BAUMANN

FANG MICH DOCH!


Скачать книгу

      Die Skeptiker sollen Recht behalten. Dem jungen und vor Selbstvertrauen strotzenden Franzosen aus der nördlichen Bretagne stehen nämlich starke Teams mit starken Fahrern gegenüber: Die französische Miko Mercier Equipe um ihren holländischen Kapitän Joop Zoetemelk verfügt gleich über eine Armada von starken Bergfahrern im Aufgebot. Christian Seznec, Raymond Martin und Sven Ake Nilsson, alle selbst fähig, die Tour unter den besten zehn Fahrern zu beenden, stehen dem ewigen Zweiten Zoetemelk als Helfer zur Verfügung. Noch mehr fürchtet Hinault aber die belgische Formation von Velda Flandria. Bei dieser Mannschaft ist Ex-Weltmeister und Sprinterkönig Freddy Maertens unter Vertrag. Maertens hat 1977 die Spanien-Rundfahrt gewonnen. Mit diesem Resultat hat der semmelblonde Belgier bewiesen, dass er fähig ist, eine dreiwöchige Rundfahrt für sich zu entscheiden. Aber vor allem graut es Hinault vor Maertens Mannschaftskollegen Michel Pollentier: Pollentier, von der Statur her kleinwüchsig, gilt als leidenschaftlicher und zäher Bergfahrer und unwiderstehlich im Zeitfahren. Der untersetzte Belgier gehört bereits vor dem Start zu den ganz heißen Kandidaten für den Toursieg dieses Jahres. Sein größter Erfolg hat es in sich: spektakulärer Sieg beim Giro d’Italia 1977. Dafür wurde er belohnt und in Belgien zum Sportler des Jahres gewählt. Unterstützt wird Pollentier von keinem Geringerem als Joaquim Agostinho aus Portugal. Ago, wie man ihn nennt, ist ein Monster von einem Fahrer. Ein Kerl, der sich seine Sporen als Soldat im Angolakrieg abverdiente. Die Legende besagt zudem, dass er seine ersten Rennen mit einem geliehenen Damenrad bestritt und diese natürlich gewann. Dazu stehen mit dem Team noch weitere sehr packende Akteure am Start: Da ist zum einen Marc Demeyer, der belgische Teamkapitän, der auch schon Mal die Hölle des Nordens zwischen Paris und Roubaix gewann. Demeyer unselig, starb vier Jahre später mit nur 31 Jahren, angeblich an den Folgen von übermäßigem Dopingkonsum. Weiter im Team war der Franzose René Bittinger, der als Luxushelfer fungiert. Genauso wie der irische Newcomer Sean Kelly, der damals künftige Superstar des internationalen Radsports, der seine erste Tour de France bestreitet. Als Dirigent dieses illustren Ensembles fungiert Fred De Bruyne. Ein erfahrener und gerissener Directeur Sportiv und Manager, der mit allen Wassern gewaschen scheint und jede noch so kleine Finte des Radsports kennt. Bereits in der ersten Tourwoche zündet das Velda Flandria Team ein fulminantes Feuerwerk. Freddy Maertens gewinnt zwei Etappen – jeweils in Massensprints. Und seine Teamkollegen? Sowohl Pollentier als auch Agostinho sind beide im vordersten Teil der Gesamtwertung klassiert. Alles ist eigentlich wunschgemäß angerichtet und Teamchef De Bruyne kann während der Königsetappe auf Taktik spielen.

      Am Abend nach der epischen Bergetappe sieht sich Fred De Bruyne in seiner Taktik bestätigt. Er lächelt milde, denn seine Fahrer haben die ausgeheckten Pläne vollkommen umgesetzt. Auf der Alpe d’Huez werden im Pressecenter mittlerweile die letzten Texte geschrieben. Damals noch auf Schreibmaschinen, weswegen lautes Klappern herrscht. Die Texte lauten in etwa so: „Pollentier wirkt keineswegs wie ein Radchampion. Gequälter Gesichtsausdruck, merkwürdiger Gang und ein unrhythmischer Fahrstil machen ihn beinahe zum Clown. Doch Michel Pollentier, der kleine Belgier, hat tatsächlich die Gunst der Stunde genutzt und die Kronfavoriten Hinault und Zoetemelk düpiert. Der belgische Meister hat sich den Sieg im Skigebiet von L’Oisans mit viel Herz und noch mehr Mut geholt, nimmt seinem Landsmann Joseph Bruyére Gelb ab und ist neuer und souveräner Leader der Tour. Zudem führt Pollentier das Punkteklassement und die Bergwertung an!“(3)

      Ein veritabler Coup des Mannes mit der hohen Stirn: Nach einem Angriff am Col de Luitel konnte er seinen Vorsprung bis Alpe d’Huez halten. Gemeinsam mit dem Niederländer Hennie Kuiper sind sich Hinault und Zoetemelk nicht einig und machen sich viel zu spät auf die Verfolgung von Pollentier, der seinerseits längst über alle Berge ist und solo im Ziel ankommt. Hinault verliert 45 Sekunden. Zoetemelk noch mehr. Die Experten sind beeindruckt und schätzen die Chancen des Belgiers, das gelbe Trikot bis Paris zu verteidigen, als durchaus realistisch ein.(3) Pollentier ist ein widerstandsfähiger Kerl und dazu auch ein guter Zeitfahrer. Hinault steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Er weiß genau, dass es sehr schwierig wird, diesem entfesselten Pollentier während des 71 Kilometer langen Zeitfahrens zwischen Metz und Nancy die entscheidenden Sekunden abzunehmen und damit die Tour für sich zu entscheiden.

      Es folgt der Ruhetag in L’Oisans. Die große Schar der Pressevertreter stellt sich auf einen schönen Tag in den Bergen ein. Doch das Erholungsprogramm muss in jenem Moment aufgegeben werden, als folgende Nachricht wie eine Bombe eintrifft: „Der Franzose Antoine Gutierrez sowie der Tourleader Michel Pollentier wurden während der obligatorischen Dopingkontrolle des Betrugs überführt.“(4)

      In einem Interview am Ruhetag meint Pollentier später. „Ich habe nichts anderes gemacht, als alle anderen es auch machen würden. Was heute geschah, ist ein Komplott.“(5)

      Doch was ist mit Pollentier und Gutierrez geschehen? Die Meldung lautet weiter: Sowohl Pollentier als auch Gutierrez sollen bei der Abgabe der Dopingprobe betrogen haben, und zwar mit Urin, der nicht von ihnen selber stammt. Der junge italienische Arzt und leitende Anti-Doping Kontrolleur Renaldo Sacconi wundert sich angesichts des Verhaltens der beiden Fahrer bei der Vorbereitung zur Urinprobe. Und zwar so lange, bis es ihm zu bunt wird. Sacconi stellt sich zuerst vor Antoine Gutierrez und lässt ihn sein Verhalten klären. „Trikot ausziehen“, wird Sacconi geranzt haben. Was er dann entdeckt, ist ein Röhrensystem mit einem Kondom unter der Achsel Gutierrez’. In diesem Kondom stellt der Kontrolleur Fremdurin fest. Gutierrez ist enttarnt. Nun stellt sich Sacconi auch vor Pollentier, lässt ihn sich entblößen und stellt Gleiches wie bei Gutierrez fest. Beide wollen reinen Urin zur Kontrolle abgeben, weil ihr eigener Urin möglicherweise durch unerlaubte Dopingmittel verunreinigt war.(6)

      Pollentier’s Masseur befindet sich ebenfalls im Dopingkon-trollwagen. Willy Voet. Ja, genau jener Unglückliche, der zwanzig Jahre später der Auslöser des Festina Skandals sein sollte. Voet wird 1998 an der französisch-belgischen Grenze von Zollbeamten angehalten und festgenommen, als er mit seinem Teamwagen die Grenze passieren wollte. In seinem Wagen fanden die Beamten 234 Ampullen EPO, 80 Einheiten Wachstumshormone und 160 Tabletten Testosteron. Die Zollbeamten fackeln nicht lange und stecken Voet in Untersuchungshaft. Auch Sacconi zögert 1978 nicht lange, lässt Gutierrez und Pollentier auffliegen und meldet das Vergehen der Tourleitung. Voet eilt aufgeregt zu seinem Sportlichen Leiter Fred De Bruyne und meldete die schrecklichen Neuigkeiten.

      Nach dem erbarmungslosen Befund sind Pollentiers Erklärungen wirr. Der belgische Meister ist sichtlich durcheinander und meint: „Ich habe nicht betrogen. Ich hatte zwar die Absicht dazu, habe diese aber nicht in Tat umgesetzt. Mir wurde die Flasche abgenommen, bevor ich sie verwenden konnte. Ich habe also eine normale Probe abgegeben. Vielleicht fällt diese ja nicht einmal positiv aus.“ Tatsächlich gab Pollentier eine normale Probe ab. Die Resultate dieser Probe wurden jedoch nie veröffentlicht.(7) Pollentier wird trotzdem sofort aus der Tour geworfen und für zwei Monate gesperrt. Pollentier fühlt sich elend und wittert einen Komplott. Durfte er diese Tour nicht gewinnen, weil sie für Hinault bestimmt war? Die Theorie einer Verschwörung ist in keiner Weise abwegig. Frankreich war Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre immer noch eine Zweiteweltkriegs-Nation. Es war damals normal, dass man die Milch immer noch draußen vor dem Küchenfenster zur Kühlung stehen ließ, weil man schlicht keinen Kühlschrank besaß. Autos waren sehr selten auf den Straßen zu sehen und wer einen Wagen fuhr, wurde bewundert. In Frankreich gab es immer noch die Todesstrafe für Kapitalverbrechen. Man war eine Nation ohne großes Selbstvertrauen, in der Krise und niemand wusste genau, welchen Platz man als Land in der Welt innehatte. Man brauchte daher Vorbilder, um aus dieser Depression herauszukommen. Da kamen erfolgreiche Sportler genau zum richtigen Zeitpunkt. Es war nicht von ungefähr, dass ab 1975 die goldene Ära des französischen Sports eingeläutet wurde: Michel Platini war der Anführer einer ganz großen Fußballergeneration, die ab 1978 Erfolg an Erfolg reihte. Man qualifizierte sich für die Weltmeisterschaften 1978, 1982 und 1986. Man feierte als Höhepunkt 1984 den Titel des Europameisters sowie ein paar Monate später den Olympiasieg .

      Da war Alain Prost der Formel 1-Star, der ab 1979 bis 1990 gleich mehrfach Weltmeister wurde. Oder wer erinnert sich nicht an Yannick Noah? Der Tennis-Rastelli räumte ab 1977 mehrfach Titel auf höchstem Niveau ab. Unter anderem gewann er Wimbledon und die French Open. Da waren auch andere Sportarten, die sich plötzlich auf der globalen Landkarte an der Weltspitze zeigten. Im Rugby gewann man zwischen 1970 und 1989 gleich sechsmal