Helmut H. Schulz

Jakob Ponte


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sie in nicht genügender Zahl vorhanden wären? Ohne Zweifel würden die Menschen in unserer Stadt zwar nicht Hungers sterben, aber doch großen Mangel leiden, ein Fall, den ich mir nicht vorstellen konnte und wollte.

      Langsam folgte ich Artus auf seinem Gang, sah, wie sein großer weißer Beutel immer leerer wurde, bis Artus in die Straße einbog, wo der Bäcker, Erzeuger all dieser Schrippen, den leeren Sack entgegennahm und seinen Boten entlohnte. Der bedankte sich und ging seiner Wege. Ich trat an die Seite meines Schulgefährten und nahm seinen Schritt auf. Artus schenkte mir keinen Blick, zeigte sich aber auch nicht eingeschüchtert, da ich ihn doch bei einer niedrigen Tätigkeit beobachtet hatte, was ihm nicht entgangen sein konnte. Da er störrisch schwieg, beschloss ich aufs Ganze zu gehen und sagte, dass für die Verteilung von Schrippen auf deutsche Beutel doch eigentlich Fremde zuständig seien; unsere Aufgabe bestehe darin, Brötchen zu essen, die andere gebacken und wieder andere verteilt hätten. Artus schwieg weiter und blickte geradeaus. Ich sagte: »Artus! Oberstudienrat Kniri ist imstande, in Müllhaeusen einen Rassestaat zu errichten. Du solltest dich dazu äußern, hältst du es für möglich oder wahrscheinlich, dass dir eine andere Rolle zukommt als die eines Brötchenverteilers, indessen mir die höhere Bildung verwehrt sein würde? Sag etwas! Sprich dich aus«. Trotz dieser gehobenen Rede gelang es mir nicht, ihn zum Sprechen zu bringen. »Nicht sehr freundlich«, sagte ich. »Nun, du wirst Gründe haben zu schweigen. Lassen wir es denn.« Es war mir leider unmöglich, etwas Vernünftiges aus Artus herauszukriegen. Meine Ängste gediehen weiter.

      Dann aber geschahen ablenkende Dinge, die zuerst Mama, später im gewissen Sinne auch mich betrafen, bis ganz zuletzt die von mir erwartete Base Helene Buder im Städtchen eintraf.

      8. Kapitel

      Die Wende begann unmerklich für uns Beteiligte im vorletzten Kriegsjahr, als uns Mama schon verlassen hatte und als sich Großmutter mit der Innung herumschlug, die ihr die Schließung des Geschäftes nahe gelegt hatte, weil der totale Krieg jede Hand brauche, auch die ihre. Am Ende siegte sie natürlich doch und galt weiterhin als Inhaberin unseres Geschäftes.

      Mit dem Beginn des Jahres 1944, meinem Neunten auf dieser Welt, mehrten sich die Zeichen einer Wende unserer bürgerlichen und politischen Existenz. Was mich angeht, so sollten sich bis zum Jahresende Dinge ereignen, die mir meine Zukunft in keinem sehr günstigen Licht erscheinen ließen, allerdings, wo Gefahr, wächst das Rettende auch! Es begann recht harmlos. Mama zeigte in einem Brief an, dass man ihr trotz der Kriegslage einen Urlaub gewährt hatte, um ihrem zukünftigen Gatten in unserem Rathaus das Jawort zu geben. Diesen Brief, einem kostbaren Beweis, darf ich dem günstigen Leser nicht vorenthalten; im Wortlaut hieß es also: Lieber Sohn, ich schreibe Dir ein letztes Mal aus dem wunderbaren Paris, in das mich das Schicksal und der Krieg zu meinem und Deinem Glück geführt hat, das ich nun wieder und vielleicht für lange oder gar für immer verlassen muss. Du weißt wohl, vielleicht aus Deiner rätselhaften hellseherischen Fähigkeit heraus, dass die Amerikaner zusammen mit den Briten in der Normandie eingefallen sind; dort toben schreckliche Kämpfe, aber Deine arme Mama hat den Mann ihres Lebens gefunden, was unsere Lage verändern wird. Er ist Offizier bei der Luftwaffe, und ich lege Dir ein Bild von ihm bei, auf dem er freilich nicht sehr gut getroffen ist. Er freut sich sehr auf Dich, als einen Sohn, da seine erste Ehe kinderlos blieb. Nun hoffe ich, dass wir alle nach dem Kriege vergnügt miteinander leben werden; an Deine Großeltern schreibe ich gesondert; es grüßt und küsst Dich, Deine Mama.

      In der Tat, dies war eine denkwürdige Neuigkeit; ich unterzog das Foto meines künftigen Stiefvaters einer Prüfung, um ein Zeichen zu entdecken, das ihn mir näher bringen würde. Allein Mama hatte entschieden Pech, soweit es ihre Männer betraf. Nicht sehr gut getroffen, war geschmeichelt; jener Herr Rochus Friedrich von Oe, wie er sein Bild, das ihn in der Uniform seiner Waffengattung zeigte, signiert hatte, schien bereits in einem bedenklich vorgeschrittenen Alter zu stehen. Was Mama wohl als eine hohe Stirn bezeichnete, konnte ich nur eine ausgeprägte Glatze nennen, eine Glatze, zu der die welken Hängebäckchen des Herrn Stiefvaters recht gut passten. So blieb als einziges günstiges Merkmal sein Titel; verglichen mit dem Bild des geflüchteten Argentiniers, schnitt er nicht eben vorteilhaft ab. Was Mama in dem Brief an mich nicht geschrieben hatte, wusste meine Großmutter, die den Fall mit Hochwürden bei Kaffee und Gebäck erörterte; alles war hinreichend sensationell, sollte doch die Trauung gewissermaßen einseitig vorgenommen werden, also ohne Anwesenheit des Bräutigams, ein sogenannte Kriegs- oder Ferntrauung. Hochwürden sagte: »Sie können es nicht leugnen, Frau Großtante, Ihre Tochter bleibt ihrem Stil treu und lässt sich womöglich ein zweites Mal ohne einen Mann verheiraten, was zwar als ein lächerlicher Einfall zu missbilligen, aber noch immer kein Beinbruch ist.«

      »Falls nicht alles nur Erfindung«, erklärte Großmutter, »diese Göre war schon als Kind verlogen; sie log sogar, wenn sie keinen Nutzen daraus zog, einfach nur um zu lügen. In diesem Kind steckt eine große Sehnsucht nach Abenteuer, und sie selbst dürfte an den Schwindel glauben, den sie sich hier wieder ausgedacht hat. Vielleicht ist diese Veranlagung auf Jakob übergegangen, nun, was meinen Sie?«

      Mein wahrer Vater, um dessen Verlust ich zu fürchten anfing, schwieg und sah mich nachdenklich an. Was diese merkwürdige Art betrifft, sich zu verheiraten, so hatten wir davon in einer der Rundfunksendungen gehört, aber für einen Jux gehalten, was vielleicht in den städtischen Zentren Brauch war. Und wie denn mag entweder Großmutter oder Meister Fabian gefragt haben, sollte daraus eine Ehe werden, und wenn ja, dann wohl eine für das Himmelreich, obschon das Ehesakrament ja abwesend. Es liefe parallel zum ersten Fall, übrigens gehe ihn dieser Vorgang nichts an, sprach Hochwürden. Großmutter sagte stirnrunzelnd, sie habe längst einen ganz anderen Verdacht, und er nickte, mit ihr im Einverständnis, aber um welchen Verdacht es sich handelte, sprach sie nicht aus; wohl aber fiel der Name Wilhelmi, worauf ich mir keinen Reim zu machen wusste. Es war still geworden um meinen Hausarzt. Was mir diese Ankündigung außer Missbehagen weiter einbrachte, war der Spott meiner Schulkameraden, denen ich in einem Anfall von Hochmut anvertraut hatte, einen Stand heraufzukommen, nämlich in den des Adels, zwar nur per Adoption, aber wer hatte etwas Ähnliches aufzuweisen? Ich hieß der Graf Ponte, und ich musste es hinnehmen, dass dieses Wortpaar abfällig gebraucht wurde und neidisch klang. Diese Beleidigungen hörten erst auf, als ich den einen oder anderen verprügelt hatte zwischen Mamas Ankündigung und dem Hochzeitstag verging dann so viel Zeit, dass ich schon beinahe vergessen hatte, was auf mich zukam.

      Das Stadtcafé musste seinen Betrieb einschränken, einmal fehlte es an hübschen jungen Mädchen, die einen Hauptteil der Attraktion des Cafés gebildet hatten, zweitens konnte selbst Herr Links kaum noch die Spezialitäten herbeischaffen, die das Haus berühmt gemacht hatten, die Sachertorten und Sahnebaisers, die hohen Stücke Schwarzwälder Kirsch, die in Schmalz gebackenen Pfannkuchen und die Platten mit Petits Fours, die Eiscremeberge und Liköre, den Schinken und die Würste. Selbstverständlich verfügte der Hausherr noch über genügend Rohstoffe, um alle diese Herrlichkeiten für seine Stammkunden herzustellen. Es blühte der Schwarzhandel; allein die Kontrollen waren verschärft worden, die Strafen bei Übertretung der Gesetze drakonisch, sodass sich Herr Links nicht mehr auf diesem Felde zu betätigen wagte. Die Gefahr, in das nahe Konzentrationslager Buchenwald zu wandern, um der Besserung zugeführt zu werden, schreckte ihn ab. Er hätte Großmutters Verwegenheit besitzen müssen, um sich geschäftlich zu behaupten. Jan allerdings durfte dank der Förderung durch den Kreisleiter weiterhin öffentlich Klavier spielen; nur der Tanz war wegen der Kriegslage untersagt. Das junge Genie spielte an zwei Tagen des Nachmittags; ich hielt mich in meiner Freizeit meist im Café auf, und musizierte mit ihm. So erreichte ich eine größere Fertigkeit auf der Violine, sogar Kniri konnte sein Spiel auf dem Violoncello leicht verbessern. Jan fühlte sich längst als professioneller Musiker, wartete ungeduldig darauf, das Gymnasium zu beziehen, um es rasch hinter sich zu lassen und nach Weimar auf das dortige Konservatorium zu gehen und seine Ausbildung als Konzertpianist zu vollenden. Was aus mir werden sollte, hing in der Luft, wenn auch aus anderen, oben angedeuteten Gründen. Einzig Karls Zukunft schien unangefochten sicher.

      Die Gäste des Cafés waren noch dieselben; vom Wehrdienst befreite Bürger unseres Städtchens, Angestellte aus verlagerten Dienststellen und Kleinbetrieben, von denen die thüringischen Orte wegen ihrer vermeintlichen Sicherheit vor den