt, den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona, versagten Günthörs Nerven.

      Was ist passiert? Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf im Osten der Schweiz: Uttwil im Kanton Thurgau. Ganz in der Nähe liegt das prachtvolle Ufer des Bodensees. In dieser Umgebung, umrahmt von saftigen Wiesen und sanften Hügeln, wächst Werni zu einem Burschen heran, der nur so strotzt vor lauter Kraft und Saft. Wo seine Energie herkommt? Möglicherweise sind die vielen Äpfel schuld. Oder der rezente Käse. Denn für beides ist die Region bekannt, aus der Werni herkommt. Schon früh versucht der junge Werner Günthör, seinen Bewegungsdrang bewusst zu kanalisieren und beginnt mit Sport. Wie alle Jungs probiert auch er mit großer Begeisterung viele mögliche Sportarten aus und bleibt schließlich bei der Leichtathletik hängen. Der junge Bursche fällt da vor allem durch seine Vielseitigkeit auf. Er gehört in jeder Disziplin zu den allerbesten: Er kann erstklassig die Kugel stoßen, den Diskus sehr weit werfen, schnell sprinten und springt später im Hochsprung über zwei Meter hoch. Wohlgemerkt: das Ganze