Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte


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Studium, Sachsen, 1966

       Eine Affäre, Kassel, 1968

       Dieter Becker, Sachsen, 1970

       Akademische Karriere, Sachsen, 1971

       Der Streber, Sachsen, 1972

       Verunsicherung, Sachsen, 1993

       Umzug, Berlin, 1973

       Dissertation, Sachsen, 1974

       Mangelwirtschaft, Berlin, 1974

      Ein Geruch von Tod lag in der stickigen Zimmerluft.

      Der kleine grauhaarige Mann saß an der linken Seite des Bettes und hatte sein rechtes Bein geradlinig lang ausgestreckt. Am Fußende des Bettes stand eine Frau Mitte der vierziger Jahre mit dunkelrot gefärbten Haaren und schaute gleichgültig auf einen alten Mann, der regungslos und mit geschlossenen Augen ruhig atmete und dessen schmächtiger Körper sich unter dem Bettzeug abzeichnete. Der Arzt hatte sich vor wenigen Minuten zur Visite bei den anderen Patienten verabschiedet, wenn etwas sein sollte würde ihn die Schwester sofort informieren und er wäre in Minutenfrist wieder da. Die Luft im Zimmer war brütend warm. Obwohl die Schwester die Fenster weit geöffnet und die Vorhänge wieder zugezogen hatte war die Hitze so stark, dass die beiden Menschen heftig schwitzten. Das schon bleiche Gesicht des Mannes im Bett hingegen zeigte keinen einzigen Schweißtropfen, und da ihm das Gebiss entfernt worden war, hatten sich die Proportionen seines Schädels wie in einer Vorwegnahme des Kommenden in die eines Totenkopfes verändert.

      Vor drei Tagen waren Dieter und Hanna Becker vom Pflegeheim informiert worden, dass sich der Zustand ihres Vaters in den letzten beiden Tagen rapide verschlechtert hatte und man ihn in das Krankenhaus eingeliefert hatte. Obwohl Peter Becker Nahrung durch eine Sonde zugeführt wurde war der Arzt der Auffassung, dass die Entwicklung der Vitalfunktionen Anlass zur Sorge gäbe. Als moderner Mensch hatte Dieter Becker die Dienste des Internets in Anspruch genommen und erfahren, dass es in diesem Zusammenhang um Bewusstsein, Atmung und Kreislauf seines Vaters ging. Augenscheinlich hatte er noch keine Mühe sich selbst mit Sauerstoff zu versorgen, aber er wurde schon über Monate über eine Sonde ernährt und der Gewichtsverlust war deutlich zu verfolgen gewesen. Mit dieser Art der Lebenserhaltung war begonnen worden, als Peter Becker nach einem weiteren Schlaganfall ins Wachkoma fiel und somit nicht mehr in der Lage gewesen war, sich selbst zu ernähren und die übrigen Funktionen seines Körpers zu steuern, auch darüber hatte sich sein Sohn informiert. So war ihm auch schnell klar geworden, dass sein Vater aus dieser anderen, ihm selbst verschlossenen Welt nicht wieder zurückkehren würde und die weitere Zeit ein langsamer Abschied auf Raten werden würde.

      Wie lange es dauern würde konnte der Arzt nicht voraussagen. Seiner Auffassung nach war der alte Mann sein Leben lang mit einer guten körperlichen Konstitution gesegnet gewesen und man könne durchaus noch mit einiger Zeit rechnen, so etwas wäre gar nicht selten. Der schon lange vorher eingetretene geistige Verfall, also die Alzheimer Erkrankung, würde in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle spielen. Sie sollten es sich so vorstellen, als ob ein alter Motor, der schon hunderttausende von Kilometern hinter sich gebracht hatte noch recht zuverlässig laufen würde. Dass dessen Steuerelektronik, er meine das Gehirn, schon seit einiger Zeit keine richtigen Signale mehr aussende, wäre für das automatische Zusammenspiel der Teile der Maschine nicht so bedeutsam. Mit anderen Worten gesagt könnte Peter Becker unter bestimmten Umständen durchaus sehr alt werden, ohne aber jemals wieder die ihn umgebende Welt wahrnehmen zu können. Würde man über eine Maschine verfügen die das Neuronen Gewitter im Gehirn des Mannes entschlüsseln könnte wäre die Botschaft deutlich gewesen: es gab keine Reaktionen mehr die für ein Denken sprachen. Es sei jetzt vermutlich aber auch an der Zeit, sagte der Arzt vorsichtig, sich auf den Abschied vorzubereiten.

      Seit drei Stunden waren die Geschwister im Zimmer und in dieser Zeit hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt. Beide bemühten sich ihre Abneigung voreinander nicht an diesem Ort auszutragen, das wäre ihnen in dieser Situation nicht angebracht erschienen, doch der Schatten des einst so dominanten Vaters lag noch immer wie eine Last auf ihnen. Damit war auch die Furcht verbunden, dass er selbst in dieser für ihn so hilflosen Lage noch wie früher so oft in ihr Leben eingreifen könnte, was zwar unwahrscheinlich war, aber ihrer beider Leben so entscheidend geprägt hatte, dass sie sich aus diesem Bann bis zum heutigen Tag nicht hatten lösen können. Weder Dieter noch Hanna Becker wünschten sich den Tod des Vaters herbei, aber beiden war klar, dass der Moment, in dem er nicht mehr atmen würde, wie eine Befreiung für sie wäre. Zwar aus unterschiedlichen Gründen, aber immerhin ein Schlussstrich. Hanna Becker deutete mit einer Bewegung an, dass sie das Zimmer verlassen wollte und ihr Bruder nickte nur. Der Drang nach Rauchen war übermächtig geworden und vor dem Eingang des Krankenhauses zündete sie sich eine Zigarette an.

      Wenn sie ihren Vater früher im Pflegeheim besucht hatte schoben sich die Bewohner mühsam auf ihre Rollatoren gestützt vorüber und mehr als früher nahm sie die scheinbare Inhaltsleere dieses Lebensalters wahr, die aus ihre Sicht nur noch darin bestand, sich zu ernähren, auszuscheiden und zu schlafen. Bei ihren Besuchen im Heim war es ihr immer absurd vorgekommen, dass junge Männer, offensichtlich Freiwillige im sozialen Jahr, mit den alten Leuten um einen Tisch saßen und wie mit kleinen Kindern spielten oder bastelten. Natürlich war ihr bewusst, dass sie eines Tages auch dort ankommen könnte, jetzt mit Mitte vierzig schien ihr das aber noch unendlich fern und wer wusste denn, ob sie dann auch zu den Dementen zählen würde, die schon jetzt den Großteil der Heimbewohner ausmachten.

      Dieter Becker spürte wie ihm der Schweiß den Rücken herunter lief und auch auf seiner Stirn sammelten sich immer wieder Tropfen, ständig wischte er sich das Gesicht mit dem Taschentuch trocken. Unter diesem für ihn körperlichen Makel hatte er schon immer gelitten. Wenn er mit der Familie im Sommer am Mittagstisch saß lag immer ein Handtuch bereit mit dem er den Schweiß regelmäßig mäßig aufnahm. Sein Vater dagegen zeigte nicht einmal eine Rötung im Gesicht und oft hatte er sich anhören müssen, dass er einfach zu dick sei, kein Wunder, denn wer keinen Sport triebe, wäre nun mal nicht belastbar. Auch vor seiner Schwester und den Freunden war es ihm peinlich bei der geringsten Bewegung in Schweiß zu geraten obwohl doch alle wussten, dass seine schwache Kondition den Grund in einer angeborenen Herzmuskelschwäche hatte. Dennoch hatte er sich sein Leben mit diesem Handicap so eingerichtet, dass es für ihn keine unüberwindbaren Schwierigkeiten gab. Anders als seine Schulfreunde, die sich in ihrer Freizeit mit Fußballspielen beschäftigten, saß er lieber über Büchern und er war sich als Junge schon darüber klar gewesen, dass er nie einer anstrengenden körperlichen Arbeit nachgehen könnte, damit war bei ihm die Motivation gewachsen, in der Schule besser zu sein als die anderen. Der Vater hatte jedoch immer darauf bestanden an den Wochenenden wandern oder schwimmen zu gehen und im Winter auf die Skier zu steigen. Für den schwächlichen Jungen war dies jedes Mal eine Katastrophe, weil er den anderen kaum folgen konnte. Wenn er sie dann an einem Rastplatz erreichte stand der Vater sofort demonstrativ wieder auf, als wollte er ihn dafür bestrafen, dass er das Tempo nicht hatte mithalten können. Jetzt lag der alte Mann hilflos vor ihm und er war sich auch nach fast fünfzig Jahren nicht über seine Gefühle für ihn sicher. Am meisten hatte ihn gekrängt, dass der Vater angeblich keine Zeit fand zu seiner Promotionsfeier zu kommen, wichtige Auftragsarbeiten im Betrieb würden ihn bis in die Nacht hinein beschäftigen. An der Doktorarbeit hatte er drei Jahre lang gesessen. Es gab Phasen, da wollte er das Projekt aufgeben, zumal er für seine Frau und die Kinder gar