Helmut H. Schulz

Jakob Ponte


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hergestellt.

      Vor nunmehr sechs Jahren hatte Hochwürden Fabian Mama und dem Argentinier das Sakrament der Ehe zu spenden gedacht, woraus nichts wurde, wie dem günstigen Leser bereits bekannt. Trotzdem interessierte sich Onkel Fabian weiter für meinen Vater, trug diesem nichts nach, bekundete sogar ein gewisses Verständnis für seinen Rückzieher. Mit Kriegsbeginn besuchte uns Hochwürden ziemlich häufig und kam zuletzt regelmäßig ins Haus, ließ sich zu Tisch bitten, und war durchaus kein störendes Element in unserem Speisezimmer, sondern ein unterhaltsamer, ausgeglichener Mensch und Lippenchrist. Besondere Strenge zeichnete ihn jedenfalls nicht aus; nachsichtig pflegte er über die Verfehlungen und Schwächen seiner Mitmenschen hinwegzusehen, und sie milde zu bestrafen, wohl wissend, dass es schlimmere Sünden gab als Lüge, Betrug und Ehebruch. Mir war er als ein freundlicher Helfer der Menschheit und im Besonderen uns Pontes wohlvertraut, im Übrigen aber fernstehend. Nun, da mir bedeutet wurde, er werde sich künftig mit meiner Erziehung befassen, ward ich entschlossen, ihn zu lieben, so weit das möglich, aber zuvor und damit zusammenhängend muss ich von einem meiner Anfälle berichten, auch deshalb, weil ich offenbar meine Hellsicht schon perfekter zu gestalten wusste ...

      Zu Beginn des Mai, ich glaube, es war in der ersten Woche, traten die mir bereits vertrauten Erscheinungen auf, Übelkeit, Essunlust, in Intervallen auftretender Kopfschmerz und, als ein neues Symptom, gesteigerte Schlafsucht, will sagen, ich reagierte auf die allgemein spürbare Besorgnis in der Öffentlichkeit, es könne ein Krieg ausbrechen. Dieser Anfall muss besonders schlimm ausgefallen sein, denn Hochwürden blieb wie ein Vater über Nacht bei uns und sah stündlich nach mir. Aus den Gesprächen der Erwachsenen war zu lernen, dass sie eine neue Katastrophe herannahen sahen und hofften, mit einem weiteren Sieg glimpflich davonzukommen, wie schon zuvor. Dergestalt formte sich in meinem Kopf die Szenerie, der ich nur noch Stimme zu geben hatte. Fand mich mein Helfer wach, so stellte er seine Fragen; meine Antworten schrieb er in ein Notizbuch. Und diese Eintragungen korrespondieren mit denen Mamas; es waren tatsächlich die Tage des Mai 1940 und der Vorbereitung auf den Krieg im Westen. Infolge der Gewöhnung an Bilder fiel es mir nicht mehr schwer, die langen Kolonnen marschierender Soldaten zu beschreiben, die Schwärme von Flugzeugen, die Masse der rollenden Panzer; alle Illustrierten druckten genügend Fotos über den Krieg ab, wenn Fotoaufnahmen auch nichts Wahres enthalten und erst durch Kommentierung real werden. Immerhin ist auch heute das Vertrauen in Film und Foto ungebrochen. Ins Tagebuch schrieb Mama, dass meine Schilderungen von Mal zu Mal konkreter geworden seien; hingegen steht bei Hochwürden die Bemerkung, meine seelischen Schwingungen würden ihm mehr denn je Rätsel aufgeben. Wie auch immer; Doktor Wilhelmi wurde sicherheitshalber wieder hinzugezogen, obschon er neuerdings abfällig über meine Krankheit zu urteilen begann, was eine gewisse Entfremdung zwischen ihm und Mama nach sich zog; er bezeichnete mich einmal beiläufig als somnambulisches Gespenst, laut empörtem Eintrag in Mamas Tagebuch. Mein Arzt hatte einige Gründe sein Urteil über mich anderen und neueren Vorstellungen anzupassen; er trug jetzt eine Uniform mit dem Äskulapzeichen, und ich fühlte, dass er auf Distanz zu mir ging, soweit ein Kind solche kaum merklichen Schwankungen im Erscheinungsbild und in der aktuellen Seelenlage von Erwachsenen zu erkennen vermag.

      Den Erwachsenen fiel eine Veränderung der Sprache auf, die Doktor Wilhelmi mit der militärischen Würde eines Stabsarztes, eines Rassebeauftragten und überdies konsultierenden Arztes in Puffenrode erworben hatte. Er diente an der Heimatfront, ihm unterstand das Gesundheitswesen der städtischen Verwaltung, und er hospitierte in der Nervenheilanstalt, neben seiner gewöhnlichen Hausarztpraxis; dies muss ich hier wieder aus späterer Kenntnis hersetzen, auch deshalb, weil es Folgen zeitigte.

      »Was hat er denn, immer mal wieder, unser kleiner Hellseher?«, fragte er herablassend den Geistlichen, die Kompetenzen umdrehend. Der antwortete kurz angebunden. »Sie wissen ja Bescheid, es ist das Übliche.« Mama zeigte sich beeindruckt von der Uniform und dem Auftreten des Arztes; sie reichte ihm Likör und er nannte sie dafür gnädige Frau. Ruhig verschränkte Großmutter die Arme über der Brust und schwieg, wie immer, wenn sie den Lauf der Dinge abzuwarten gedachte. Endlich, etwa um die Mitte des Monats, kam, das geschaute Ereignis, und ich gesundete. Die Fliegermasse bestimmte den Verlauf der ersten Kriegsphase im Westen, der Aufmarsch durch die Ardennen, das große Luftlandemanöver, und die damit eingeleitete Umgehung der feindlichen Festungsanlagen, die Vorstöße tief in die französische Flanke und alle diese Dinge hatte mein Gehirn unklar produziert, ohne dass ich den Namen dieser Operation hätte angeben können; der Mannsteinplan also, wie es nun in den Kriegsaufzeichnungen heißt und unter dem Rubrum Sichelschnitt als Hirnleistung des Führers in die Annalen eingegangen ist. Schade, dass dies alles nicht in genau militärischen Ausdrücken festgehalten werden konnte und von mir hier nachträglich eingeflochten werden muss! Es hätte als ein wertvoller kriegsgeschichtlicher Beitrag in die Archive eingelagert werden können. Was ich indessen nicht vorausgesagt hatte, war das Bombardement unserer Stadt Freiburg. Zum ersten Mal war eine offene, tief im Hinterland gelegene deutsche Stadt von regulären feindlichen Kriegsfliegern angegriffen worden; was aber wie später erzählt wurde, eine listige Provokation gewesen sei. Die Interpretation solche Vorgänge, Prophetien und Verdrängungen, gehören zum historischen Stoffwechsel. Jedermann kann schließlich der Geschichtsschreibung entnehmen, was er für die Wahrheit hält oder was diese aktuell als wahr ausgibt, je nach Auftraggeber ...

      Genug, hier hatte meine Eingebungskraft versagt. Als ich wieder auf den Beinen stand, trat Hochwürden Fabian sein Amt als mein Erzieher an, und ich glaube, er übernahm mit Freude die Vaterrolle und Frankreich ward in vierzehn Tagen niedergeworfen! Den Priester muss sich der geneigte Leser als einen Mann vorstellen, der die Vierzig überschritten hat. Sein Gesicht erinnerte an das Porträt Mann mit roter Kappe von Luca Signorelli, wenn ihr es kennt. Diese Kenntnis verschaffte mir eine Kopie des Bildes, das mein geistlicher Lehrer besaß; wer noch keine Reproduktion gesehen hat, es ist das Gesicht eines Fleischessers und Weintrinkers, ein starkes Gesicht ohne Fett, mit knolliger Nase, festen Lippen, harter Kinnpartie und bläulichen geschwollenen Lidern. Dazu stellte Fabian das lebende Abbild dar, ein Mann von der Größe und Gestalt eines Athleten. Mit geraffter Soutane eilte er leichtfüßig die Stufen seiner Kirche hinauf und hinunter, schwang sich wie ein Rennreiter in den Sattel seines Damenfahrrades, raste auf Skiern im sicheren Hüftschwung die vereisten und verschneiten Hänge unserer Berge hinunter, und verfügte über eine Menge überraschender Kenntnisse von der Welt und von der Kultur der Europäer, unter anderem besaß er eine prächtige Bibliothek verbotener Werke und wunderbar obszöner Darstellungen. Mir brachte er an jenem Tag seine erdrückende Körperlichkeit zum Bewusstsein, als er dicht an mich herantrat, den Zeigefinger unter mein Kinn legte und es zu sich erhob, bis es in meinem Nacken schmerzte. Beklommen starrte ich ihn an. Endlich ließ er mich los, trat zurück und lehnte seinen Rücken an den mächtigen Schrank im Esszimmer mit Säulen, Schnitz- und Drechselwerk, in dem Großmutter ihr Geschirr und Tafelsilber verwahrte. Ein Erker, eine Art Kanzel mit schrägen Seitenfenstern, bildete einen Raum, in dem wir uns vorzugsweise bei kleinen Mahlzeiten aufhielten. Alle wichtigen uns betreffenden Angelegenheiten wurden hier besprochen. Hochwürden setzte sich in einen Sessel, aber Fauteuil ist der passendere Ausdruck, stellte die Beine weit auseinander, sodass seine Soutane, einem Rock ähnlich, zwischen den machtvollen Schenkeln hing. Er hielt eine lange, mir nicht verständliche Rede, aber da er und ich einen weiten Weg miteinander gegangen sind, kann ich mir Tonfall und Inhalt unseres ersten ernsthaften Gesprächs recht gut vorstellen, auch ohne Mamas Notizen. Sie begleitete den Vortrag mit einem aufmerksamen und bescheiden zustimmenden Lächeln. »Jakob soll ein guter Mensch werden, ein anständiger Mensch. Fest im Glauben«, ließ sie sich vernehmen, obschon sie selbst alles andere als gläubig war.

      »Versteht sich, die Frage ist, in welchem Glauben, da wir einige zur Auswahl stellen können«, sagte Hochwürden. »Nein, fürs Erste haben wir diesen Knaben Mores zu lehren und also aus einem Paradies zu vertreiben, dem Paradies unserer reinen Kindheit, was soviel bedeutet, wie dem wunderbaren herrlichen Heidentum unserer Lüste!«

      Mama standen die Fragen im Gesicht, aber sie nickte und wagte es nicht, die Sache durch eigene Beiträge zu verwirren. »Wir beide, Jakob, werden uns miteinander befassen«, sagte Hochwürden freundlich zu mir, »merke wohl, Jakob, ich bin dein künftiger Confessarius, was bedeutet, dass du demnächst mein Beichtkind wirst. Was ist eine Beichte?« Diese Frage diente ihm als Brücke zur weiteren Erläuterung; man unterscheide drei Arten Sünden; die wider Gott, die Sünde