Helmut H. Schulz

Jakob Ponte


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eine Antwort weiß ich in diesem Falle auch nicht.« So wird sich hoffentlich der Dialog zwischen beiden abgespielt haben.

      Der Arzt zeigte sich betroffen und fuhr ärgerlich fort: »Jakob ist ein überspanntes Kind, von drei Erwachsenen ständig überfordert, einer Mutter, die einen vermeintlichen Fehltritt an ihrem Kind wiedergutmachen will, entschuldigen Sie, Fräulein Ponte, und den Jungen, anstatt ihn mit Hänschenklein und Eiapopeia zu erziehen, mit ihren eigenen Seelenzuständen versorgt; dagegen werden Pillen in der Tat machtlos sein und wenig ausrichten. Kommen Sie lieber wieder regelmäßiger zu mir in die Sprechstunde, Fräulein Ponte«, wendete er sich an Mama, »dann sehen wir weiter.«

      »Haha«, sagte der Geistliche, »es hat Sie wohl doch getroffen, dass Ihnen hier kein Erfolg beschieden ist. Wir wissen ja nicht, ob Jakobs Vater vielleicht eine Anlage zum Propheten gehabt hat,« endete er listig. Der Leser möge mir verzeihen, mich hier bereits als Dichter heraufgespielt zu sehen, denn sicherlich reicht meine Erinnerung nicht so weit, einen solchen Dialog wiederzugeben. Aber: Wie bekannt, am 1. September 1939 brach der Krieg wirklich aus, was inzwischen jeder weiß und womit damals jeder rechnete und dessen Ursache sogar manch ein Historiker begriffen hat. Mit einem Schlage wurde ich wieder gesund. Fröhlich sprang ich umher und durfte zu Meister Fabian gehen, um mich zu bedanken und ihm Blumen zu bringen. Dafür ließ Mama ihre plötzlich sporadisch auftretende Migräne hypnotisch von Doktor Wilhelmi behandeln und ging zweimal wöchentlich in seine Sprechstunde. Leider enthält ihr Tagebuch diesbezüglich keinen Hinweis darauf, was diese beiden trieben.

      Ich muss an dieser Stelle etwas aus späterer Einsicht einschalten, um dem Arzt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Doktor Wilhelmi, der sich so skeptisch gab, überwachte nach diesem letzten Vorfall mein Wohlbefinden und meine Zustände systematischer; in wissenschaftlichen Fachblättern wie Der Nationalsozialistische Arzt veröffentlichte er seine Beobachtungen, deren Objekt ich gewesen bin. Die in seinen Artikeln herrschende Metaphysik und Parapsychologie irritierte die Fachwelt keineswegs. Jedenfalls vertrat Doktor Wilhelmi seinerzeit die Auffassung, dass unter gewissen organischen Bedingungen eine Fernübertragung von Gedanken in Form von Bildern durchaus möglich sei, vorausgesetzt, die Speicherung sei diesem Vorgang im Medium vorangegangen. Der germanische Stamm vertraute der Seherin vollständig, wenn sie die Schicksalsrunen warf und daraus die Zukunft weissagte; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mächtig. Es wäre an ein Ahnenerbe zu denken … Ja, selbst Dinge, die seinem wissenschaftlichen Weltbild widersprachen, hielt Doktor Wilhelmi für zwar unerklärbar, aber für Tatsachen. Ungewiss wäre nur, ob solche Affektionen pathologischer Art seien oder einer höheren seelischen Gesundheit zugerechnet werden müssten. Mein faustischer Nothelfer befand sich da auf einem recht schmalen Pfad der Erkenntnis, wie man sieht, aber auch Meister Fabian stand nicht weit von ihm entfernt. Da Mama alle mich betreffenden Artikel und manche Äußerungen über mich aufgehoben hat, allerdings korrekterweise das inzwischen gesetzlich verbotene Hakenkreuz auf dem Titelblatt der Zeitungen oder Zeitschriften entfernte, besitze ich über meine frühen Erfahrungen also immerhin bestimmte Nachrichten.

      Das Knochenhauerinnungshaus erschien mir unendlich groß und vor allem dunkel. Als ein Kind mit lebhafter Fantasie befiel mich Angst vor großen schwarzen Räumen. Daher mied ich eine Zeit lang alle Gelegenheiten, die Zimmer der oberen Etagen allein und bei Dunkelheit zu betreten, blieb in der Nähe von Mama oder Großmutter, wenn wir dort oben etwas zu tun hatten. So kam ich in dieser Übergangszeit in den Ruf, ein ängstliches Kind zu sein. Immerhin machte ich eine Ausnahme gegenüber anderen Angsthasen, als ich mich meiner Schwäche nicht schämte, sondern offen eingestand, dass mir alles Nachtdunkel nicht geheuer war. Ich befand mich noch im Zustand der Unschuld, und diesem Umstand trug Hochwürden Fabian, der oft zum Kaffee kam, Rechnung, zeigte er mir doch den lebendigen, verhältnismäßig freundlichen Gott des Neuen Testaments, der alles sah, namentlich das, was die kleinen Kinder taten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, der es aber vorerst bei einer leichten Züchtigung bewenden ließ, wenn er uns bei einer Sünde ertappte. Bald lernte ich, dass alle diesseitigen Strafen nicht die einzige Sühne darstellten; in schwereren Fällen griff Gott selbst auf unnachsichtige Art und Weise ein, schickte Krankheiten über uns, oder verordnete ein Missgeschick, etwa eine Beule am Kopf oder ein gebrochenes Glied. Gebt uns die ersten sechs Jahre, verlangen die Weltanschauungslehrer mit guten Gründen, und Hochwürden Fabian kam aus der strengen Ordensschule der Jesuiten im damaligen Feldmünster, ehe er Weltgeistlicher wurde und sich zu Kaffee und Kognak bekannte.

      Kampflos wollte ich mich allerdings nicht ergeben, sondern suchte nach Wegen, der himmlischen Aufsicht zu entkommen, oder ihr durch ein wohlbedachtes Vorgehen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zum Beispiel mischte ich gute und schlechte Taten, sodass ein Patt herauskam.

      Einmal wöchentlich am Sonntag musste ich Großmutter zur Frühmesse begleiten. Großmutter und ich knieten in der Betbank nieder. Zwar dauerte die Sache nicht lange, erschien mir aber doch als recht lästig und ziemlich überflüssig. Im Sommer machte mir das frühe Aufstehen weniger aus als im Winter. Ich sann also darüber nach, wie ich es anstellen konnte, zu Hause zu bleiben, und fand verschiedene Möglichkeiten, die ich abwechselnd anwendete. Entweder verschluckte ich Zahnputzwasser, oder ich steckte mir etwas in den Mund, behauptend, unbedacht gehandelt zu haben. Großmutter, die es mit äußeren Regeln sehr genau nahm, erklärte, dass ich in diesem unreinen Zustand keiner Messandacht, nicht einmal eines Stillgebetes würdig sei und zu Hause bleiben müsse. Kaum hörte ich die Haustür klappen, schlüpfte ich wieder ins Bett. Meine Erziehung war konfus, manchmal streng, dann wieder lax und wenig ehrlich. So konnte ich auch nicht anders werden, als mir vorgelebt wurde. Mit Vorliebe sprach Großvater vom Dichter Goethe und vom Fürsten Friedrich, wie schon erwähnt. Letzterer hatte es ihm angetan, obschon er ihn auch rüffelte. Einst sollte dieser Fürst, nach einem Wunsch des Papstes, Kaiser der Deutschen werden, und Großvater hatte herausgefunden, dass die Ablehnung dieser Würde Friedrichs Kardinalfehler gewesen sei.

      Dass sich der Fürst der Dichter von Kirchen und Religionen fernhielt, weil er seine eigene Religion besaß, wahrscheinlich gar keine, wenigstens keine geoffenbarte, und deshalb eigentlich zu kritisieren war, störte den Alte weniger. Künstlerische Gaben stammten in Großvaters Vorstellungen immer vom Schöpfer selbst, ein Widerspruch zwischen Gott und Talent war für ihn nicht vorhanden, wohl aber ließ er Strenge walten, wenn ich Achtelnoten wie viertel oder gar halbe Noten spielte. »Im Takt, Schafskopf, im Takt!« Der Alte bedeutete mir, wie viel jener Dichterfürst gelernt, wie freudig er sich jeder Mühe unterzogen hatte, um Erfahrungen zum Nutzen und Wohle der Menschen zu sammeln. Faulheit sei diesem Manne fremd, ja, verhasst gewesen. Diese Behauptung, eine Kritik an meiner zur Bequemlichkeit neigenden Lebensweise, wie ich wohl begriff, hielt meines Erachtens einer Prüfung aber nicht stand. Wenn Unsterblichkeit oder wenn bloß Ansehen mit so viel Aufwand errungen werden musste, wie das taktgerechte Notenlesen, dann war die Ökonomie des menschlichen Lebens gestört, die im Ausgleich zwischen Anstrengung und Ausruhen bestand. Vielmehr nahm ich damals an, dass Genialität in der Leichtigkeit bestand, sich die Welt anzueignen. Will sagen, ein Genie ist immer auch ein Genie an Glück, wie ich früh verstand; wer es hat, dem kälbert ein Ochs. Kindlich vorurteilsfrei wendete ich mich mit meinen Fragen an den Bronzekopf des Dichters und erhielt Antwort. Sie ruht bis heute in meiner Seele: Lebe frei von fremden Lehren und Doktrinen! Sei du selbst! Und lass die Leute reden!

      Ach, hätte ich mich nur daran gehalten und anderen kein Recht über mich eingeräumt! Nach einem langen Leben sehe ich Menschen gefeiert, deren Leistung in nichts anderem besteht, als einem jämmerlichen und beständigen Mittelmaß. Ewig bleiben die Anbeter des Fleißes in ihrem Schatten. Periodisch freilich steigt aus der Asche der Phönix auf, der den Erdball aus den Angeln heben will. Gelingt es ihm, dann immer zu unserem Nachteil. Menschen sind keine Genies, sie wollen keine sein. Die Giganten geistiger Arbeit werden manchmal unter die Götter versetzt, allerdings lange nach ihrem zeitlichen Ende, wenn ihnen die Erhebung nicht mehr nutzt. Schwerlich kann ich widerlegt werden, aber zurück zu den Erlebnissen meiner Kindheit, der solche Erkenntnisse natürlich verschlossen, wenn auch im Keim bereits vorgeformt waren ...

      Gelegentliche Erkrankungen waren ein Segen, dessen Wert ich bald erkannt hatte. Zuerst plagte ich mich mit Husten und Schnupfen, dann verstand es meine kindliche Abgefeimtheit, Nutzen aus meinen Leiden zu ziehen. Tatsächlich bin ich wirklicher Leiden schon früh fähig gewesen, begriff allerdings auch in jungen Jahren, wie viel Glück ich durch die Anwendung