Helmut H. Schulz

Jakob Ponte


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jeden zweiten Tag in die Praxis. Arzt und Patient hatten jedoch nicht lange miteinander zu tun. Ich wurde ins Wartezimmer geschoben. Mein lauschendes Ohr will noch heute heiteres Lachen vernehmen; die Melodie eines Liedes mit dem schönen Anfang: Hörst du mein heimliches Rufen von einer Schallplatte geschnarrt. Auch Kussgeräusche vernahm ich und die schwachen Seufzer der Lust, was ein süßes und unbestimmtes Gefühl in mir ausgelöst haben mag. Schon strebte ich allen künftigen Seligkeiten zu, ohne vorerst zu ahnen, worum es sich handelte. Alles nimmt ein Ende, und diese schönen Gänge nahmen auch eins. Großmutter gab nämlich zu verstehen, dass der Ruf der Familie durch die Existenz eines unehelichen Kindes genug angeschlagen sei, und dass sie es verhindern werde, unser Ansehen weiter zu belasten. Es rede schon die ganze Stadt von dem sittenwidrigen Verhältnis Mamas zu diesem Arzt. Darauf erwiderte Mama mit tragischem Ausdruck, ihr sei es gleichgültig, was andere Leute über sie tratschten. Es handelte sich um eine ihrer ständigen Redensarten. In Wahrheit achtete sie auf ihren Ruf, wie in einer Kleinstadt unter Mittelständlern auch nicht anders möglich. Sie stehe allein, behauptete sie treuherzig unverfroren und entgegen der Wahrheit, aber das Kind, gemeint war ich, dürfe nicht unter ihrer Ächtung durch gehässige Spießer leiden. Großmutter sagte darauf, sie verstehe nicht, was ihr diese ungereimte Rede beweisen solle, habe sie doch um nichts anderes ersucht als darum, kein zweites Kind in die Welt zu setzen ohne gestiftete Ehe und elterlichen Segen. Heuchlerisch sprach Mama, ob sie denn glaube, sie sei so wahnsinnig und auf diesen Arzt hereinfalle? »Ja, das glaube ich, liebe Tochter«, soll meine Großmutter Clara Katharina Ponte trocken erklärt haben, was ihr durchaus zuzutrauen, und so steht es in Mamas Tagebucheintragung.

      »Und weil vorbeugen nun einmal besser ist, als heilen, gehe fortan ich mit Jakob zu diesem Doktor Wilhelmi.«

      Worauf sie, also Mama, mit dem Fuß aufgestampft und geschrien habe, sie werde sogleich zusammen mit ihrem Sohn dieses Haus und diese verfluchte Stadt für immer verlassen und in die große weite Welt hinausziehen, so wie sie stehe, zumindest bis Eisenach oder bis Weimar, und jedenfalls käme sie nie mehr zurück. So steht es wiederum im Tagebuch.

      Man kann aus späterer Sicht natürlich all das als eine von Mamas Lügen bezeichnen, allein eine solche Feststellung würde uns nicht weiterhelfen. Diese Drohung sollte sie oft wiederholen! Daraus ist zu lernen, besser keine überprüfbaren Einträge in einem Tagebuch anzulegen. Nach Großmutters Eingreifen besserte sich mein Gesundheitszustand überraschend schnell. Die Verletzung blieb ohne ernstere Folgen, für mich und vor allem für Mama, aber ich behielt doch eine kleine Narbe im Rachen zurück, die sich lange Zeit mit der Zunge fühlen ließ, schließlich aber ganz verschwand.

      Meine Zeit verbrachte ich gern in Großvaters Werkstatt, drehte meinen Kopf wie ein Wendehals nach dem hundertfachen Ticktack der Uhren, großen und kleinen, oder ich sah zu, wie Mama und Großmutter Schmuck verkauften, Uhren zur Reparatur annahmen und ausgaben, und es war schön zu sehen, wie anmutig sich Mutter und Tochter hinter dem Ladentisch bewegten, die eine im blauen, die andere im roten Kleid gleichen Schnittes. Sogar ihre Gesichter glichen sich, wenn sie die Kundschaft hineinlegten. Mit rascher Handbewegung klemmten sie sich Lupen ein, stellten unsichtbare Schäden an Uhren fest und überschlugen die Reparaturkosten. Fielen jene hoch aus, so erhielt die Kundin einen mitfühlenden Blick, lagen sie niedrig, so steigerte sich das Lächeln, als verschenke die Firma Geld. Wir zeigten uns vorgeblich am finanziellen Geschick unserer Klientel interessiert. An Festtagen schrieben wir Schilder: Unserer werten Kundschaft ein angenehmes Fest und ein gesegnetes Neues Jahr! Mit Deutschem Gruß! Heil Hitler! Aber Geld verschenkten wir sicherlich nicht. In der Kirche Sankt Sebastian hatten wir unsere angestammten Plätze im Mittelschiff in der dritten Reihe ganz außen wegen des Kinderwagens, in dem ich mitgeführt wurde. Einstweilen lag ich zwar noch in dieser Karre, aber ich gehörte durch Geburt dazu, beobachtete, wie sie auf die Knie sanken, sich erhoben, im Chor ein Confiteor murmelten; sie, die an Geld glaubten und vielleicht nicht mal das, hätten wohl mit Nestroy sagen können: Geld verachten wir, nur Kapitalien sind wir in der Lage anzunehmen, leider aber fiel ihnen kein Geld vom Himmel trotz vieler Gebete. Beim Credo, einem Begriff, den unser lieber Verwandter Hochwürden Fabian, später für mich um zwei Worte bereicherte, um credo ut intelligam, glauben, um zu begreifen, oder wie man sonst übersetzen will, ein Einfall des großen Gelehrten Anselm von Canterbury, taten sie so, als glaubten sie wirklich an den Gott der Kirchenlehre und nicht an einen Dämon in ihrem Inneren. Störte ich, lenkte ich von der Handlung ab, weil ich den Singsang der Priester und das Klingeln der Glöckchen durch fröhliches Trallala und glucksendes Lachen begleitete, so als sei ich bereits des himmlischen Manna teilhaftig, gab es gelegentlich Proteste. Vonseiten der Geistlichkeit wurde Großmutter bedeutet, sie hätten mich zu Hause zu lassen. Ihrem Einwand, Kindern sei nach der Lehre das Himmelreich, hielt der Meister Fabian sachverständig entgegen, das Himmelreich wohl, nicht aber das Gotteshaus. Da verfielen sie auf den Ausweg, mir durch Doktor Wilhelmi Beruhigungsmittel in Form gehälfteter und in Wasser aufgelöster Pillen zu verabreichen. Weil ich alles gierig schluckte, was mir in den Mund gesteckt wurde, oder was überhaupt in den Bereich meines Schlundes kam, so durfte ich weiter an gottesdienstlichen Handlungen teilnehmen und ward regelrecht drogensüchtig, was sich später glücklicherweise wieder verlor, nicht aber die Erinnerung daran. Orgelmusik brauste durch Sankt Sebastian, ich aber genoss im Dämmerschlaf den Lärm, der über und unter mir, von allen Seiten und Richtungen auf- und abschwoll, als rege der große Gott meinetwegen seine Schwingen ...

      Die Jahreszeiten wechselten, und um das Kapitel von Geburt und frühester Kindheit abzuschließen, sei noch gesagt, es war keine ganz üble Welt und auch keine schlechte Wahl, bei den Pontes in einer mittelalterlichen deutschen Kleinstadt als uneheliches Kind auf Zeit abgeliefert worden zu sein. Meinen ersten Geburtstag feierte ich aufrecht sitzend und wegen der Maiwärme nackt wie das Dalai-Lama-Kind auf einem Seidenkissen, als ein zu höchstem Glück berufenes Wesen, und empfing gnädig die Huldigungen der Familienmitglieder. Das Bild des Dalai-Lama-Knaben, der bekanntlich unter vielen ausgewählt wird, um zum höchsten Gottmenschen gebildet zu werden, ist nicht zufällig in meine Lebensbeschreibung gekommen, bin ich doch später wenigstens vorübergehend zu den Weisheiten des Ostens gelangt, wurde eine Art Guru, nachdem sich alle Heilsbotschaften und Weltanschauungen von Sokrates bis Che Guevara in meinem Kopf zu einem heillosen Durcheinander vermengt hatten. Leider brach meine Karriere als Prophet schnell ab, worüber an anderer Stelle dieses Buches referiert werden soll.

      In reifem Alter, auf der Suche nach Halt, bin ich dazu gekommen, die wichtigen Daten meines Lebens mit denen der Weltgeschichte zu vergleichen, und ich gelangte zu erstaunlichen Resultaten. Just als ich es mir wohl sein ließ, begann zum Beispiel die Schlacht bei Brunéte, einem Ort im Spanischen Bürgerkrieg. Sie dauerte zwei Tage und endete mit einem Sieg beider Seiten. Dieser Fall ist in der Kriegsgeschichte nicht so selten, wie mancher glauben mag; des Öfteren haben große Schlachten zwei Sieger gesehen, denkt man nur an Borodino, wo die Grande Armée ihre numerische Überlegenheit einbüßte, Kutusow zwar geschlagen abzog, sich jedoch auch als Sieger bezeichnete. Das weltgeschichtliche Panorama um mich herum war in der Tat lebhaft bewegt. Mama berichtete in ihrem Tagebuch, dass ich mich bei großen Ereignissen geschichtsfühlig verhielt. Jakob vermag historische Ereignisse vorherzusagen, hieß es, was mich jedem Historiker weit überlegen machen würde, träfe es zu, der mehr ein Prophet des Rückwärtigen ist und sich auch dann noch in seinen Auslegungen häufig irrt.

      Meist begann die Sache mit einem allgemeinen körperlichen Unwohlsein, mit Brechdurchfällen, Migräne und dergleichen. Diese Zustände verschwanden bei Eintreten des unheilvollen Ereignisses, und so wurde schon früh die Überzeugung meiner Großmutter, ich wäre zu Feinsinn und Weitläufigkeit geboren, bestätigt. Wenn ich damals noch nicht wirklich verarbeitete, was um mich herum geschah, so mag ich doch Eindrücke des Zeitgeschehens über die Reaktionen meiner Erzieher gut beobachtet und ihnen die Deutung meiner Äußerungen überlassen haben. Darüber zu berichten, sehe ich mich ermutigt, weil in unserer Zeit, wo alle nur noch an das glauben wollen, was sich mit den Sinnen wahrnehmen lässt, paradoxerweise die Abkehr vom Materialismus zu beobachten ist. Es spukt neuerdings in den aufgeklärten Köpfen, Fiktion jenseits des Wahrnehmbaren ist wieder Objekt des Denkens, der Psychoanalyse, der Phrenologie, besser heute als Neurologie bezeichnet, namentlich auch in der unterhaltenden Literatur. Es lebe die Metaphysik! So muss es denn erwähnt werden, was ich in jener Zeit sah, wie etwa der Reichskanzler sein Frühstücksei aufklopft, zufrieden mit sich. Er hört keinen